FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Die Gegenwart MONTAG,6.APRIL 2020 ·NR.82·SEITE 7
D
ürfenRegierungen ei-
gentlich einganzes Land
stilllegen? Dürfendie
Länder und der Bund
wichtigeWirtschafts-
zweigeblockieren? Darf
der Staat die Mobilität der Bürger, ihre
freieFortbewegung und das Grundrecht
der Freizügigkeit massiv einschränken,
Dienstverpflichtungen aussprechen oder
aus Mobilfunkdaten Bewegungsprofile le-
sen? Darfder Bundestagdas Haushalts-
rechtmit Quasi-Blankoermächtigungen
auf die Exekutiveübertragen, Gewährleis-
tungen in Billionenhöhe aussprechen,
darfman im Katastrophenfall Verord-
nungsrecht an dieStelle vonParlaments-
gesetzen treten lassen?
Noch keine Krise unter der Herrschaft
des Grundgesetzes hatFragen sokompri-
miertgestellt, hatvertrauteGewissheiten
undVorverständnisse wieKartenhäuser
einstürzen lassen. Epidemiologische,wirt-
schaftliche,ethische undrechtlicheFra-
genentstehen schneller,als Antwortenfol-
genkönnen; nochdazu sind sie miteinan-
der verwoben. Zum Erleben einer Krise
gehörtaber auch die mediale Dynamik ei-
ner ohnehinvolatilen Gesellschaft, ge-
hörtauchdie Durchmischungvongloba-
len Effekten mit nationalen Affekten.
Wenn sichein Land wie China entschei-
det, nacheiner ersten Phase derVertu-
schungspolitik dieAusbreitung der Infek-
tionswelle mit drastischen Maßnahmen
bis hin zurAbriegelung einerRegion und
digitalerTotalüberwachung zuverlangsa-
men odergarzum Stillstand zu bringen,
dann erzeugt dasNachahmungsdruckfür
andereLänder.China oder Singapur wir-
kenwie ferneBlaupausen. AndereRegie-
rungen müssen Handlungsfähigkeit zei-
gen: Es schlägt dieStunde derexekutiven
Ermächtigung und die der charismati-
schenPotenz.
Der fachwissenschaftliche Diskurs
steht plötzlichimScheinwerferlicht der
politischen Bühne,gerät unter den Anfor-
derungsdruckder Beratungspraxis. Es ent-
steht einexpertokratischer Mainstream
bis hinauf zurWeltgesundheitsorganisa-
tion (WHO) undvondortwieder zurück
in die nationalen Beratungsgremien. Kriti-
kersprechenvoneiner aus dem Nichtsent-
standenen„Virokratie“.Werkanntevor
Ausbruchder Krise eigentlich dasRobert-
Koch-Institut oder seinen Präsidenten?
AnfänglicheVersuche in London oder
Den Haag, andereWegeder Seuchen-
bekämpfung einzuschlagen, wurdenvon
tonangebendenWissenschaftlernund im
öffentlichen Meinungsraumgeradezu un-
terbunden. Die Leugnung der Corona-
Gefahren taucht bereits als Straftat-
bestand auf.Auch in Deutschlandkonnte
man beobachten, wie anfängliches Zö-
gern mit erstenAttac kenauf denFödera-
lismus beantwortetwurden. Nachdem die
Länder erwiesen hatten, wie handlungsfä-
hig sie sind, wurde Kritik dieser Artleiser.
DochMeinungstrends in der Krise sind
nervösund wechselnrasch.Esgibt auch
kritischeStimmen, die nichtrichtig liegen
müssen, aber diskutiertwerden sollten.
So wirdgefragt, ob esvernünftig sei, um
10 Prozent der ernsthaftbedrohten Bevöl-
kerung zu schonen, dabei 90 Prozent mit-
samt einerganzenVolkswirtschaftextrem
zu behindern, mit unterUmständen dra-
matischenKonsequenzen,wenn man an
die Basis unseresWohlstandes oder an
Versorgungsengpässe denkt.Wenn die
Einschätzungrichtig wäre,dassnur be-
stimmteAlterskohortenoder Menschen
mit bestimmtenVorerkrankungen in ei-
ner statistischrelevantenZahl derFälle in-
tensivmedizinischbetre ut werden müs-
sen, würde es dann nichtreichen, diese
Gruppe zu isolieren? Gilt der Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit im epidemischen
Ausnahmezustand plötzlichnicht mehr?
