Die Welt - 06.04.2020

(nextflipdebug2) #1

W


as ist schlimmer,
schlechte Gedichte
oder ihre dumme In-
terpretation? Die
richtige Antwort ist
B, die dumme Interpretation. Das gilt in
besonderem Maße, wenn der Vorwurf
einer Vergewaltigung im Raum steht.
Was ist passiert? Der Sänger Till Linde-
mann, bekannt als Feuer spuckender
Frontmann von Rammstein, hat ein
Büchlein mit dem Titel „100 Gedichte“
publiziert, im Verlag Kiepenheuer &
Witsch. Die hören sich an wie unverton-
te Rammstein-Songs, zum Beispiel:
„Warte warte hab dich gerne/ Schenk dir
Herz und Gold und Sterne/ Ein Feuer
hinter Rippen brennt/ Das man in Ein-
falt Liebe nennt.“

VON JAN KÜVELER

Der geschätzte Kollege Carsten Otte
vom SWR liest „banale wie wirre Ver-
se“, „die einem Reimautomat entsprun-
gen zu sein scheinen“. Was daran wirr
sein soll, weiß ich nicht, aber auf banal
kann man sich womöglich einigen. Nur,
was soll daran so schlimm sein? In der
Kunst, genauer gesagt, in dem ästheti-
schen Raum, den man betritt, wenn
man etwas als Literatur annonciert,
selbst wenn es sich um misslungene
handelt, ist Banalität kein Verbrechen,
auch nicht, wenn sie böse wird, wie et-
wa im folgenden Gedicht aus besagtem
Buch: „Ich schlafe gerne mit dir wenn
du schläfst/ Wenn du dich überhaupt
nicht regst/ Mund ist offen/ Augen zu/
Der ganze Körper ist in Ruhe/ Kann dich
überall anfassen/ Kann mich völlig ge-
hen lassen.“ Damit das Objekt der lyri-
schen Begierde dabei nicht aufwacht,
steuert der Dichter vorsorglich ein paar
Verstropfen bei: „Etwas Rohypnol im
Wein (etwas Rohypnol ins Glas)/
Kannst dich gar nicht mehr bewegen/
Und du schläfst/ Es ist ein Segen.“
Für Otte ist die Sache klar: „Eine Ver-
gewaltigungsfantasie, wie sie im Buche
steht. Eine zu Papier gebrachte Straf-
tat.“ Die erregt ihn so sehr – also mora-
lisch, wir wollen keine Mehrdeutigkei-
ten aufkommen lassen –, dass er dem
Verfasser des Vorworts der „100 Ge-
dichte“, dem „SZ“-Redakteur Alexander
Gorkow, „Verharmlosung“ vorwirft und
sich sogleich fragt, warum die Oberfe-
ministin Sibylle Berg noch keinen offen-
en Brief ge- oder zumindest unter-
schrieben hat, schließlich erscheine sie
im selben Verlag.
Und apropos offener Brief: War da
nicht gerade was mit Woody Allen? Da
haben – zwar bei Rowohlt, aber egal, das
sind Details – auch Autoren des Verla-
ges eine Veröffentlichung zu verhindern
versucht (zwar vergeblich, aber der gute
Wille zählt), obwohl in jenem Fall die
Vergewaltigungsvorwürfe nie bewiesen
werden konnten. Bei Lindemann hinge-
gen, so Otte, liege der „verachtungs-
würdige Gehalt dieser Macho-Dich-
tung“ klar auf der Hand, weswegen es
„schwer zu ertragen“ sei, wie „hier mit
zweierlei Maß gemessen“ werde.
Fragt sich nur, von wem. Ottes Argu-
mentationskette strotzt so von Logik-
und Kategorienfehlern, dass man kei-
nem Vergewaltigungspoeten empfehlen
möchte, seine Opfer damit ans Bett zu
fesseln. Woody Allen hat zwar wahr-
scheinlich nicht vergewaltigt (kompli-
zierte Geschichte), aber das immerhin
in der Realität. Till Lindemann verge-
waltigt dagegen eindeutig, aber in der

