Süddeutsche Zeitung - 06.04.2020

(Nora) #1
von katja auer, markus balser
und cerstin gammelin

Berlin– Die Bundesrepublik hat einen der
weltweit größten Rettungsschirme aufge-
spannt, um die Folgen der Corona-Pande-
mie zu bewältigen. Die bisher von Bund,
Ländern, Gemeinden und Sozialversiche-
rungen veranschlagten Hilfspakete und
Ausgleichszahlungen summieren sich auf
1173 Milliarden Euro. Das geht aus einer
Aufstellung des Bundesfinanzministeri-
ums hervor, die derSüddeutschen Zeitung
vorliegt. Zum Vergleich: Der gesamte Bun-
deshaushalt 2020 umfasst 363 Milliarden
Euro. Nur die USA stellen noch mehr Geld
bereit.
Die enorme Summe teilt sich auf in di-
rekte Zahlungen an Bedürftige, Kreditga-
rantien sowie erwartete Mindereinnah-
men, die kompensiert werden müssen.
Bund, Länder und Gemeinden rechnen we-
gen des stillstehenden wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Lebens mit erhebli-
chen Steuerausfällen. Schätzungen zufol-
ge könnten sie sich für das laufende Jahr
auf 82,5 Milliarden Euro summieren. Hin-
zu kommen Ausfälle bei der gesetzlichen
Kranken- und Pflegeversicherung.
Die Bundesregierung will zu Beginn der
Osterwoche noch einmal die Kreditverga-
be über die staatliche Förderbank KfW
kräftig ankurbeln. Nach SZ-Informatio-
nen haben sich Finanzminister Olaf Scholz
(SPD) und sein Wirtschaftskollege Peter
Altmaier (CDU) darauf verständigt, die Kre-
ditvergabe für Unternehmen mit 11 bis 29
Beschäftigten deutlich zu erleichtern. Aus
Regierungskreisen verlautete am Sonntag,
beide Minister wollten kurzfristig bekannt-
geben, dass der Bund bei Krediten in Höhe
von bis zu 500 000 Euro künftig zu 100 Pro-
zent haften werde. Bisher hatte der Bund
den Banken eine Ausfallgarantie von
90 Prozent gegeben. Vielen Banken war
das nicht genug; sie zögerten, ins Risiko zu
gehen und Kredite zu bewilligen. Der Zins-

satz für die künftigen KfW-Kredite soll bei
drei Prozent liegen.
Unterdessen laufen die Bemühungen
weiter, Pflegekräfte über Boni-Zahlungen
besser zu entlohnen. Bundesgesundheits-
minister Jens Spahn (CDU) sagte derBild-
Zeitung, er wolle persönlich mit Arbeitge-
bern verhandeln, „wie wir Wege finden,
denjenigen, die jetzt Großartiges leisten je-
den Tag, dafür noch mal eine besondere
Anerkennung zu geben“. Scholz hatte mit-
geteilt, dass Corona-Gehaltszuschläge bis
1500 Euro steuerfrei sein werden. Bayerns
Ministerpräsident Markus Söder (CSU)
kündigte am Sonntag an, Pflegekräften ei-
nen Bonus von 500 Euro zu zahlen. Gut
250 000 Pflegekräfte in Krankenhäusern,
Alten- und Pflegeheimen sowie Behinder-
teneinrichtungen sollen den Bonus erhal-
ten. Ärzte sind ausgenommen. Den Bonus

