Süddeutsche Zeitung - 06.04.2020

(Nora) #1
von susanne klein

D


rei Wochen geht das schon so, des-
halb muss Eylem Emir auf ihrem
Smartphone lange durch Sprech-
blasen scrollen, um an den Anfang zu kom-
men. Da ist er: Freitag, der 13. März. Der
Tag, an dem die Augsburger Schillerschule
die Kinder mit eilig angefertigten Wochen-
plänen nach Hause verabschieden muss.
Der Tag, an dem im Eltern-Chat der drit-
ten Klasse wegen der plötzlichen Schul-
schließung der Sturm losbricht. Immer
mehr Whatsapp-Nachrichten ploppen bei
der Klassenelternsprecherin auf:Was ist
das? Was sollen wir damit machen? Wie
jetzt, ganze Ferien? Nein, antwortet Eylem
Emir,das ist ein Wochenplan, nur für die
erste Woche, auf der Schul-Homepage sind
die Aufgabenblätter dafür.Im Chat schallt
es zurück:So viel! Ich weiß nicht, ich bin
kein Lehrer.Eine Mutter schreibt:Das ist ei-
ne Katastrophe!


Die Schillerschule ist eine von Zehntau-
senden Schulen bundesweit, die an diesem
Freitag von ihrer Schließung überrollt wer-
den. Doch der Tribut an das Coronavirus
trifft die Grund- und Mittelschule in Augs-
burg-Lechhausen härter als viele andere
Schulen. Das liegt daran, dass dort zahlrei-
che Eltern ihre Kinder beim Lernen kaum
unterstützen können. Weil die Rolle neu
für sie ist, weil sie zu schlecht Deutsch spre-
chen, weil manche Inhalte sie überfordern.
95 Prozent der Eltern sind Migranten, etli-
che leben erst seit kurzem in Deutschland.
„Im Einzugsbereich unserer Schule liegt
ein Flüchtlingsheim, deshalb haben wir
sehr viele Kinder von dort“, sagt Emir. Die
41-Jährige ist nicht nur Mutter einer Dritt-
klässlerin an der Schule, sie betreut dort
auch als Erzieherin im Anerkennungsjahr
eine offene Ganztagsklasse mit Erstkläss-
lern. Ein Kind gibt es in dieser Klasse, des-
sen Eltern aus Deutschland kommen. Bei
ihrer Tochter in der Dritten sind es zwei.
Mit den Eltern, die in diesen Wochen elo-
quent diskutieren, wie in der Corona-Krise
Homeschooling und digitaler Unterricht
gelingen können, hat die Klientel der Schil-
lerschule wenig gemein. Der Unterschied
im Lernumfeld der Kinder, etwa zu Augs-
burgs Akademikerviertel Spickel, ist groß.
Das stellt schon im Normalbetrieb, wenn
die Schule offen ist, eine Herausforderung
dar, weil es die Schüler in ihren Bildungs-
chancen benachteiligt. Jetzt aber, wo die
Schule nur noch behelfsmäßig aus der Fer-
ne versuchen kann, die herkunftsbeding-
ten Defizite ihrer Schüler zu kompensie-
ren, verstärkt sich die Ungleichheit noch:
Bei der Bewältigung des Schulstoffs sind
viele Schüler der Schillerschule momentan
auf sich allein gestellt. Dabei bräuchten ge-
rade sie die Extraförderung, die nun in gut
gestellten Elternhäusern den meisten Kin-
dern selbstverständlich zuteil wird.


Die Entwicklungspsychologin Mohini
Lokhande sieht in der aktuellen Situation,
in der es mehr denn je auf die Eltern an-
kommt, vor allem die Sprachbarriere als
Bildungsrisiko. „Ohne gute Deutschkennt-
nisse können Eltern bei den Hausaufgaben
nun mal nicht helfen“, sagt die Expertin im