Juristen, undgerade die desVerfas-
sungsrechts, sind darangewöhnt, nüch-
tern mit dem Grundsatz derVerhältnis-
mäßigkeit zu operieren.Aber das setzt
Einzelfällevoraus, die mit einem einiger-
maßengesichertenWissen oder Erfah-
rungshintergrund beurteilt werden kön-
nen. Entscheidungen unterUngewissheit
sind eine besondereHerausforderung für
denRechtsstaat.Maßnahmen, die eine
ganze Gesellschaftstillstellen und die in-
stitutionellenRahmenbedingungen für ei-
nen längerenZeitraum außer Kraftset-
zen, entziehen sichder üblichen juristi-
schen Beurteilung. Als allgemeineRegel
gilt:Wenn diegesetzliche Grundlagebe-
steht, darfder Staat tief in Grundrechte
eingreifen, soweit dies ein legitimer
Zweckerfordert.
Es gibt Zwecke und Ziele des Gemein-
wohls, die sind so überragend, so domi-
nantund evident, dasseigentlichdie klein-
licheRückfrageverstummen muss, ob er-
griffene Maßnahmengeeignet, schonend
und nicht in derWirkung übermäßig hart
sind.Aber fragen wir dennoch:Welches le-
gitime Zielverfolgen Bund und Länder
mit ihren Maßnahmengegendie Ausbrei-
tung des Coronavirus? Siewollen Men-
schenlebenretten,eines der höchsten legi-
timen Ziele überhaupt. Welche Maßnah-
men sind dazugeeignet? Das Besondere
an der Covid-19-Pandemie liegt darin,
dassdie Ansteckung leicht überTröpf-
chen- oder Schmierkontakt erfolgt, und
sie dannvorallem alsLungeninfektion
schwereVerläufezeigen undinnicht gerin-
gerZahl intensivmedizinische Maßnah-
men erfordernkann. Beirascher,bei expo-
nentiellerVerbreitung–etwaeinerVer-
dopplung derZahl der Infizierten inner-
halbvonvier Tagen–kann man auchmit
einigen unsicheren Beurteilungsgrund-
lagen (etwadie genaue Sterblichkeitsrate)
abschätzen,wann dieKapazitätender Not-
fallversorgung–wie in Italien oder Spa-
nien deutlichsichtbar–erschöpftsind.
Der Hinweis darauf, hier liegeeine den
BlickwinkelverengendehysterischeReak-
tionvor, weil schließlichjede saisonale
Grippewelle Todesopfer fordere, ohne
dassauch nur annäherndverg leichbare
Maßnahmen ergriffenwürden,verfehlt in-
soferndie Besonderheit der Herausforde-
rung. Wenn eingebrechlicher Menschan
der Grippestirbt, dann tut er dasregelmä-
ßig nicht,weil ein Beatmungsgerät oder
medizinischesNotfallpersonalfehlen. In
mehreren europäischen Ländernerfolgt
(vereinzelt?) bereits die medizinischeVer-
sorgung nachden harten utilitaristischen
Gesetzen des Schlachtfeldes:Werhat die
höchste Überlebenschance,werbelastet
das Versorgungssystem über Gebühr? Die
Notfallmedizinkennt die„Triage“, jene
evidenzbasierte Ersteinschätzung der Be-
handlungsdringlichkeit, um eine Priorisie-
rung vorzunehmen:Wersoll zuerst behan-
delt werden, wo und mitwelchemRessour-
ceneinsatz? Sollen jungeMenschen zuerst
behandeltwerden,weil sie bessere Überle-
benschancen haben? SollSterbehilfege-
leistetwerden,wo Qualen drohen? Die
Verlangsamungsmaßnahmen, vorallem
Kontaktverbote, zielen darauf, solchefata-
len praktischen Zwängeder Rationierung
und Priorisierung möglichstzuverhin-
dernoder jedenfalls zuvermindern. Es
geht um die Schonung derKapazitäten.
