Süddeutsche Zeitung - 06.04.2020

(Nora) #1
von stefan fischer

W


ir wollen raus. Raus aus unseren
Wohnungen. Und zwar richtig.
Nicht bloß, um für Toiletten-
papier und Hefe vor Drogerien und Super-
märkten Schlange zu stehen. Wir wollen
Freunde treffen, statt nur zu chatten. Wir
wollen in Biergärten, in Fußballstadien,
zum Yoga und in die Berge. Sogar in die
Oper und an Ostern zu den Großeltern.
Wir werden so froh sein, wenn all die
Beschränkungen, die uns das Coronavirus
vom Hals halten sollen, endlich wieder auf-
gehoben werden, dass wir den Tag, an dem
das passiert, zum neuen Nationalfeiertag
erheben werden. So jedenfalls prognosti-
ziert es Johannes Unger in seinem Beitrag
zur neuen Kurzfilmreihe4 Wände Berlin.
Stand jetzt wäre das der 20. April. Dann
also wäre Hitlers Geburtstag unser neuer
Nationalfeiertag.
Die soziale Isolation gebiert offenbar
fürchterliche Gedanken, das veranschau-
licht nun auch das Projekt4 Wände Berlin,
das derzeit auf Initiative des Rundfunks
Berlin-Brandenburg (RBB) entsteht. Die
ersten fünf dieser Kurzfilme waren bis
Sonntag zu sehen. Das bislang bevorzugte
Genre darin: Horror. Und auch wenn es
nicht immer danach aussieht – der Natio-
nalfeiertags-Vorschlag etwa kommt erst
einmal ganz unschuldig daher.
In jeweils 120 Sekunden inszenieren
Filmemacher aus der Hauptstadtregion
ihr Leben in häuslicher Einsamkeit, eine
Homestory in Krisenzeiten. 30 Filme sol-
len es werden, für jeden Tag im April einer.
Jeweils um 11Uhr wird eine neue Episode
veröffentlicht, auf den sozialen Kanälen
der Hörfunkwellen Radio Eins und RBB
Kultur sowie im Netz unter rbb-online.de.

Zudem werden sie in der Abendschau
gezeigt. Filmemacherinnen und Filmema-
cher wie Hans-Christian Schmid, Volker
Heise, Wim Wenders, Annekatrin Hendel,
Lutz Pehnert oder Mo Asumang sind die
prominentesten Beteiligten.
Johannes Unger, der die Abteilung
Dokumentation und Zeitgeschehen beim
RBB leitet und dort eher mit extremen
Langformaten wie den Dokuprojekten
24h Berlinund60 x Deutschlandbefasst
ist, bringt in seinem ZweiminüterBeschis-
sene Zeitendie Idee mit dem neuen Natio-
nalfeiertag auf. Nach Ironie klingt das
nicht, vielmehr ist der Gedanke ein ernst
zu nehmender Beleg dafür, dass Denken
Weite braucht. Denn auch wenn der Tag
der Befreiung nicht auf den 20.April fallen
sollte, haben wir Wichtigeres zu feiern als
den Umstand, dass wir mit all den Men-
schen, die uns schon früher auf die Nerven
gefallen sind, endlich wieder U-Bahn fah-
ren dürfen.

Das weiß auch Unger, der mit einer
Mischung aus Spott, Verzweiflung und Lar-
moyanz darauf reagiert, dass der Horizont
derzeit an den Wänden der eigenen Woh-
nung endet und manchmal gar nur bis zur
nächsten Perforation im Toilettenpapier
reicht. Den Hygieneartikel macht er zum
Fetisch, den die Kinder entweihen, indem
sie Rollen zum Büchsenwerfen aufstapeln.
Unger selbst trägt ihn wie eine Monstranz
durch die Wohnung und benutzt ihn, be-
schriftet mit essenziellen Botschaften, wie
ein wertvolles Papyrus – für den eigentli-