Sachverständigenrat deutscher Stiftungen
für Integration und Migration. 86 Prozent
der Familien der ersten Zuwanderergene-
ration sprechen zu Hause kein oder kaum
Deutsch, berichtet Lokhande. Hier müss-
ten Schulen Brücken bauen.
Die jetzige Situation sei vergleichbar
mit den Sommerferien: Aus der Forschung
wisse man, dass Kinder aus Zuwandererfa-
milien nach sechs Wochen ohne schuli-
sches Lernen geringere Leistungen zeigen
als ihre Mitschüler, besonders beim Lesen.
Mohini Lokhande macht sich deshalb Sor-
gen: „Was geschieht mit Kindern, die erst
seit kurzem bei uns Deutsch lernen und
nun durch die Corona-bedingte Isolation
kaum noch Deutsch sprechen?“ Wie viel
verlernen sie in dieser Zeit, wo knüpfen sie
hinterher wieder an, fragt sich Lokhande.
„Und wenn ich bedenke, dass viele bil-
dungsnahe Eltern ihre Kinder jetzt inten-
siv durch Wochenpläne begleiten und das
Einmaleins mit ihnen üben, dann befürch-
te ich, dass die Leistungsschere durch die
Corona-Schulpause noch stärker auseinan-
dergeht als in den Sommerferien.“
Das befürchtet auch Eylem Emir, wes-
halb sie zurzeit bei den Eltern der Schiller-
schule noch engagierter als sonst für die In-
teressen der Kinder wirbt. Doch bei wei-
tem nicht alle Zuwanderer verstehen, was
das deutsche Bildungssystem gerade jetzt
von ihnen erwartet. In der arabischen
Welt, aber auch in osteuropäischen und
afrikanischen Ländern sei es weniger üb-
lich, Eltern in die Bildung ihrer Kinder zu
involvieren, sagt Emir: „Dort macht die
Schule alles und ist die Autorität. Aber hier
sind Eltern Bildungspartner, die ihre Kin-
der unterstützen sollen. Das kennen viele
Mütter und Väter nicht.“ Schon vor Corona
hat Emir immer wieder erlebt, dass Eltern
dieser Erwartungshaltung hilflos gegen-
überstehen. Doch das Ausmaß der Mut-
und Ratlosigkeit angesichts der Schul-
schließung hat selbst sie überrascht. „Es

war wie ein Vulkan, manche versuchten zu
beruhigen, andere flippten aus“, fasst sie
die Reaktionen der Eltern zusammen.
„Mehr als die Hälfte der 23 Familien war
richtig verzweifelt.“
Das wollte Emir ändern. Noch am Frei-
tag druckt die Mutter von vier Kindern die
Arbeitsblätter von der Schulhomepage aus
und breitet sie nach Tagen sortiert auf ih-
rem Esstisch aus; den Anfang macht sie
mit Deutsch. Den Wochenplan bis zum
20.März, den die Klassenlehrerin den Kin-
dern mitgegeben hat, legt Emir daneben.
Dann greift sie zum Handy und dreht ihr
erstes Erklärvideo. „Hallo, liebe Eltern“, er-
tönt ihre Stimme aus dem Off, „ich hab
hier versucht, ein bisschen Übersicht zu
bringen.“ Tag für Tag und Aufgabe für Auf-
gabe wandert ihr Zeigefinger, gefolgt von
der Kamera, zwischen Wochenplan und Ar-
beitsblättern hin und her. Dazu erklärt

Emir in einfachem, langsam gesproche-
nen Deutsch, was die Kinder tun sollen.
Viele Eltern bedanken sich, die meisten
verstehen jetzt den Wochenplan. Doch die
Fragen gehen weiter. Emir merkt, dass es
mit dem Video nicht getan ist. Sie nimmt
Tutorials auf, zu schwierigen Themen wie

dem scharfen S oder dem Dehnungs-h. Sie
bringt Arbeitsblätter ins Flüchtlingsheim,
empfängt Familien bei sich zu Hause, ruft
an, fragt nach, hört Sprachnachrichten ab
und berät Schüler, etwa einen Viertkläss-
ler, der anstelle seiner Mutter die kleine
Schwester durch die Hausaufgaben leitet.
Bis zu den Osterferien macht sie das, was