Die Krise führtnicht nur medizinische
Versorgungssysteme an Grenzen, sondern
auchdas Verfassungsrecht.Die in der Me-
dizin häufig nur hinter vorgehaltener
Handgeführte Diskussion überRationie-
rung etwa bei knappen Spenderorganen
istuns vertraut, aber ihreMaßstäbe ste-
hen eigentlichquer zuethischen undver-
fassungsrechtlichen Debatten, die nicht
unter Knappheitszwängen medizinischer
Versorgunggeführtwerden. Darfdie Soft-
ware eines automatisiertfahrenden Pkw
bei einem unvermeidbaren Kollisions-
geschehen den hochbetagten Menschen
überfahren, um ein Kind zuretten? Auf
keinenFall, sagt eine für solcheFragen
eingesetzte Ethikkommission. Darfein
entführtes Passagierflugzeug, das alsWaf-
fe gegeneine großeZahl vonMenschen
eingesetzt wird, abgeschossenwerden?
Nein, sagt das Bundesverfassungsgericht.
Lebenschancendürfennicht an irgendwel-
cheQualitäten des Menschengebunden
werden, weder an Alter nochanGe-
schlecht,weder anRang nochanNützlich-
keit.Hierwirdman dieKonsistenzder An-
wendung der Maßstäbe imVergleichzur
Triagenur rettenkönnen,wenn zwischen
Schadensverursachung durch eine Hand-
lung und der Hilfeleistung bei einer Krank-
heit unterschieden wird.Aber wie über-
zeugend istdas? Beiexistentiellen Krisen
entsteht eine Artsituatives „Overruling“,
nachder Devise „Not kennt kein Gebot“.
D
er Ausnahmezustand hat
schon immergeängstigt,
aber auchfasziniert, und
zwarwegenseinerrevolu-
tionärenPotentiale. Die
rigideFaktizität der Not
und des Existenzkampfes wischt die bür-
gerlicheRechtsordnung mit ihren Beden-
kenund Sentimentalitäten vomTisch.
Nach dem Ersten Weltkrieg hat nicht nur
ErnstJünger angesichts derWirklichkeit
vonNiederlageund Verarmung aus dem
Massensterben in den Schützengräben
das Heroische der „Stahlgewitter“ destil-
liertund ins Schaufenstergestellt.Aus
den existentiellen Handlungszwängen des
Krieges wurde eine „Kultur“ nationaler
Homogenität, soldatischen Gehorsams
und Führer glaube propagiert.
Der freiheitlicheVerfassungssta at ist
dazu der Gegenentwurf.Aber esfällt ihm
mitunter schwer,zubestehengegendie
Überwältigungseffekte des scheinbar Evi-
denten. DerRechtsstaat bleibt auf Diffe-
renzierungen angewiesen.Dazu gehört,
dassunsere politische undrechtl iche Ord-
nungdarauf programmiert ist, das Ent-
scheidungsdilemmader Selektion, das
meint„Triagieren“, soweit zuverhindern,
wie es irgend geht.Man kann sogar diegan-
ze Identität, das BesondereunsererRepu-
blik soverstehen, dasswir prospektiv und
vorsorgend alles tun, die Zwängeder Not
und des blanken Elends, die banale Logik
der Katastrophen und der Kriegegar nicht
erstentstehen zu lassen,umdie freiheitli-
cheWertord nung nicht zugefährden.
Dabei hat dievomGrundgesetzverfass-
te RepublikVertrauenskapital im Innern
und nachaußengewonnen, so dassheute
nicht jede einstweiligeexekutiveErmäch-
tigung und jeder Grundrechtseingriff
gleichals Staatsstreichbeargwöhnt wird.
In Ländern, die ohnehin autokratische „In-
fektionsanfälligkeiten“ zeigen, istdas
deutlich and ers. Hier mussbefürchtetwer-
den, dassaus der epidemischenAusnah-
melagehandfestespolitischesKapitalge-
schlagen wird. Bei unswerden Notmaß-
nahmen unter denwachen Augender öf-
fentlichen Meinung und notfalls durch un-
abhängigeGerichtenachAbklingen der
Krise einigermaßengewisswieder zurück-
genommen.