chen Zweck ist ihm das Toilettenpapier
längst viel zu schade.
Absichtsvoller hat der Schauspieler und
Regisseur Pierre Sanoussi-Bliss Humor
unter den Horror gemischt – und bösen.
Mit seinem Kurzfilm Papierkram hat
4 Wände Berlinbegonnen, in einer Hänge-
matte. Was soll sich schon geändert haben
durch Corona, erzählt Sanoussi-Bliss
schaukelnd einer Freundin am Telefon:
„Seit fünfeinhalb Jahren keinen Drehtag
mehr“, sagt er und ereifert sich über das
„persilgewaschene“ deutsche Fernsehen.
Dann geht er ins Innere, dort gehen die
Lichter aus.
Und im Dunklen spielt sich dieIliasin
Kürzestform ab, jedenfalls jener Teil mit
dem Trojanischen Pferd. Nach zwei Minu-
ten weiß man, dass man eines nie zum
Feind haben möchte: Klopapier.
In den besten Momenten ist das Film-
projekt Beleg dafür, dass in der Krise gute
TV-Momente entstehen können. Mitunter
aber zeigt sich, wie schwer es ist, in gerade
mal zwei Minuten eine packende Geschich-
te zu erzählen.
Viktoria Kleber scheitert inSchlafan-
zug und Solidaritätdaran, weil ihr Film kei-
nen doppelten Boden hat, keinen Kniff, kei-
nen Wendepunkt. Sie dokumentiert
schlicht ihren Alltag und hängt noch einen
Appell dran. Millionen Menschen machen
das so ähnlich auf Instagram.
Ein Spezialist für kurze Formen ist hin-
gegen Volker Gerling: Er stellt Daumenki-
nos her, mit denen er normalerweise auf
Wanderschaft geht. Das ist so wunderbar
aus der Zeit gefallen, dass man sich in sei-
nem FilmAuf die andere Seitetatsächlich
dorthin träumen kann: In eine Realität, in
der einen nichts anficht. Und sei es nur für
120 Sekunden.

Disney will die Ex-Herzogin Meghan Mark-
le für weitere Synchronjobs engagieren.
Der US-Konzern hat sie als Sprecherin laut
Medienberichten für drei weitere Doku-
mentationen verpflichtet. Seit Freitag ist
sie bereits als Erzählerin in einer Tierdoku
namensElefantenzu hören, die Kritiken
fielen wenig begeistert aus. Vor ihrer Hoch-
zeit mit dem britischen Prinz Harry war
Markle als Schauspielerin bekannt, vor al-
lem für ihre Rolle in der Anwaltsserie
Suits. Im Januar 2020 gab das Paar seinen
Rücktritt als Mitglieder der Königsfamilie
bekannt – sowie die Absicht, finanziell un-
abhängig zu werden. sz


Der Irak hat Reuters die Arbeit für drei Mo-
nate untersagt. Der Schritt folgte auf einen
am Vortag veröffentlichten Bericht der
Nachrichtenagentur, laut dem die Regie-
rung die Zahl der bestätigten Coronavirus-
Fälle zu niedrig angibt. Zudem verhängte
die Kommission für Medien und Kommu-
nikation, die Medienaufsichtsbehörde des
Landes, nach eigenen Angaben eine Strafe
von 25 Millionen Dinar (umgerechnet etwa
19 000 Euro). Reuters hatte berichtet, dass
mehreren Informanten zufolge die wahre
Zahl der bestätigten Covid-19-Fälle im
Irak zwischen etwa 3000 und 9000 liege.
Laut Gesundheitsministerium gab es an
Freitag 820 bestätigte Fälle. ap


Kleines Experiment: Was machen Sie,
wenn Sie zehn Minuten lang in der U-Bahn
sitzen? Oder im Wartezimmer beim Arzt?
Oder im Restaurant an der Bar? Die Wette
der einstigen Ebay- und HPE-Chefin Meg
Whitman und des früheren Disney-Stu-
dios-Vorstandes Jeffrey Katzenberg ist,
dass die meisten Leute antworten: „Ich zü-
cke mein Telefon.“ Sie wollen unterhalten
werden, aufgrund des kollektiven Auf-
merksamkeitsdefizits muss alles schnel-
ler, kürzer, kompakter sein, und genau des-
halb könnte das Streamingportal Quibi ein
Erfolg werden.

