Die Welt - 06.04.2020

(nextflipdebug2) #1

P


aul Castillo wartet ruhig
und besonnen auf den
Sturm. „Uns wurde gesagt,
dass wir ab nächster Woche
mit Überlastungen rechnen
müssen.“ Castillo ist Arzt auf der Kin-
der-Intensivstation der Karolinska-Kli-
nik, Stockholms bekanntestem Kran-
kenhaus. Am Mittwoch wurde er umge-
schult für die Erwachsenenstation, sei-
ne Schicht dauert nun zwölf statt acht
Stunden.
„Unsere Betten sind bereits zu 90
Prozent belegt, und es fehlt uns an
Krankenschwestern und Ausrüstung.
Ich hoffe, dass wir hier keine italieni-
schen Zuständeerleben“, sagt Castillo.
Gleichzeitig betont der junge Arzt im-
mer wieder, wie sehr er der Regierung,
die in Europa und Skandinavien einen
beispiellosen Sonderweg im Corona-
Management geht, vertraut. „Natürlich
weiß ich nicht, ob Schweden alles rich-
tig macht, aber es ist nicht konstruktiv,
Expertenmeinungen anzuzweifeln.“

VON CHRISTINA ZUR NEDDEN

Schweden sieht heute im Vergleich zu
seinen nordischen Nachbarn und dem
Rest der EU immer noch so aus, als sei
es von Corona weitestgehend verschont
geblieben. Cafés und Restaurants sind
zwar leerer, aber immer noch gut be-
sucht. Schulen bis zur Oberstufe, Fit-
nessstudios und Schwimmbäder sind
geöffnet. Anstatt auf Lockdown und
Verbote zu setzen, appellierte die Regie-
rung bisher an das Verantwortungsge-
fühl seiner Bürger.
Castillos leise Zweifel an diesem An-
satz haben ihre Berechtigung. Die Klini-
ken der Region Stockholm, dem Teil
Schwedens, der am meisten vom Virus
betroffen ist, haben aufgestockt, umge-
rüstet, und ein Feldlazarett auf dem
Messegelände errichtet mit 30 Intensiv-
Betten und Kapazitäten für 570 Stan-
dard-Betten. Dennoch steht das skandi-
navische Vorzeigeland in dieser Hin-
sicht vergleichsweise schlecht da: In
Schwedens herrscht laut offiziellen Sta-
tistiken die größte Knappheit an Kran-
kenhausbetten in Europa.
Laut einer OECD-Studievon 2019 hat
das skandinavische Vorzeigeland nur 2,
Krankenhausbetten pro 1000 Einwoh-
ner. Bei den Betten für Intensivpatien-
ten sieht es nicht besser aus. Eine ältere
Studie verzeichnet 5,8 Intensivbetten

pro 100.000 Einwohner. Auch hier ist
Schweden gemeinsam mit Portugal
Schlusslicht in Europa. Zum Vergleich:
Spitzenreiter Deutschland kommt nach
der Studie auf 29,2 Intensivbetten, laut
offiziellen Zahlen aktuell sogar auf 33,7.
Castillo ist sich trotzdem sicher, dass
Schweden gut vorbereitet ist. „Die Ex-
perten wissen, was sie tun. Ich bin zwar
Arzt, aber ich bin kein Epidemiologe.”
Castillo bezieht sich auf Anders Teg-
nell, das schwedische Pendant zu Chris-
tian Drosten, der derzeit mehr Vertrau-
en genießt als die meisten Politiker. In
der Pressekonferenz am Donnerstag
klang der Staats-Epidemiologe etwas
besorgter als bisher: „Es ist ein ernstes
Gesundheitsproblem, mit dem wir le-
ben müssen.“ Das Land habe leider ein
neues Niveau an neuen Fällen erreicht.
„Der Druck auf die Intensivstationen
steigt kontinuierlich.“
Die Politiker des Landes schlagen ei-
nen ähnlichen Ton an. Premier Stefan
Löfvenwarnte am Freitag, dass man
mit „Tausenden Toten“ rechnen müsse
und „Schwerkranken, die Intensivpfle-
ge benötigen“. Auch die Bürgermeiste-
rin der Region Stockholm, Irene Sveno-
nius, zeigte sich am Samstag gegenüber
WELT zögerlich: „Ich kann nur hoffen,
dass dies der richtige Weg für Schwe-
den und für Stockholm ist. Wir setzen
großes Vertrauen in unsere fachkundi-
gen Regierungsstellen. Natürlich wird
dieses Vertrauen in einer Krise auf dei
Probe gestellt.“
Die Fälle der Corona-Infizierten wa-
ren in dem skandinavischen EU-Land
zuletzt sprunghaft angestiegen. Am
Sonntag gab es mehr als 6900 bestätigte
Infektionsfälle, am Donnerstag waren
es noch 5466. Bislang sind 419 Men-
schen mit Covid-19-Erkrankung gestor-
ben, 251 davon in der Region Stockholm.
Die schwedische Nachrichtenagentur
TT berichtet, durch einen Rückstau an
nicht in die Statistik eingeflossenen
Meldungen könnte die tatsächliche Zahl
der Corona-Toten bei bis zu 750 liegen.
Im Vergleich zu Deutschland und sei-
nen skandinavischen Nachbarn, die
schon vor Wochen strengere Maßnah-
men ergriffen haben, schneidet Schwe-
den schlechter ab. Auf eine Million Ein-
wohner kommen 35,1 Tote, in Dänemark
sind es 23,9, in Norwegen 11,1 und in
Finnland, wo am vergangenen Freitag
Helsinki abgeriegelt wurde, nur 3,5. In
Deutschland sind es 13,3.