Fantasie. Genauer könnte man sagen, er
entwirft ein lyrisches Ich, dass sich im
Fantasiereich der (von mir aus: schlech-
ten) Literatur einer Vergewaltigungs-
fantasie hingibt. Ungefähr so wie Falco
in „Jeanny“, einem nicht unbekannten
Song, der meines Wissens bis dato nicht
verboten ist. Darin heißt es, unzweifel-
haft im Kontext der Entführung einer
jungen Frau aus sexuellen Motiven: „Sie
kommen/ Sie kommen dich zu holen/
Sie werden dich nicht finden/ Niemand
wird dich finden/ Du bist bei mir.“ Ein
bisschen anders macht es Michael Jack-
son in „Dirty Diana“, wo er aus der Per-
spektive eines weiblichen Groupies
singt: „Hey baby do what you please/ I

have the stuff that you want/ I am the
thing that you need.“
Der Unterschied wiederum zwischen
Falco und Michael Jackson ist der Kon-
text in der Realität, der sozusagen
selbst übergriffig ist ins Reich der Fan-
tasie. Spätestens seit der Dokumentati-
on „Leaving Neverland“, in der zwei
Männer beteuern, in ihrer Kindheit von
Jackson vergewaltigt worden zu sein,
auch wenn sich das nach so vielen Jah-
ren schwer zweifelsfrei belegen lässt,
hat sich ein dunkler Schatten um solche
Songs gelegt.
Von Falco ist dergleichen ebenso we-
nig bekannt wie von Lindemann. Das ist


  • traurig, dass man es überhaupt beto-


nen muss – ein gewaltiger Unterschied.
Die ganze Diskussion, die sich inzwi-
schen auch auf Twitter entspinnt, ist so
ermüdend, dass man glauben könnte,
sie sei selbst betäubt worden. Helge
Malchow, früher Verleger, jetzt Editor-
at-large bei Kiwi, erinnert in einem kur-
zen Statement trocken an den Unter-
schied von Autor und lyrischem Ich. Si-
bylle Berg pflichtet Malchow auf Twit-
ter mit einem Halbsatz bei, den sie aber
inzwischen offenbar wieder gelöscht
hat. Er lautete sinngemäß, dass man so
was doch eigentlich in der Schule lernt.
Ab dem Schulalter geläufig ist uns au-
ßerdem ganz automatisch der Unter-
schied von Wirklichkeit und Fantasie.

Wer Literatur studiert, hört in verschie-
denen Varianten noch öfter davon. Den
fälschlich Voltaire zugeschriebenen
Satz „Mein Herr, ich teile Ihre Meinung
nicht, aber ich würde mein Leben dafür
einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen“,
hat zwar eigentlich François-Marie
Arouet gesagt. Er ist deshalb nicht we-
niger bedenkenswert und gilt in der Fik-
tion noch unumschränkter, wenn un-
umschränkt überhaupt steigerbar wäre.
Und dass wir, legte man Ottes Maßstäbe
von Strafbarkeit an, jenseits von Falco
und Michael Jackson große Teile der
Weltliteratur aus Bibliotheken und
Buchhandlungen verbannen müssten,
ist in ähnlichen Zusammenhängen auch