Epidemiologischgeht es nicht nur um
das kurzfristigeZiel der SchonungvonKa-
pazitäten, sonderndarum, dasVirus„un-
schädlich“ zu machen. Eswäre schön,
wenn man einVirusmit einer pharmazeu-
tischenWaffetreffen könnte, aber die bes-
te Waffeliegt in derkörpereigenen Im-
munabwehr,der Zusammenhang wirdmit
den schrecklichklingenden Wörtern
„Durchseuchung“ (extent of infection)
und „Herdenimmunität“ (herdimmunity)
medizinischbeschrieben.Wenn mehr als
die Hälfte einer Bevölkerung infiziertund
ihreImmunabwehr auf dasViruseinge-
stellt ist, dann gilt die Dynamik einer In-
fluenza alsgebrochen. DieAusbreitung
bis zu diesemVerhältniskann demnach
ein vernünftiges Ziel sein,wenn die unab-
wendbareSterblichkeitsratenicht unver-
tretbar hochist.Demnachwill manwo-
möglicheine Infektionskrankheit nicht
auf sehr langeZeit verlangsamen,weil sie
ansonstenimmer wieder neu ausbrechen
kann. Das eigentliche Ziel ist„Herden-
immunität“–entweder unterVerlangsa-
mung oderqualitativerSteuerung desAus-
breitungsprozesses odersogar durch relati-
ve Untätigkeit wie bei einer normalen In-
fluenza. Letztereswäre aber beimgegen-
wärtigenWissen über Covid-19 allenfalls
vertretbar,wenn die Sterblichkeitsrate
nicht besondershoch und wir in Deutsch-
land unbegrenzteKapazitäten für eine
wirksame Notfallversorgung hätten. Dann
könnteman Kontaktbeschränkungen im
Blickauf das Ziel der Bevölkerungsimmu-
nität sogar als ungeeignetansehen.Aber
sowohl dieTatsachen alsauchdie Wissens-
lückensind so beschaffen, dasseine sol-
cheseuchenpolitische Linie bestenfalls zy-
nischist.Selbstder brasilianische Präsi-
dent JairBolsonarohat sie inzwischen auf-
gegeben.
Der vollständigeVerzicht auf dieKon-
taktbeschränkung zum jetzigenZeitpunkt
hieße Menschen zu opfern,weil wir als
Gesellschafteine Knappheitslagenicht
durch Ausbreitungsverzögerung ent-
schärft hätten. Diegetrof fenen Maßnah-
men sind alsogeeignet, sie sind sogarver-
fassungsrechtlichgebotenunter dem Ge-
danken der Schutzpflicht desStaates für
das Leben. Dieses Ergebnis wirdnochver-
stärkt, wenn wir uns aus dem eigenen
staatlichen Primärraum lösen und an unse-
re Nachbarndenken. Wenn es uns in
Deutschland einerseits gelingt, Notfall-
kapazitäten nochweiter zu erhöhen und
andererseits ihreInanspruchnahme durch
Verlangsamung derAusbreitung zuver-
mindern,können wir Betten für Italiener,
Spanier undFranzosen bereitstellen und
Ressourcenteilen.
Die rechtliche Beurteilungstößt indes
nochauf eine andereDimension des Ge-
schehens, dieUnsicherheit auslöst. Jede
staatliche Maßnahme mussdie Folgen ih-
resTuns oderUnterlassens in Betrachtzie-
hen.Wenn diePolizei auf einen bewaffne-
ten, aggressiven Geiselnehmer schießt,
wirdsie sichfragen, wie es um dieUnver-
sehrtheit der Geisel oder um dievonzufäl-
lig in der Nähe befindlicherPassanten be-
stellt ist. Als „Kollateralschäden“gelten
Begleitschäden insbesondereeiner militä-
rischen Aktion, die schwer seinkönnen
und unerwünscht sind, aber hingenom-
menwerden, um wichtigere Ziele zu errei-
chen. Die befriedete innereRechtsord-
nung isthier empfindlicher als das Kriegs-
völker recht, und zwar unter Hinweis auf
die Achtung derWürdedes Menschen und
seine Gleichheitvordem Gesetz. Jedes
Menschenleben istgleichwertvoll, und
der Zweckheiligt eben nicht jedes Mittel.