gebe es „vorläufig einmal“, sagte ein Spre-
cher der Staatskanzlei. Die Zuwendung
soll eine Anerkennung sein für die hohe Be-
lastung wegen der Corona-Krise.
In vielen Städten wächst inzwischen die
Sorge vor einem Kollaps von Krankenhäu-
sern und Nahverkehrsbetrieben. Der Deut-
sche Städtetag fordert eindringlich, weite-
re Finanzhilfen zu schaffen, um etwa Kran-
kenhauskapazitäten aufzustocken. Die bis-
herigen Hilfen reichten nicht, warnt Städte-
tagspräsident Burkhard Jung. Weite Teile
der stationären Gesundheitsversorgung
könne der Schirm nicht schützen, sagte
Jung (SPD), der Oberbürgermeister von
Leipzig ist. „Erhebliche“ Finanzierungslü-
cken müssten schnell geschlossen werden.
Existenzängste kursieren auch in Nah-
verkehrsbetrieben. Die Einnahmen aus
Einzelticketverkäufen seien um 70 bis
90 Prozent eingebrochen, teilte der Ver-
band Deutscher Verkehrsunternehmen
mit. Sie spülen normalerweise die Hälfte
der Ticketeinnahmen in die Kassen. Damit
Busse und Bahnen nicht zu voll sind, bie-
ten die Verkehrsbetriebe rund 50 bis 75 Pro-
zent der Fahrten an. Die wirtschaftlichen
Folgen seien „verheerend“, warnt Ver-
bandschef Oliver Wolff. Die staatlichen Ret-
tungsschirme gelten nicht für die meist
kommunal geführten Unternehmen.
Die Linkspartei fordert unterdessen ei-
ne finanzielle Exit-Strategie. Es sei abseh-
bar, dass die enormen Hilfen zu „einer his-
torischen Last“ aufwachsen werden, die
durch normale Steuer- und Haushaltspoli-
tik niemals ausgeglichen werden könnte,
betonte Dietmar Bartsch, Fraktionschef
der Linken im Bundestag. Um beim Abtra-
gen der Schulden zu helfen, fordert er „ei-
ne einmalige Vermögensabgabe“. Wie
nach dem Zweiten Weltkrieg müsse nach
der Corona-Krise „ein gesellschaftlicher
Konsens über einen Lastenausgleich“ ver-
handelt werden. „Viele Menschen mit riesi-
gem Vermögen werden gern dazu bereit
sein“, sagte er.

Überall viel Sonne und trocken. Spät-
abends vom Niederrhein bis Ostfriesland
leichte Bewölkung. An der Küste und in
den Mittelgebirgen etwas kühler bei mäßi-
gem bis frischem Wind. Höchstwerte von
17 bis 23 Grad.  Seite 13

Überrascht von der Welle:Singapur galt
als Vorbild der Virusbekämpfung. Doch
nun steigen die Infektionen.  Seite 7

Schockgefroren im Wahlkampf:In den
USA nimmt fast niemand mehr Joe Biden
wahr.  Seite 7

Unterwegs mit dem Erreger:Das Ge-
schäft mit den Mitfahrgelegenheiten läuft
munter weiter.  Seite 15

 Alle aktuellen Entwicklungen, Analy-
sen und interaktiven Grafiken im Netz:
http://www.sz.de/coronavirus

Wien– Österreich setzt zur Pandemie-Be-
kämpfung auf eine vom Roten Kreuz entwi-
ckelte App namens „Stopp Corona“. Für
Aufsehen sorgte dabei Parlamentspräsi-
dent Wolfgang Sobotka, der sich im Maga-
zinProfildafür aussprach, die Bürger zur
Nutzung der App zu verpflichten. Der ÖVP-
Politiker, der als Vertrauter von Kanzler Se-
bastian Kurz gilt, ruderte allerdings nach
heftiger Kritik zurück und erklärte, „wir
bleiben auf dem Weg der Freiwilligkeit“.
Die breite Nutzung der App gilt als wich-
tige Begleitmaßnahme bei einer von der
Regierung nun in Aussicht gestellten Lo-
ckerung der Beschränkungen, nachdem es
am Wochenende in Österreich erstmals
mehr Genesene als Neuinfizierte gab. Ins-
gesamt wurden bis Sonntag knapp 12 000
Corona-Fälle und 204 Tote verzeichnet.

Die politische Diskussion um die Nut-
zung von „Big Data“ zur Corona-Eindäm-
mung ist von Kurz immer wieder angesto-
ßen worden, ohne dass er sich bislang sel-
ber auf Art und Umfang festgelegt hat. Vize-
kanzler Werner Kogler von den Grünen
sprach sich nach dem Sobotka-Vorstoß
deutlich gegen eine verpflichtende App
aus. Er setzt darauf, dass sich ein sehr gro-
ßer Prozentsatz der Bevölkerung freiwillig
für die Nutzung entscheidet. Für die rund
zwei Millionen Österreicher ohne Smart-
phone soll es nach Vorstellung der Regie-
rung einen Schlüsselanhänger geben, der
ebenfalls ihre Kontakte festhält.
Auf dem Markt ist die „Stopp Coro-
na“-App seit Ende März, bislang gibt es
rund 200 000 Nutzer. Persönliche Begeg-
nungen werden via Bluetooth erfasst und