Fast 400 Menschen liegen mittler-
weile in Schweden auf der Intensivsta-
tion. Wenn es tatsächlich nur 5,8 Inten-
siv-Betten pro 100.000 Einwohner gibt,
dürfte Schwedens Kapazität bald er-
schöpft sein. Hinzu kommt, dass unklar
ist, ob die offiziellen Zahlen der Wahr-
heit entsprechen. Getestet werden laut
Bürgermeisterin Svenonius bisher nur
Klinik-Patienten, Risikogruppen und
Menschen in Altersheimen. Dort gab es
zuletzt auch die meisten Fälle. Jedes
dritte Stockholmer Pflege- oder Senio-
renwohnheim hat Covid-19-Fälle. Besu-
che sind deswegen seit Donnerstag
verboten.
Und auch sonst wurden die bisher
ungewöhnlich lockeren Maßnahmen
Schwedens in den vergangenen Tagen
verschärft. Obwohl Schulen bis zur
Oberstufe sowie Restaurants, Cafés
und Sportplätze weiterhin geöffnet
sind, wurde das Versammlungsverbot
von 500 auf 50 Personen gesenkt. Jeder,
der sich krank fühlt, soll ab sofort zu
Hause bleiben, im Supermarkt soll an
den Kassen Abstand gehalten werden,
die Skiresorts schließen am Sonntag,
und Ostern soll man, wenn möglich,
nicht verreisen. Die Regierung und Ge-
sundheitsbehörden setzen also weiter-
hin auf die Vernunft der Bevölkerung
sowie auf das für die Schweden typi-
sche Vertrauen in politische Entschei-
der und Experten. Die vergleichsweise
lockere Krisenpolitik ohne Lockdown
und Verbote kommt bisher gut an.
Eine Anfang der Woche veröffent-
lichte Umfrage zeigte, dass das Vertrau-
en in die Regierung von 26 Prozent im
Februar auf 44 Prozent Ende März ge-
stiegen war. Die schwedischen Medien
zeichnen überwiegend kein Weltunter-
gangsszenario, sondern das Bild einer