schon geäußert worden. Ein paar Kost-
proben? Im ersten Satz von Anthony
Burgess’ „Earthly Powers“ liegt der Er-
zähler „am Nachmittag meines einund-
achtzigsten Geburtstages“ mit seinem
Lustknaben im Bett, als der Erzbischof
seinen Besuch ankündigt. Das stammt
aus dem Genre der Komödie.
Gabriel García Márquez meint es in
seinen „Erinnerungen an meine trauri-
gen Huren“ schon ernster, wenn er,
ebenfalls im ersten Satz, schreibt: „In
meinem neunzigsten Jahr wollte ich mir
zum Geburtstag eine liebestolle Nacht
mit einem unschuldigen Mädchen
schenken.“ Was sich eben so magischer
Realismus nennt. Von Jonathan Littells
Nazi-Fantasien, Houllebecqs Frauen-,
Europäer- und überhaupt Menschen-
feindlichkeiten müssen wir wohl kaum
anfangen. Und selbst die wüste Trave-
stie des jungen Patrick Modiano, „La
place de l’étoile“, die, weitab von sei-
nem traumwandlerischen Spätwerk, das
schlimmste Judenklischee kess und bö-
se durch das von den Nazis besetzte Pa-
ris flitzen lässt, kann man in diesem Zu-
sammenhang nennen. Modiano kon-
struiert maliziös einen Vorurteilsfilter,
der alle rußigen Stereotype anzieht, die
in der antisemitischen Diskursluft lie-
gen. Ist das eine Million Mal schlauer
als Lindemann? Klar. Liest es sich ober-
flächlich harmloser? Auf keinen Fall.
Es lohnt sich, an den großen Litera-
turwissenschaftler, das heißt, den gro-
ßen Leser Erich Auerbach zu erinnern.
In seinem epochalen Werk „Mimesis“,
einer anschaulichen Theorie des abend-
ländischen Erzählens, unterscheidet er
anfangs zwischen zwei fundamental
verschiedenen Narrationen, der Ho-
mers und der Bibel. Während bei Ho-
mer keine Interpretation nötig sei und
alle Bedeutung offen zutage liege, sei
die Haltung doch unendlich viel offener
als bei der Bibel, die geradezu auf Inter-
pretation aus sei, aber auf eine tyranni-
sche, die alle anderen Lesarten aus-
schließe. Verrückterweise wiederholt
Otte in seiner Lektüre diese Passage wie
in einer missglückten Parodie.
Er schreibt: „Was die Causa Linde-
mann hingegen so einfach macht: Seine
Zeilen müssen nicht ‚interpretiert‘ wer-
den, es bedarf keiner tiefschürfenden
Analyse, um den verachtungswürdigen
Gehalt dieser Macho-Dichtung zu er-
fffassen, die im Popkosmos auch alsassen, die im Popkosmos auch als
Handlungsanweisung für Fans gelesen
werden darf.“ Leider spielt er, unbe-
merkt von ihm selbst, die Rolle des bi-
blischen Zeloten, der gar nicht anders
kann, als tyrannisch eine eindeutige
„Handlungsanweisung“ herauszulesen.
Gerade der von Otte ungelenk be-
nannte „Popkosmos“ gehört aber dem
Reich Homers an. Homer „hat es nicht
nötig“, schreibt Auerbach, „auf die ge-
schichtliche Wahrheit seiner Erzählung
zu pochen, seine Wirklichkeit ist stark
genug; er umgarnt uns, er spinnt uns in
sie ein, und das ist ihm genug“.
Gelungene Ironie spannt einen Bo-
gen von unendlich lustig bis unendlich
traurig. So auch hier: Wir erkennen,
dass die einzig entmündigende Lesart
diejenige Ottes ist. Er kippt dem Leser
sozusagen Rohypnol ins Glas, indem er
ihm nicht zutraut, sich von Linde-
manns Lyrik nicht vergewaltigen zu las-
sen. Der emanzipierte, in Kants Sinne
aufgeklärte Leser liest, zuckt die Ach-
seln und liest halt was anderes – am be-
sten wirklich gefährliche Literatur, also
die einzig gute.

PA / ZUMAPRESS.COM

/ EL UNIVERSAL

WWWer vergewaltigt hier wen?er vergewaltigt hier wen?


Rammstein-Sänger Till Lindemann speit nicht nur Feuer, er schreibt auch Gedichte. Die handeln


mitunter von Vergewaltigung. Jetzt ist der programmierte Shitstorm da. Zu Recht?


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DIE WELT MONTAG,6.APRIL2020 SEITE 8

FEUILLETON


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I


n Italienist die Todesrate unter Co-
rona-Infizierten auf über zwölf Pro-
zent gestiegen, in Frankreich, Spa-
nien, den Niederlanden und im UK
liegt sich nur noch knapp unter zehn
Prozent. In den USA sind es erst 2,
Prozent. Dafür haben sich vorletzte
WWWoche drei Millionen Menschen ar-oche drei Millionen Menschen ar-
beitslos gemeldet. Letzte Woche sind
noch sechs Millionen dazugekommen.
Letzte Woche haben mehr Amerikaner
ihren Job verloren als im gesamten Kri-
senjahr 2009.
Ich starre den dritten Hörer der Ge-
schichte meiner Gegensprechanlage an.
Ich würde mich nicht wundern, wenn er
am Ende der dritten Minute nahezu un-
unterbrochenen Läutens Funken
schlägt. Zwar sind auch seine Vorgänger
nicht unmittelbar der Dauerbelastung
durch eine vor meiner Haustür lagern-
den Stalkerin erlegen, sondern nur indi-
rekt, weil Gegensprechanlagenerfinder

in Bezug auf die menschlichen Eigenar-
ten ebenso naiven wie dramatischen
Fehleinschätzungen unterliegen und of-
fenbar befürchten, das Anbringen eines
Ausschaltknopfes könnte ihnen den
Vorwurf destruktiver Ressentiments ge-
genüber ihren Mitmenschen eintragen.
Im Ernstfall gibt es keine Alternative
dazu, das Kabel aus der Wand zu reißen.
Wenn es an der Tür läutet, fragt man
sich, wer das ist. Ich bin niemand, der
an sich selbst Symptome gravierender
existenzieller Bedeutungsmängel und
Profilunschärfen wahrgenommen hätte,
für die ihm keine bessere Tarnung ein-
fällt als die bei jeder Gelegenheit mit
geheuchelter Selbstironie vorgebrachte
Bitte, ihm seine Verrücktheit zu verzei-
hen, obwohl die selbst in 5000 Jahren
noch niemandem aufgefallen sein wird,
und wenn ich sage, ich bin selten man,
ist das keine von Minderwertigkeits-
komplexen unterlegte Spiegelfechterei,