Das Start-up, dessen Programm am
Montag in den USA startet, hat eine Milliar-
de Dollar in Inhalte investiert, die exklusiv
für Smartphones produziert worden sind:
das Versteckte-Kamera-FormatPunk’d. Ei-
ne Reality-TV-Show, in der Jennifer Lopez
gemeinsam mit Promi-Freunden eine Mil-
lion Dollar an Bedürftige spendet. Den
ThrillerMost Dangerous Gamemit Liam
Hemsworth und Christoph Waltz. Chrissy
Teigen als Richterin bei Alltags-Zankerei-
en. Dokumentarfilme über Ariana Grande
und Ozzy Osbourne. Talkshows. Dating-
shows. Castingshows. Der Clou: Keine Fol-
ge dauert länger als zehn Minuten, perfekt
also für die Wartezeit in der U-Bahn.
Dumm nur: Es fährt gerade kaum je-
mand mit der U-Bahn. Viele Leute sitzen
wegen der Coronavirus-Pandemie da-
heim, es gelten andere Regeln, auch für
Langeweile und Aufmerksamkeitsspanne.
Quibi (der Name ist die Abkürzung von
„Quick Bites“, was sich mit „kurze Hap-
pen“ übersetzen lässt) startet mit insge-
samt 50 verschiedenen Formaten, die ers-
ten 90 Tage sind kostenlos (zunächst woll-
te Quibi nur zwei Wochen anbieten), da-
nach kostet es 7,99 Dollar – oder 4,99 Dol-
lar mit Werbung. Das Unternehmen hat
fürs erste Jahr bereits 150 Millionen Dollar
von Werbetreibenden wie Google und Pep-
si eingenommen.
„Es ist wahrscheinlich die beste und
schlechteste Zeit, so ein Portal auf den
Markt zu bringen“, sagt Rob Fishman,
Gründer der Youtube-Produktionsfirma
Brat TV: „Wahrscheinlich streamen die Leu-
te gerade mehr Inhalte als jemals zuvor –
aber es gibt weniger dieser Momente, auf
die Quibi gehofft hat, weil sie einfach weni-
ger unterwegs sind.“
Das zweite Problem: Konkurrenten ha-
ben ebenfalls einen Anstieg der Sehdauer

festgestellt, ihre Angebote ausgeweitet
(Disney Plus etwa nahmFrozen 2ins Pro-
gramm) oder vorgezogen (ESPN und Net-
flix zeigen ihre große Chicago-Bulls-Doku
schon am 19. April) – oder bieten ebenfalls
Sonderkonditionen (Netflix und Hulu sind
je einen Monat lang kostenlos).
Ist Quibi womöglich eine gute Idee zur
falschen Zeit?
„Natürlich geht es gerade drunter und
drüber“, sagt Katzenberg. Er habe mit
Whitman über die Möglichkeit gespro-
chen, den Start zu verschieben, sich dann
jedoch dagegen entschieden. „Es gibt die-
se Dazwischen-Momente noch immer:
nach dem Beantworten von Emails, nach
den Schularbeiten mit den Kindern, nach
einer Telefonkonferenz, nach dem Abend-
essen. Man kann das nicht alles ohne Pau-
sen bewältigen.“
Ohnehin ist Quibi, das von namhaften
Investoren wie Disney oder Alibaba 1,75
Milliarden Dollar eingesammelt hat, auf-
grund der Konzentration auf Zehn-Minu-
ten-Episoden eine riskante Wette. Es gibt
das traditionelle Geschichtenerzählen mit
Filmen (meist etwa zwei Stunden) und Se-
rien (25 oder 50 Minuten), und es gibt die
superkurzen Schnipsel auf Portalen wie
Snapchat, Instagram oder Tiktok. Das Pro-
gramm von Quibi ist zwar mannigfaltig,
bei der Dauer aber arg festgefahren. Es
wirkt ein bisschen wie der Versuch, allen
gefallen zu wollen – doch wer allen gefal-
len will, der gefällt am Ende niemandem
mehr. Und es wirkt wie der Versuch, unbe-
dingt ein neues Format (man kann zwi-
schen Hoch- und Querformat wechseln) zu
präsentieren – doch die Technikfirma Eko
behauptet, eben dieses Format erfunden
zu haben. Sie hat Quibi nun verklagt.

Wann es in Deutschland losgehen soll,
ist bislang nicht bekannt. In den USA wird
es jetzt jedenfalls ein schwieriger Start für
Quibi, das Stars wie Reese Witherspoon
und Steven Spielberg mit dem Verspre-
chen kreativer Freiheit gelockt hat und der
Garantie, dass die Produzenten die Rechte
an ihren Inhalten bereits nach sieben Jah-
ren zurückbekommen. Es muss eben alles
schnell gehen bei Quibi. Es dürfte aller-
dings dauern, bis klar ist, ob das Start-up
wirklich ein Erfolg ist. Denn entscheidend
dürfte nicht sein, wie viele Leute das Portal
in diesen Tagen testen – sondern wie viele
dann nach den 90 Tagen dafür bezahlen
wollen. jürgen schmieder