unaufgeregten Gesellschaft, die zusam-
menhält. Nicht alle sind Fans des
schwedischen Ansatzes. Marcus Carls-
son, ein Mathematiker an der Universi-
tät Lund, wirft Schweden in einem auch
vom britischen „Guardian“ zitierten Vi-
deo sogar „ein wahnsinniges Experi-
ment mit zehn Millionen Menschen,
die wie Schafe einer Katastrophe entge-
gensteuern“, vor.
Tegnells Ansatz, ähnlich wie der bri-
tische Premier Boris Johnsonvor weni-
gen Wochen auf Herden-Immunität
(auch wenn er es nicht mehr so nennt)
zu setzen, sei weltweit niemals erprobt
worden. In einem offenen Brief wand-
ten sich etwa 2000 Personen – darunter
viele hochrangige Wissenschaftler –
mit ähnlichen Sorgen und einem Aufruf
zum Kurswechsel an die Regierung.
Auch in der Bevölkerung werden kri-
tische Stimmen lauter. Arunabh Singh,
der das Data-Science-Team einer füh-
renden schwedischen IT-Beratung lei-
tet, findet die vage Kommunikation der
Regierung verwirrend. „Schweden hat
mehr Todesfälle pro Einwohner als die
anderen nordischen Länder, Deutsch-
land und sogar Südkorea. Ich verstehe
nicht, was daran erfolgreich sein soll“,
sagt er und fügt hinzu: „Wenn es einen
konkreten Plan gibt, die Wirtschaft zu
schützen und dafür mehr Tote in Kauf
zu nehmen, soll das auch klar kommu-
niziert werden.“
Singh isoliert sich seit drei Wochen
freiwillig und arbeitet von zu Hause,
obwohl er nicht zur Risikogruppe ge-
hört und sich gesund fühlt. „Ich möchte
vermeiden, den Virus zu übertragen,
bevor ich selbst Symptome entwickele.
Von dieser Möglichkeit habe ich in aus-
ländischen Medien gelesen, in Schwe-
den gibt es dazu keine Anweisungen.“
Vielleicht, so Singh, hänge das auch da-
mit zusammen, dass die Schweden seit
200 Jahren keinen Krieg erlebt hätten:
„Es herrscht ein naives Gefühl der Un-
besiegbarkeit.“
Am Ende wird sich zeigen, ob Schwe-
den mit seinen staatsgläubigen Bürgern
russisches Roulette spielt oder ob das
Land der lebende Beweis dafür sein
wird, dass es auch anders geht. Kinder-
arzt Castillo ist froh, dass seine drei
Kinder noch zur Schule gehen können.
„Die Experten müssen einen Grund da-
für haben, die Schulen offen zu lassen.
Ich sage meinen Kindern, dass sie keine
Angst haben müssen.“

Das naive


GEFÜHL der


Unbesiegbarkeit


Schwedens entspannte Corona-Politik ist in


Europa einzigartig. Aber jeden Tag rudert die


Regierung ein wenig zurück – und warnt vor


vielen Toten. Hat sie wertvolle Zeit verloren?


VIA REUTERS

/TT NEWS AGENCY

AFP

/JONATHAN NACKSTRAND
AFP

/JONATHAN NACKSTRAND

6



  • Belichterfreigabe: ----Zeit:Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: ---Zeit:---Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe:
    Belichter: Farbe:Belichter: Farbe:Belichter:


DW_DirDW_DirDW_Dir/DW/DW/DW/DW/DWBE-HP/DWBE-HP
06.04.2006.04.2006.04.20/1/1/1/1/Pol3/Pol3 AHEIDRIC 5% 25% 50% 75% 95%

6 POLITIK DIE WELT MONTAG,6.APRIL


V


era Jourova, 55, als Vizepräsiden-
tin der EU-Kommission auch für
Rechtsstaatsfragen verantwort-
lich, sitzt allein in ihrem Büro. Mehrere
Beamte sind zu diesem Telefoninterview
von zu Hause zugeschaltet.

VON CHRISTOPH B. SCHILTZ
AUS BRÜSSEL

Im Hintergrund sind manchmal tobende
Kinder zu hören. Für Jourav kein Pro-
blem: „So ist das in diesen Zeiten.“

WELT: Frau Jourova, zahlreiche EU-
Staaten scheinen die Corona-Krise zu
nutzen, um eine außergewöhnliche
Machtkonzentration durchzusetzen.
Ist die Freiheit in Europa in Gefahr?
VERA JOUROVA:Ich verstehe, dass in
Zeiten der Corona-Pandemie entschie-
dene und zentralisierte Maßnahmen
notwendig sein können. Bisher haben 20
EU-Länder eine Art Notstandsgesetzge-
bung verabschiedet, um die Corona-Kri-
se erfolgreich zu bekämpfen und die not-
wendigen Maßnahmen wie Ausgangsbe-
schränkungen und den Schutz der Men-
schen gegen das Virus durchsetzen zu
können. Auf lange Sicht besteht die Ge-
fahr, dass die Demokratie durch diese
Maßnahmen geschwächt wird. Darum ist
Kontrolle in diesem Moment so wichtig.
Eine demokratische Balance ist weiter-
hin dringend erforderlich. Das Coronavi-
rus darf die demokratische Ordnung
nicht killen. Die EU-Kommission unter-
sucht derzeit durch ihre Rechtsexperten
die Notstandsgesetze in allen betroffe-
nen Mitgliedstaaten und prüft, ob sie ge-
gen Artikel 2 des EU-Vertrags, also gegen
demokratische Werte und Grundrechte,
verstoßen. Wenn das der Fall sein sollte,
werden wir einschreiten.