Aber im Krieg und beiexistenzgefährden-
den Krisen, also im Ausnahmezustand
soll (muss?)etwasanderesgelten,weil
sonstinletzterKonsequenz die Gemein-
schaftauf dem Spielstünde, eine Gemein-
schaft, die notwendig ist, um dieWürdezu
achten und zugewährleisten.
U
mzuzeigen, dassesjen-
seits der nackten Exis-
tenzbehauptungkeine ab-
soluten Normen geben
könne,entwerfendie Sze-
narien des drohenden
Untergangs einerganzen Gesellschafts-
ordnung den absoluten Grenzfall. Doch
diesen Grenzfallwerden selbstdie nach
Schlagzeilen suchenden Alarmistenmit
der Corona-Krise nochnicht alsgege ben
ansehen.Aufeiner etwasniedrigeren dra-
maturgischen Schwelle entsteht gleich-
wohl dieFrage: Darfeine Demokratie epi-
demiologische Maßnahmen treffen, die
eineVolkswirtschaftsomassiv schädigen,
dassdie praktischen GrundlagenvonDe-
mokratie undRechtsstaat oder vielleicht
auchdas Fundament der europäischen In-
tegration preisgegebenwerden? Werhier
wägt, wirddie Schicksale vonGewerbe-
treibenden, deren Anstrengungen, viel-
leicht sogar ihr Lebenswerkzerstörtwird,
ebenso imAuge behalten wie das derKell-
nerin oder des angestelltenTaxifahrers,
deren Decke zur Überbrückung vonEin-
nahmeausfällen erschreckend kurz ist.
Hier wirdein leistungsfähiger Staat aus-
gleichen,kompensieren und helfen, wenn-
gleichernicht jede Belastung wirdneh-
menkönnen.
Dochauch bei der Beurteilung der wirt-
schaftlichen Folgen herrschtUngewiss-
heit.Auf diegesamteVolkswirtschaftge-
sehenwerden diegeg enwärtigen Maßnah-
men für das laufende Jahrgewisseine Re-
zessionverursachen, aber jedenfalls in
Ländernwie den VereinigtenStaaten,
Deutschland oderFrankreichauf einem
ganz anderen Niveau desWohlstandes als
beispielsweise die Wirtschaftskrise, die
1929 einsetzte.
Nicht nur das Niveau isthöher.Moder-
ne global vernetzteMarktwirtschaften
mögenheuteanfälligerseingegenüber
Unterbrechungen internationaler Liefer-
ketten, aber sie sind auchviel elastischer
als voreinem knappen Jahrhundert. Die
Wahrscheinlichkeit,dassesschon im
kommenden Jahr einekonjunkturelle
Aufholjagdgeben wird,gehörtzuden
wahrscheinlichstenSzenarien des Sach-
verständigenrates zur Begutachtung der
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. So-
langesichdie wirtschaftlichen und sozia-
len Verhältnisse in einem überschauba-
renZeitraum normalisierenkönnen, so-
langedürfenRegierungen auf wirtschaft-
liche Erholung hoffenund müssen nicht
mit extremenFolgen eineswirtschaftli-
chen Zusammenbruchsrechnen. Doch
niemandkann verlässlichprognostizie-
ren, wasbei einer längeren Phase desStill-
standesauf diesemFeld droht.Inman-
chen Ländernarbeitetnicht nur das Ge-
sundheitssystem am Anschlag oder schon
jenseits davon. Auch die Staatsfinanzen
und die Kreditwürdigkeitstehen unter
schwerstem Stress.Esbleibt dabei: Die
demokratischlegitimiertenOrgane verfü-
gengerade inUngewissheitssituationen
über einen beträchtlichen Einschätzungs-
und Gestaltungsspielraum, wie hochsie
Gefahrenveranschlagen undwelche Maß-
nahmen zur Infektionsbekämpfung sie er-
greifen. Es istein Freiraum, um denPoliti-
kernicht zu beneiden sind. Argumente,
die darauf zielen, denwomöglichver-
meidbarenmassenhaftenTod vonMen-
schen inKauf zu nehmen,umnochgröße-
renSchadenzuvermeiden, unterstellen
eineextreme Lage, einenGrenzfall, der
nicht, jedenfallsnoch nicht in Sichtist.