Viele Studios liegen brach – für Hörspiele
gilt derzeit meist dasselbe wie für Film-
und Serienproduktionen: wenig bis nichts
geht. Es herrscht Pause, Notbetrieb – und
wo es geht, wird kreativ improvisiert. Wie
bei dem ProjektZusammen Walden, das
der WDR auf die Schnelle mit dem Regis-
seur und Autor Andreas Ammer und den
Musikern Martin Gretschmann alias Acid
Pauli sowie Andreas Gerth und Florian Zim-
mer vom Duo Driftmachine auf die Beine
gestellt hat. Das Quartett inszeniert Henry
David Thoreaus BuchWalden oder Leben
in den Wäldern als ein zehnstündiges
Schwarmhörspiel. Das heißt: Wer möchte,
kann über die Website zusammen-wal-
den.de und mit seinem Rechner oder
Smartphone eine Seite des Textes einspre-
chen und hochladen.
Ist die Aufnahme verständlich und
entspricht dem Thoreau-Text, wird sie Teil
des Hörspiels. Sobald die ersten Audios vor-
liegen, mischen die vier Initiatoren Musi-
ken und Atmos mit den Stimmen und stel-
len sukzessive das Hörspiel fertig.
Der Text ist nicht zufällig gewählt: Der
amerikanische Schriftsteller hat in dem
1854 veröffentlichten Buch sein Leben als
Teilzeit-Aussteiger geschildert. Thoreau
hatte sich Mitte der 1840er für zwei Jahre
in freiwillige Quarantäne begeben, wenn
man so will: Er lebte in einer Blockhütte in
einem Wald bei Concord, Massachusetts,
allein und abseits der übrigen Zivilisation.
Der Text ist aber auch ohne die Corona-Kri-
se und vor dem Hintergrund der zuletzt
intensiv geführten Nachhaltigkeitsdebatte
aktuell: Im Zentrum des Buches steht die
Frage nach dem richtigen Lebensstil.
Thoreau hatte sie seinerzeit sehr radikal
beantwortet.
Zusammen Waldenist nicht das erste
Schwarmhörspiel, das Ammer, Gretsch-
mann, Gerth und Zimmer gemeinsam reali-
sieren. Auf die gleiche Weise haben sie be-
reits 2016 David Foster Wallace’s Roman
Unendlicher Spaßvertont: 1400 Laienspre-
cher haben sich damals beteiligt, die
79Stunden lange Audiofassung ist nach
wie vor unter unendlichesspiel.de zu hö-
ren. stefan fischer


DEFGH Nr. 81, Montag, 6. April 2020 (^) MEDIEN HF2 21
Und manchmal reicht der
Horizont nur bis zur nächsten
Perforation im Toilettenpapier
Auf kleinstem Raum
In Kurzfilmen von gerade mal 120 Sekunden erzählen Filmschaffende
von zu Hause aus Geschichten über die Corona-Krise
Lutz Pehnert begibt sich für4 Wände Berlinauf einen zweiminütigen Streifzug durch seine Wohnung.FOTO: 4 WÄNDE BERLIN /RBB
Keine Folge dauert länger als
zehn Minuten – perfekt geeignet
für die Fahrt mit der U-Bahn
Meghan Markle
spricht für Disney
Irak entzieht
Reuters Lizenz
Gute Idee zur
falschen Zeit?
Streamingportal Quibi startet mit Kurzformaten
Und
jetzt alle
WDR inszeniert H. D. Thoreaus
„Walden“ zum Mitmachen
Helferin im Akkord: Sängerin und Schauspielerin Jennifer Lopez verschenkt in ihrer
ShowThanks a MillionGeld an Menschen in Not. Keine Folge dauert länger als zehn
Minuten – so das Konzept der neuen Plattform Quibi. FOTO: QUIBI
Mit kreativer Freiheit wurden
Stars wie Reese Witherspoon
und Steven Spielberg gelockt
Lösungen vom Wochenende
SZ-RÄTSEL
69
52
1
74
75
43 8
1
34 6
6
3
4
9
81
5
Sudokumittelschwer
9 4 3
1 4
7 8
8 4 3
9 1
2 6
2 6 8
5 6
7 1 9
Die Ziffern 1 bis 9 dürfen pro Spalte und Zeile
nur einmal vorkommen. Zusammenhängende
weiße Felder sind so auszufüllen, dass sie nur
aufeinanderfolgende Zahlen enthalten (Stra-
ße), deren Reihenfolge ist aber beliebig. Weiße
Ziffern in schwarzen Feldern gehören zu kei-
ner Straße, sie blockieren diese Zahlen aber in
der Spalte und Zeile (www.sz-shop.de/str8ts).
© 2010 Syndicated Puzzles Inc. 6.4.2020
Schwedenrätsel
2936 7 1548
76584 2193
4183 59762
98 24153 7 6
1 3 42678 59
57 69832 1 4
3271 9 4685
8597 36421
6415 28937
Str8ts: So geht’s
2134 56
321 645
32 87 45
89 67 34
97856432
87 321
5634 89
46523 978
54 12 89
9
7
1
6
2
Str8tsleicht

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