Gibt es Gemeinsamkeiten bei diesen
Notfallmaßnahmen?
Die Notstandsgesetze in den EU-Län-
dern sind zeitlich befristet – je nach
Land meistens auf einen Zeitraum von
30 bis 90 Tagen. Für eine Verlängerung
der eingeschränkten Grundrechte müs-
sen die Regierungen dann jeweils sehr
starke Argumente gegenüber ihren
Parlamenten haben.

Was unterscheidet genau das Pande-
mie-Notstandsgesetz in Ungarn, das
seit knapp einer Woche gilt, von den
anderen Ländern?
Wir müssen das Gesetz und seine An-
wendung nun erst einmal im Detail ana-
lysieren. Ich habe aber meine Bedenken,
was die Zeitbegrenzung und eine effekti-
ve parlamentarische Kontrolle angeht.
Außerdem besteht die Gefahr, dass es bei
der Berichterstattung über die Corona-
Krise durch die Medien zu einer Zensur
kommen könnte. Wir schauen uns an,
wie das Notstandsgesetz jetzt in der Pra-
xis angewendet wird. Es wäre schlimm,
wenn die Kontrolle der Regierung durch
Medien und Parlament, also der Vertre-
tung des Volkes, keine Rolle mehr spie-
len würde. Darauf haben ja auch 18 EU-
Regierungen in einer Erklärung hinge-
wiesen. Ohne Ungarn dabei explizit zu
nennen, haben sie gewarnt, dass die Co-
rona-Krise nicht als Vorwand benutzt
werden darf, Grundrechte auszuhebeln.

Wäre es denn nicht Zeit, Viktor Orbán
aufzufordern, seine Notstandsgesetz-
gebung zu revidieren?
Ich möchte die Maßnahmen nicht vertei-
digen, aber ich will schon darauf hinwei-
sen, dass die Gesetze von einem recht-
mäßig gewählten Parlament verabschie-
det wurden und in der Bevölkerung Un-
garns auf große Zustimmung stoßen. An-
dererseits gilt auch: Die Notfallmaßnah-
men in allen Ländern müssen unbedingt
erforderlich, verhältnismäßig und zeit-
lich begrenzt sein und zugleich unter de-
mokratischer Kontrolle stehen. Wir wer-
den genau verfolgen, wann die Maßnah-
men in Ungarn beendet werden. Ich er-
warte von der Regierung, dass das in na-
her Zukunft passieren wird. Dann ist der
Moment der Wahrheit gekommen.

Die Menschen verstehen nicht, wa-
rum die EU-Kommission nicht sofort
eingreift. Die Kommission ist doch
die Hüterin der Verträge und der eu-
ropäischen Werte.
Ich habe nicht die Macht sofort einzu-
greifen. Ich bin keine Aktivistin, ich bin
Vizepräsidentin der EU-Kommission.
Ich brauche eine Rechtsgrundlage für
mein Handeln. Jedes Land hat nun ein-
mal die Kompetenz, in Krisensituatio-
nen in eigener Verantwortung bestimm-
te Gesetze zu verabschieden.

Haben Sie als zuständige Verantwort-
liche in der EU-Kommission etwas
unternommen, um die ungarischen
Notfallmaßnahmen zu verhindern?
Ich habe vor Verabschiedung der Not-
standsgesetze in Ungarn die zuständige
Justizministerin Judit Varga in einem
sehr langen Gespräch zu überzeugen
versucht, die umstrittenen Passagen zu
überdenken und zu ändern.

Gegen die ungarische Regierung lau-
fen bereits ein Rechtsstaatsverfahren
nach Artikel 7 und mehrere Vertrags-
verletzungsverfahrungen wegen mög-
licher Verstöße gegen demokratische
Rechte. Hebelt Ungarn nicht syste-
misch die Demokratie aus?
Wir haben mit Ungarn natürlich schon
unsere Erfahrungen gemacht. Ich
möchte die Spannungen aber nicht
noch weiter verschärfen, indem ich Ih-
nen eine grundsätzliche Beurteilung
liefere. Die Verfahren gegen Ungarn
laufen, die Richter am Europäischen
Gerichtshof werden ihre Urteile fällen
und die EU-Institutionen werden sich
in der gebotenen Weise weiter damit
beschäftigen. Jetzt warten wir den
Ausgang ab.