Der Grundsatzder Verhältnismäßig-
keit gebietet, ein Zielwie die Bekämp-
fung der Gefahren einer Infektionskrank-
heit mit möglichstschonenden Mitteln zu
erreichen. Deshalb istder gestaffelte
„Exit“ aus den bislangverhängten Be-
schränkungen des öffentlichen und priva-
tenLebens ein nicht nur praktischnahe-
liegender,sondernauchverfassungsrecht-
lichgebotener Weg. Daskönntebedeu-
ten, dassbei er kennbarerVerlangsamung
zu einem bestimmtenZeitpunkt die bishe-
rige weitgehendeKontaktsperre für jünge-
re undgesunde Menschen aufgehoben
oder substantiell gelockert würde und
Menschen ab einergewissen Altersgrup-
pe odergesundheitlich Vorbelastete wei-
terhin sichaus dem öffentlichen Begeg-
nungsraumfernhalten müssten. Würde
eine solche Entscheidungakzeptiert wer-
den? EineschonendeÜbergangsregelung
könnteauchbedeuten, dassdie 60 Jahre
alte Professorin denHörsaal wieder betre-
tendarf, wenn alle HörereinenMund-
schutz tragen. In Japan scheinen jeden-
falls Erfahrungen dafür zu sprechen, dass
der möglichstallgemeingetragene Mund-
schutz zum Schutz der anderen einweitge-
hendes öffentliches Leben erlaubt, ohne
dassdie Zahl derNotfälle aus demRuder
läuft. DerZeitpunkt der Lockerung und
die Umstellung der Maßnahmen wirdvon
Sachverständigen und denVerantwortli-
chen in Bund und Ländern bestimmt und
dürftewegen des bestehendenEinschät-
zungs- und PrognosespielraumsvonGe-
richtennur begrenzt überprüfbarsein.
J
ede gravierende Krise prüft
den Zust and derWelt.Sie tes-
tetdie Kraftihrer Ordnung,
die Fähigkeit, mit denFolgen
umzugehen, sichals lernfähig
zu erweisen. Hierist auf der Ha-
benseiteeiniges, auchÜberraschendes zu
verbuchen. Die Demokratiensindnicht
so lasziv,soundiszipliniert,sogranular
wie ihreautoritären Gegnervermuten
oder heimlichhoffen. Die Bereitschaft,
KontaktverbotenFolgezuleisten, sollte
nicht als atavistischschlummerndeUnter-
tanenmentalität missverstandenwerden.
Bei den meistenist es die Einsicht inNot-
wendigkeiten, umso mehr, wenn die Ein-
schränkungenfachlichund politischgut
erklärtsind.Das giltwomöglichauchfür
die soeben eröffnete Diskussion, wie
man Kontaktprofile über Mobilfunkor-
tung ingrundrechtskonformerWeise,ins-
besondereauf Freiwilligkeit undWahl-
möglichkeiten basierend,raschins Werk
setzenkann und wie sinnvoll das nochist.
Auch die ReaktionsfähigkeitvonRegie-
rungen undVerwaltungen istbesser als
ihr Ruf, der deutscheFöderalismushat
sichbewährt, einigermaßenkoordiniert
untereinander und mit Berlinverbunden.
Das Gesundheitssystemfunktioniert,
auchwenn niemandÜberlastung und De-
fiziteübersehen wird, über die nachder
Krisegerede twerden muss.
Aufder anderenSeitezeigtjede gra-
vierendeNotlageauchSchwächen, sie
lässt aus den im Alltaggern übersehe-
nen kleinenHaarrisse nmanchmal klaf-
fendeBrüchewerden. Dasbetrifftzu-
nächstden Umgang mit Risikowissen.
Obwohl bereits Anfang 2013der Fall ei-
ner hochansteckenden Sars-Mutation
Gegenstand eines wissenschaftlichen Ri-
sikoszenarios und durchaus auchals
Drehbuchfür Notfallplänevorgezeich-
netwar,wurde diesesals Bundestags-
druc ksache doch eher lediglichzur
Kenntnisgenommen und mündetenicht
in eineentschlossene Politikvon Bund
und Ländern,etwaeine nnachhaltigen
Aufbauvon Ressourcen.