ihrer Ansicht nach immer getan werden
müsste – nicht nur in der gegenwärtigen
Krise. Und es wirkt. „Die meisten Eltern ha-
ben die Sache jetzt im Griff. Wenn ein Kind
sagt, das kann ich nicht, melden sie sich. So
kommen wir besser durch diese Zeit.“
Und die Lehrerin? Tut, was sie kann,
sagt Eylem Emir, gestaltet das Lernpro-
gramm, hilft bei Fragen, in denen die El-
ternsprecherin nicht weiterweiß. Und bie-
tet den Eltern fortlaufend Unterstützung
an, doch die halten sich zurück. „Man traut
sich einfach nicht, die Lehrerin zu fragen,
wenn man so wenige Kenntnisse hat“, er-
klärt Emir. Lieber gestehen die Eltern ihr,
wenn sie „nix verstehen“ und Angst haben,
Fehler zu machen. Weil Emir eine von ih-
nen ist – oder es zumindest war. Sie kam
vor 22 Jahren nach Deutschland, war als
Türkin mit arabischen Wurzeln in der deut-
schen Sprache und Kultur ebenso fremd
wie die Eltern, denen sie heute hilft.
Mit ihrer eigenen Migrationserfahrung
und weil sie Türkisch und Arabisch
spricht, kann Eylem Emir mehr bewirken
als manche Lehrerin. Seit 15 Jahren leitet
sie als ehrenamtliche Stadtteilmutter an
der Schillerschule wöchentliche Gruppen-
treffen für Mütter von Erst- und Zweit-
klässlern. Treffen, bei denen sich viele
Frauen erstmals trauen, ein paar deutsche
Sätze zu sprechen, bei denen sie erfahren,
was ihre Kinder im Unterricht gerade ler-
nen, und wie sie ihnen helfen können.
„Das ist etwas sehr Gutes, weil es die
Mütter enorm motiviert“, sagt Emir. Aber
solche Angebote müsse es viel häufiger ge-
ben, um die Eltern für die Bildung zu gewin-
nen. Nicht nur projektweise, sondern regu-
lär, und stets direkt in der Schule. „Das Bil-
dungssystem muss sich auf die Bevölke-
rung einstellen“, fordert sie, also auch auf
bildungsferne Zuwanderereltern. Dann wä-
ren deren Kinder auch nicht so auf sich al-
lein gestellt. Und das, sagt Emir, sei alles an-
dere als „nur ein Corona-Thema“.

Erste Reihe oder letzte Bank?
Immer letzte, aber oft strafversetzt in die
erste. Ich bekam Verweise, die mein Vater
immer unterschrieben hat mit „dein dich
liebender Vater“.
Influencer oder Follower?
Never a follower. Immer nur meinem In-
stinkt für Quatsch gefolgt – und den cools-
ten Jungs natürlich.
Mein Hobby in der Pause?
Meine mitgebrachte trockene Semmel ver-
schlingen und den Namen des jeweils Ange-
beteten klaftertief in den Tisch ritzen.
Meine größte Stunde?
Im Griechisch-Unterricht vor Langweile
aus dem Fenster gesprungen zu sein. War
der erste Stock.
Das würde ich gern vergessen:
Unsere grausame Verachtung Schülerin-
nen gegenüber, die nicht so schlau und
hübsch waren, wie wir glaubten zu sein.
Ein Denkmal gebührt ...
... Frau Mügge, die mir Lesen beigebracht
hat, Frau Müller, die mich zum Vorlesewett-
bewerb angemeldet hat, Frau Dr. Büchsel,
die mir Marie Luise Kaschnitz, Max Frisch,
Ingeborg Bachmann zu lesen gegeben hat.

Lernen ist ...
... wenn es gut unterrichtet wird, aufre-
gend, inspirierend, wunderbar. Zu spüren,
wie das eigene Gehirn etwas aufsaugt und
kapiert, ist grandios.
Noten sind ...
... nicht so wichtig, wie sie genommen wer-
den. Manchmal können sie Ansporn sein,
oft entmutigen sie aber nur nachhaltig.
Schule müsste ...
... ermuntern, an die eigene Kraft zu glau-
ben. Lernen aufregend machen. Sie müss-
te Kreativität nicht nur unterstützen, son-
dern lehren, Musik, Kunst und freiem
Schreiben mehr Platz geben, sie müsste in
unser aller Interesse viel besser finanziert
werden.
Entschuldigen muss ich mich bei ...
... Lehrern und Lehrerinnen, über deren
Handicap wir uns erbarmungslos lustig ge-
macht haben. Eine Lehrerin war im Krieg
verschüttet gewesen und hat sehr oft da-
von erzählt. Wir fanden das wahnsinnig ko-
misch – das war grausam.
Entschuldigen muss sich bei mir ...
... niemand.