mit einem sogenannten digitalen Hand-
schlag anonymisiert gespeichert. Im Falle
einer gemeldeten Infektion werden alle
Kontaktpersonen der zurückliegenden
48 Stunden informiert. In der bislang vor-
liegenden Version der App erfolgt die Ver-
netzung allerdings nicht automatisch, son-
dern muss von allen Beteiligten genehmigt
werden. Für Zufallskontakte zum Beispiel
im Supermarkt oder in öffentlichen Ver-
kehrsmitteln ist das nicht praktikabel.
Am nächsten Donnerstag soll es des-
halb eine Aktualisierung geben, bei der die
Kontakte auf Wunsch automatisch gespei-
chert werden. Dann sollen auch Verdachts-
meldungen verschickt werden können.
Nach Angaben des österreichischen Roten
Kreuzes ist dies dann die erste App mit die-
sen Funktionen in Europa.

Auch in anderen EU-Ländern wird an
derartigen Tracing-Apps gearbeitet. Am
Dienstag will eine Initiative europäischer
Forscher die technische Grundlage für ei-
ne gesamteuropäische Lösung veröffentli-
chen. Das Projekt namens Pepp-PT ist die
Basis-Software für Corona-Apps zahlrei-
cher europäischer Staaten und soll unter
anderem die Privatsphäre der Nutzer und
den sicheren Datenaustausch zwischen
Staaten garantieren. Pepp-PT-Leiter Chris
Boos rechnet damit, dass eine vom Robert-
Koch-Institut mitentwickelte deutsche
Tracing-App dann frühestens ab dem


  1. April zur Verfügung stehen dürfte. Bis
    dahin, so sagte er, sei es Aufgabe der Poli-
    tik, möglichst viele Bürger von dem Nut-
    zen einer solchen Tracing-App zu überzeu-
    gen. peter münch, max muth


Meinung


Wer Kontaktbeschränkungen lockert,


opfert Menschenleben. Das sollte


die Regierung offen sagen 4


Panorama


Erst das Feuer, dann das Virus: Wie


Australien mit der zweiten Krise


binnen kurzer Zeit umgeht 8


Feuilleton


Die Architekturhistorikerin


Beatriz Colomina über


Stress im Schutzraum 9


Das Politische Buch


Terminsache Massenmord:


Himmlers Kalender offenbart


ein Netz von Komplizen 13


Schule und Hochschule


Eine Mutter lotst Schüler durch


die Corona-Zeit – indem sie


verzweifelten Eltern hilft 20


Medien, TV-/ Radioprogramm 21,
München · Bayern 27
Rätsel 21
Traueranzeigen 10


Berlin/München– Über die zur Eindäm-
mung der Corona-Pandemie erlassenen
Verbote von Gottesdiensten müssen noch
vor Ostern Richter entscheiden. Beim Ver-
waltungsgericht Berlin hat ein katholi-
scher Freundeskreis eine einstweilige An-
ordnung beantragt, um zu erreichen, dass
sich bis zu 50 Menschen zu Gottesdiensten
versammeln dürfen. Auch in München ver-
langt ein Anwalt, religiöse Veranstaltun-
gen zu Ostern zu erlauben. sz  Seite 5

München– Die Bundesregierung will Stu-
denten, die ihren Nebenjob verlieren und
dadurch in Not geraten, mit Überbrü-
ckungskrediten ermöglichen, ihr Studium
fortzusetzen. Wie aus einer Antwort des
Bundesbildungsministeriums auf eine An-
frage der Bundestags-Linken hervorgeht,
die derSüddeutschen Zeitungvorliegt, sol-
len solche Studierende, die kein Anrecht
auf Bafög haben, Hartz-IV-Leistungen auf
Kredit beantragen können. sz  Seite 6

Berlin– Der Vorschlag von Bundestagsprä-
sident Wolfgang Schäuble (CDU), das
Grundgesetz zu ändern, um auch in Zeiten
der Pandemie die Handlungsfähigkeit des
Parlaments zu sichern, stößt bei den Frakti-
onen auf Widerstand. Vertreter von Lin-
ken, Grünen und der FDP lehnten auf An-
frage derSüddeutschen Zeitungeine Verfas-
sungsänderung ab. Das in Krisenzeiten zu
tun, „verbietet sich“, sagte der linke Frakti-
onschef Dietmar Bartsch.sz  Seite 5