sondern eine Tatsache. Auffallen will
nur jemand, der unauffällig ist, und das
war ich zuletzt, als ich noch ein beson-
ders schmutziger Gedanke meines Va-
ters war. Wenn es bei mir an der Tür
läutet, noch dazu auf diese Weise, frage
ich mich nicht, wer das ist, sondern wo
meine Doppelmesser liegen.
VVVor dem Corona-Super-GAU fürch-or dem Corona-Super-GAU fürch-
tete ich immer, es könnte der Gerichts-
vollzieher sein, den mir Banken oder
VVVersicherungen wegen einer offenenersicherungen wegen einer offenen
Forderung auf den Hals gehetzt haben
und von dem sie erwarten, dass er gege-
benenfalls Spürhunde einsetzt, um zwi-
schen meinen Hemden und Hosen auf
den Hort der Nibelungen zu stoßen. Ich
kam jedoch zur Überzeugung, dass
auch der dümmste Gerichtsvollzieher
nicht an der Gegensprechanlage läuten
und so dem alarmierten Schuldner ge-
nug Zeit lassen würde, um die Max-
Ernst-Sammlung aus dem Fenster ab-

zuseilen und die Truhe mit den Gold-
dublonen unter das Bett zu schieben.
Es zeigte sich, dass ich recht hatte.
Ich hätte mir ja denken können, dass je-
mand, der um 7 Uhr früh an meine Tür

klopft, nichts Gutes im Schilde führt.
Es könnte allerdings sein, dass gerade
der andere Glavinic Herr meiner Hand-
lungen war, denn der wartet um 7 Uhr
fffrüh geradezu auf jemanden, der nichtsrüh geradezu auf jemanden, der nichts
Gutes im Schilde führt. Der Gerichts-
vollzieher hätte sich umgekehrt auch
denken können, dass jemand, der ihm
um 7 Uhr früh die Tür öffnet, nichts an-
hat und seltsam ist.
Als das Läuten abbricht, empfinde ich
die abrupte Stille beinahe als Schmerz.
Mir kommt der Gedanke, jemand könn-
te wie ein Verrückter läuten, weil er Hil-
fe benötigt. Nein, in jemandem, der so
vehement Türklingeln drücken kann,
steckt noch genug Lebensenergie für
vier bis fünf Pandemien.
Ich warte. Es läutet nicht noch ein-
mal.
Ich werde wohl nie erfahren, wer es
war. Das ist natürlich auch schon früher
passiert, ohne dass mich das beküm-

mert hätte, und ich kann nicht sagen,
warum ich jetzt bedrückt bin. Weil ich
womöglich eine lebensentscheidende
Begegnung versäumt habe? Es hätte
auch eine lebensbeendende Begegnung
sein können. Wegen Covid-19? Weil ich
nicht hinaus kann? Vielleicht. Weil die
Große Depression eine kleine Korrektur
war gegen das, was in den USA bald pas-
sieren wird? Vielleicht. Wegen des An-
blicks meiner vom ständigen Sitzen an-
geschwollenen Füße? Gut möglich. Viel-
leicht aber auch nur, weil mir gerade
klar geworden ist, dass ich vor zwei Ta-
gen Geburtstag gehabt habe. Oder weil
ich mich frage, ob irgendwann niemand
mehr an meiner Tür läuten wird.

TThomas Glavinic ist Schriftsteller
und Hypochonder. Er lebt in Wien.
Zuletzt erschien von ihm bei Piper
die „Gebrauchsanweisung zur
Selbstverteidigung“.

Als es an meiner Tür läutete


Die Welt steht still, wir sitzen verängstigt in unseren Wohnungen. Thomas Glavinic verarbeitet die Corona-Krise in einem Fortsetzungsroman. Exklusiv in der WELT


DER CORONA-ROMAN
TEIL 16

,,


ICH SCHLAFE GERNE MIT DIR WENN DU SCHLÄFST


WENN DU DICH ÜBERHAUPT NICHT REGST


MUND IST OFFEN


AUGEN ZU


DER GANZE KÖRPER IST IN RUHE


KANN DICH ÜBERALL ANFASSEN


KANN MICH VÖLLIG GEHEN LASSEN


TILL LINDEMANN, „WENN DU SCHLÄFST“

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