Zur Schule hat jeder was zu sagen. War ja jeder da.
Deshalb gibt es einmal die Woche „Alte Schule“.

ALTE SCHULE


Millionen Schülerinnen und Schüler lernen
dieser Tage am eigenen Computer und am ei-
genen Schreibtisch statt in der Klasse – so
sie einen Computer und einen Schreibtisch
haben. Und ihre Eltern sind oft die ersten An-
laufstellen, wenn sie partout nicht auf die Lö-
sung der Matheaufgabe kommen – so die El-
tern selbst noch fit genug darin sind. Die Be-
dingungen in den Familien unterscheiden
sich. Forscher des arbeitgebernahen Insti-
tuts der Deutschen Wirtschaft (IW) befürch-
ten daher, dass die Schulschließung die sozia-
le Spaltung vertiefen könnte. Dabei ist die oh-
nehin schon tief: Die Pisa-Studie aus dem ver-
gangenen Jahr zeigte, dass der Einfluss der
Herkunft auf den Bildungserfolg in Deutsch-
land zuletzt sogar noch größer geworden ist.
Wie viel ein Kind lernt, hängt schon jetzt stär-
ker als in der Vergangenheit vom Bildungsab-
schluss der Eltern ab.

Die Forscher des IW werteten die Pisa-Da-
ten erneut aus. Sie interessierten sich vor al-
lem für das Lernen außerhalb der Schule. Da-
bei zeige sich, „dass Eltern mit einem akade-
mischen Hintergrund ihre Kinder öfter bei
den Schulaufgaben unterstützen“. Wie unter-
stützungsbedürftig die Kinder waren, schien
dabei nebensächlich zu sein; wer studierte El-
tern hat, bekommt mehr Hilfe als Gleichaltri-
ge in formal niedriger gebildeten Familien.
„Durch die Schließungen der Bildungseinrich-
tungen entfällt die Chance, gerade die Kin-
der aus bildungsfernen Haushalten intensi-
ver zu fördern“, schreiben die IW-Autoren
Christina Anger und Axel Plünnecke in ihrer
Expertise, die der SZ vorab vorliegt. Sie for-
dern Förderstunden, sobald die Kinder in die
Klassen zurückkehren. Dafür sollten „Chan-
cen-Beauftragte in den Schulen ernannt und
qualifiziert werden“. BERND KRAMER

„Hallo, liebe Eltern“


Wie geht ein scharfes S? Was ist ein Wochenplan? Plötzlich sollen auch die Familien von Kindern


an Brennpunktschulen so etwas wissen. Eine Mutter versucht zu helfen – und stößt auf Widerstände


Doris Dörrie


Instinkt für Quatsch, neigt zu
Übersprungshandlungen

Um die Kinder zu erreichen, muss
man die Eltern für die Bildung
gewinnen, sagt Eylem Emir

Ein eigener Platz zum Lernen, an dem das Kind sich geborgen fühlt, ist in vielen Familien eine Selbstverständlichkeit – und in vielen nicht. Hier macht ein Junge
Hausaufgaben in einer Kaserne, die Flüchtlingen als vorübergehendes Quartier dient. FOTO: CATHERINA.HESS

Ungerechtes Homeschooling


Doris Dörrie, geboren 1955 in Hannover,
studierte nach dem Abitur
Theater und Schauspiel
in Kalifornien und New York.
Sie führte bei zahlreichen Filmen
Regie (u.a. „Männer“, 1985,
„Kirschblüten – Hanami“, 2007).
Parallel zu ihrer Filmarbeit schreibt sie
Kurzgeschichten, Romane
und Kinderbücher und unterrichtet
„Creative Writing“ an
der Filmhochschule München.
Ihr neuestes Buch „Leben, Schreiben,
Atmen. Eine Einladung zum Schreiben“
ist im September erschienen.
FOTO: CONSTANTIN FILM VERLEIH GMBH / DIETER MAYR

Eylem Emir fordert, zugewanderte Eltern
in Schulen mehr einzubeziehen. FOTO: OH


Gerade die Schüler, die in der


Corona-Zeit beim Lernen viel


Rat brauchen, gehen oft leer aus


(^20) SCHULE UND HOCHSCHULE Montag, 6. April 2020, Nr. 81 DEFGH
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