London –Der neue Chef der britischen La-
bour-Partei, Keir Starmer, hat Premiermi-
nister Boris Johnson wegen seines Vorge-
hens in der Coronavirus-Pandemie ange-
griffen. „Es sind schwere Fehler gemacht
worden“, schrieb Starmer in einem Gastbei-
trag in derSunday Times. Der neue Opposi-
tionschef führte aus, die konservative Re-
gierung habe zu spät eingestanden, dass
Großbritannien bei der Zahl der Tests hin-
terherhinke. Nun müsse das Versprechen,
täglich 100 000 Tests durchzuführen,
rasch eingelöst werden. Starmer, ein frühe-
rer Menschenrechtsanwalt und Leiter der
Ermittlungsbehörde Crown Prosecution
Service, war am Samstag zum Chef der bri-
tischen Sozialdemokraten gekürt worden.
Der 57-Jährige tritt die Nachfolge von Jere-
my Corbyn an. Unter dessen Führung hatte
Labour bei der Parlamentswahl im vergan-
genen Dezember die schwerste Niederlage
seit 1935 eingefahren. Die britische Köni-
gin wollte die Nation am Sonntagabend in
einer Rede auf harte Zeiten einschwören.
Sie werde die Briten dazu aufrufen, Selbst-
disziplin, Gelassenheit und Mitmensch-
lichkeit zu bewahren, hieß es laut Redema-
nuskript.sz  Seiten 4 und 6

23 °/-1°


Der Rettungsschirm wird immer größer


Das Hilfspaket zur Bewältigung der Corona-Krise summiert sich inzwischen auf 1173 Milliarden Euro.


Die Kreditvergabe soll noch mal erleichtert werden, Pflegekräfte erhalten Bonuszahlungen


Die SZ gibt es als App
für Tablet und Smart-
phone: sz.de/zeitungsapp

Studenten in Not sollen


Hartz IV erhalten



NACHTS

Außerdem in


dieser Ausgabe


IMAGO/EVERETT COLLECTION

Österreich debattiert über verpflichtende Corona-App


Das Land nutzt bereits eine vom Roten Kreuz entwickelte Software, die nun ausgebaut werden soll


Richter entscheiden


über Gottesdienst-Verbot


Fraktionen stellen sich


gegen Schäuble


DAS WETTER



TAGS

Das Wetter ist schön, Ostern steht vor der Tür,


doch die Pandemie überschattet alles:


Noch mindestens zwei Wochen lang gelten in Deutschland Ausgangsbeschränkungen.


Wenn diese gelockert werden, wird das Opfer kosten.


Und noch immer fehlen Atemmasken, sie sind weltweit gefragt


 Thema des Tages, Seite Drei, Meinung


Corona – Was der Staat bisher bereitstelltAngaben in Milliarden Euro*

Haushaltsgeld
353,3Milliarden Euro

staatliche Garantien
819,7Milliarden Euro

*Beispiel SZ-Grafik; Quelle: Bundesfinanzministerium

Bundes-
haushalt
(Sofort-
hilfen*)
155,

Länder
(Liquiditäts-
hilfen*)
65,

Kredite für
Unternehmen
(Wirtschafts-
stabilisierungsfonds)
400,

Sozial-
versicherungen
(Kurzarbeiter-
geld*)
15,

Wirtschafts-
stabilisierungsfonds
(Beteiligung an
Unternehmen*)
100,

Kredite über
die Länder
63,

Gemeinden
(Wohngeld*)
17,

für die
staatliche
Förderbank KfW
356,

NEUESTE NACHRICHTEN AUS POLITIK, KULTUR, WIRTSCHAFT UND SPORT


WWW.SÜDDEUTSCHE.DE HF2 MÜNCHEN, MONTAG, 6. APRIL 2020 76. JAHRGANG / 15. WOCHE / NR. 81 / 3,20 EURO


FOTO: SASCHA STEINBACH/EPA-EFE/SHUTTERSTOCK

Süddeutsche ZeitungGmbH,
Hultschiner Straße 8, 81677 München; Telefon 089/2183-0,
Telefax -9777; [email protected]
Anzeigen:Telefon 089/2183-1010 (Immobilien- und
Mietmarkt), 089/2183-1020 (Motormarkt),
089/2183-1030 (Stellenmarkt, weitere Märkte).
Abo-Service:Telefon 089/21 83-80 80, http://www.sz.de/abo
A, B, F, GR, I, L, NL, SLO: € 3,70;
ES (Kanaren): € 3,80; dkr. 29; £ 3,50; kn 30; SFr. 4,