Was kann man tun gegen Desinforma-
tion in Zeiten von Corona?
Wir sehen derzeit einen großen Zu-
wachs an Corona-bezogener Desinfor-
mation, besonders auf Social Media.
Wir möchten, dass die Plattformen In-
formationen von Gesundheitsbehörden
und von anerkannten Experten weiter-
geben. Gleichzeitig sollten die Plattfor-
men gezielte Falschinformationen – et-
wa, dass Händewaschen nicht gegen
das Coronavirus hilft – schnellstens
entfernen und dabei intensiv mit den
nationalen Behörden zusammenarbei-
ten. Sie haben in diesem Punkt durch-
aus schon einiges unternommen. Wich-
tig ist gerade in dieser Zeit aber auch
Qualitätsjournalismus, der vertrauens-
würdige und verlässliche Informatio-
nen verbreitet. Es ist essenziell, dass
Journalisten ausgewogen, objektiv und
ohne Druck von irgendwelchen Seiten
über die Krise berichten. Gleichzeitig
müssen wir auch die Kriminalität im di-
gitalen Raum und Cybersicherheit im
Blick behalten.

Welche Falschinformationen kom-
men derzeit aus China und Russland?
Die Taktik von beiden Seiten ist unter-
schiedlich, aber grundsätzlich lautet die
Botschaft von beiden: Russland und Chi-
na sind die einzigen Mächte, die wissen,
wie man mit der Corona-Krise umgeht.
Die Europäische Union sei dagegen
schwach. Das ist natürlich reine Lüge.
Die EU-Kommission handelt besonnen
und effektiv, sie unterstützt die Mit-
gliedstaaten und koordiniert die Hilfen.
Die Solidarität zwischen den einzelnen
Mitgliedstaaten funktioniert mittlerwei-
le gut. Demokratische Systeme sind her-
vorragend aufgestellt, die Krise zu be-
wältigen. Das ist richtig, und das müssen
wir verbreiten. Unsere Waffe ist die
Wahrheit und Solidarität.

Dies ist auch die Zeit für skrupellose
Geschäftemacher, die defekte Schutz-
masken oder Corona-Tests im Inter-
net zu horrenden Preisen verkaufen.
Solche Geschäfte sind nicht nur unmo-
ralisch, sondern in vielen Fällen auch il-
legal. Ich habe in der vergangenen Wo-
che mit Vertretern von Plattformen,
wie YouTube, Mozilla, Microsoft oder
Twitter gesprochen, und sie aufgefor-
dert, hier noch enger mit den nationa-
len Verbraucherschutzbehörden zusam-
menzuarbeiten. Diese haben die rechtli-
chen Mittel, einzuschreiten und gege-
benenfalls hohe Strafen zu verhängen,
auch bei grenzüberschreitenden Ge-
schäften. Das ist in der europäischen
Verbraucherschutzgesetzgebung aus-
drücklich so vorgesehen. Die Kommissi-
on hat auch mit Amazon und anderen
Plattformen Kontakt aufgenommen,
diese entfernen nun Millionen solcher
trügerischer Angebote.

„Corona darf die demokratische


Ordnung nicht killen“


EU-Kommissionsvizepräsidentin Vera Jourova lässt


Notstandsgesetze in Mitgliedsländern überprüfen


VVVera Jourovaera Jourova

CHRISTIAN CREUTZ/ EUROPEAN UNION

EIN WAHNSINNIGES


EXPERIMENT MIT


ZEHN MILLIONEN


MENSCHEN


MARCUS CARLSSON,
Mathematiker

Als gäbe es kein Virus: Am Wochenende treffen sich
Menschen in Stockholm in Restaurants und Cafés
oder gehen shoppen – uud immer ohne Maske

© WELTN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exclusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung DIE WELT -2020-04-06-ab-22 52117d653d629d448e26eb950eec8f

UPLOADED BY "What's News" vk.com/wsnws TELEGRAM: t.me/whatsnws
Free download pdf