Aber werhier und heutedarin einen
Skandal erblickt, sollte auchimAugebe-
halten, wie viel Risikoeinschätzungen
ganz unterschiedlicherArt den parlamen-
tarischenRaum in jederLegislaturperi-
ode erreichen und wie vieledavonsich
wirklichals Großschadensereignisreali-
sieren. Auch ein wohlhabender Staat
kann nicht überall das Optimum an Risi-
kovorsorge bereitstellen. Eskommt viel
mehr auf die Pflegeder institutionellen
und organisatorischen Grundausstattung
an, denn dortkönnen dannReservenmo-
bilisiertwerden,während anderebis auf
das Knochengerüstzusammengesparte
Organisationen sofortüberfordertsind.
Entsprechendes gilt auchfür dieStaats-
finanzen.EndlichhatteDeutschland es
2019 geschafft,imNiveau des Schulden-
standes mitetw a60Prozent des Brutto-
inlandsprodukts wiederdieeuroparecht-
lichen Stabilitätskriterien einzuhalten.
Undgenau diese mitunterals Austeritäts-
politikgescholtene Sanierungsleistung er-
laubt es jetzt, auchüber Neuverschuldung
der öffentlichen Haushaltegeradezu aus
demVollen zu schöpfen, um die massiven
wirtschaftlichenFolgewirkungen der Co-
rona-Krise abzumildern.
Aber wir sind in Europa nicht allein.
Der DruckinRichtung Euro-Bonds,ge-
meinsamen Anleihen des Euro-Währungs-
raums,ist gewaltig.Man darfsichfragen,
wasdie EU eher zerstört: die Verweige-
rung oder die Einwilligung in ein Instru-
ment,das kaum vereinbar sein dürftemit
der Architektur derWirtschafts- undWäh-
rungsunion und mit den Grundsätzen der
Rechtsprechung des Bundesverfassungs-
gerichts in punctoKonkordanzvon demo-
kratischer Entscheidungskompetenz und
haushaltspolitischer Folgen verantwor-
tung.Jelänger der „Shutdown“ dauert,
wirdessichbei „Corona-Bonds“mögli-
cherweise nicht um zweistellig eMilliarden-
beträgehandeln, sondern um ein heute
nochkaum kalkulierbaresAusmaß der
Neuverschuldung.
In der Krise musswirksam geholfenwer-
den.Weraber die Krise „als Chance“ nut-
zen will,umein System auf denKopf zu
stellen,könnteandere fatal eKrisen hervor-
rufen. Auch bei der Bewältigung der wirt-
schaftlichenFolgen derPandemiegilt es,
einenkühlenKopf zu behaltenund nicht
hektischaus allenRohren zugleichschie-
ßen zuwollen.Auch wenn mancheDemo-
kratien mit populistischen Beimischungen
anfänglichnichtganz trittsicher wirkten:
Insgesamtschlägt sichinder Pandemie das
Modell der liberalen Demokratie überra-
schend gut.Jetzt gilt es, mit den nächsten
Schritten Leben zu schützen und dabei
schonend mit den Grundlagen der freien
Gesellschaftumzugehen.
Der Verfasser istDirektor desForschungs-
kollegs normativeGesellschaftsgrundlagen
der Universität Bonn, Richter des Bundes-
verfassungsgerichts a. D. und Mitglied des
nordrhein-westfälischen Expertenrats Corona.
Kunstformen derNatur: Das Coronavirus AbbildungNational Institutes of Health,Fort Detric,VereinigteStaaten/EPA
Auchwenn mancheDemokratien mit populistischen
Beimischungen anfänglichnicht ganz trittsicher wirkte n:
Insgesamt schlägt sichinder Corona-Pandemie das Modell der
liberalen Demokratie überraschend gut.Jetzt gilt es, mit
den nächstenSchritten Leben zu schützen unddabei schonend
mit denGrundlagen derfreie nGesellschaftumzugehen.
VonProfessor Dr.Udo DiFabio
An den Grenzen der
Verfassung