Das Heynckes-Experiment: Warum der FC Bayern Hansi Flick vertraut Sport


Gewinnzahlen vom Wochenende
Lotto(04.04.): 9, 12, 17, 24, 41, 43
Superzahl: 1
Toto:lag noch nicht vor
Auswahlwette:lag noch nicht vor
Zusatzspiel:lag noch nicht vor
Spiel 77: 5265558
Super 6:4 0 5 7 6 0 (Ohne Gewähr)
 Weitere Gewinnzahlen:
Wirtschaft, Seite 18

HEUTE


Harte Kritik


an Boris Johnson


Neuer Labour-Chef rügt langsame
Reaktion auf die Pandemie

(SZ) Die Sehnsucht, jenes alte, kulturell
hochaufgeladene deutsche Gefühl, erlebt
in diesen Tagen, Wochen, womöglich Mo-
naten eine Renaissance – oder wie der Phi-
losoph Timo Reuter der Katholischen Nach-
richten-Agentur sagt: ein Revival. „Revi-
val“ klingt ein wenig energetischer als die
Renaissance, bei der wir immer daran den-
ken müssen, dass ihr babyfrischer Glanz ja
aus dem Elend der Pest entstanden ist. Un-
sere Sehnsucht, so Timo Reuter weiter, hat
in vorderster Linie den Sommerurlaub
zum Gegenstand. Wir wünschen uns dort-
hin, wo wir gebucht haben, könnte man sa-
gen, sofern man das Gefühlige mit ein we-
nig Pragmatismus strecken möchte. Natür-
lich haben wir für Juli, August oder Septem-
ber 2020 gebucht, aber unsere Sehnsucht
könnte auch eine Zwangserweiterung auf
das Jahr 2021 erfahren, wenn es blöd läuft.
Die Sehnsucht bezeichnet von jeher
den Wunsch, körperlich oder gedanklich
von hier nach dort respektive von mir zu
dir zu gelangen. Da liegt Timo Reuter philo-
sophisch auf der Zielgeraden zu Platon,
dessen „Gastmahl“ wir uns jetzt mal wie-
der vorlegen lassen, um darin die eigent-
lich sehr lustige Rede des Aristophanes
über die Kugelmenschen zu lesen. Die Men-
schen, sagt Aristophanes, seien nämlich
von Haus aus kugelförmig gewesen, „in-
dem Rücken und Seiten im Kreis herumlie-
fen, und ein jeder hatte vier Hände und
ebenso viele Füße“. Selbstverständlich
wird man in solcher Gestalt übermütig
und blöd und hält sich den Göttern für
ebenbürtig. Aber die Götter hatten be-
kanntlich einen zupackenden Chef, Zeus,
der daraufhin beschloss, jeden Kugelmen-
schen in zwei Hälften zu zerschneiden.
Zeus erhoffte sich einen höheren Nutz-
wert, weil die Menschen mit der Teilung ei-
nerseits schwächer und anderseits nützli-
cher würden, weil dadurch ihre Zahl vergrö-
ßert wird. Heute würde Zeus dafür von
Christian Drosten abgemahnt, weil mehr
Menschen natürlich auch mehr Anste-
ckung bedeuten.
Aber die mythische Lehre, die uns ei-
gentlich interessiert, beschreibt Aristopha-
nes so: „Als nun so ihr Körper in zwei Teile
zerschnitten war, trat jede Hälfte mit sehn-
süchtigem Verlangen an ihre andere Hälfte
heran.“ So entstand also die Sehnsucht,
wie wir sie heute kennen: Unser einer Teil
hat die Reise nach Ko Lanta gebucht, der
andere Teil wartet auf die Stornierungs-
mail von Tui. Der eine Teil ist der festen
Überzeugung, dass die von der Regierung
ausgegebenen Verhaltensregeln nützlich
und vertretbar sind, der andere Teil sehnt
sich nach Übertretung, und manch einer
sehnt sich vielleicht nach dem Zustand zu-
rück, als die Menschen noch kugelförmig
waren und schneller von hier nach dort ka-
men. Übrigens hatte Zeus Erbarmen mit
seinen unglücklichen Menschenhälften
und setzte ihnen die Geschlechtsteile nach
vorn. Was dann alles geschah, davon viel-
leicht später einmal mehr.


Corona-Zeit


4 190655 803203

11015
Free download pdf