Süddeutsche Zeitung - 06.04.2020

(Nora) #1
Manuela Schwesig musste schon auf Ab-
stand gehen, als Corona noch kein Thema
war. „Knuddelverbot“, nennt es die Minis-
terpräsidentin von Mecklenburg-Vorpom-
mern – sie wird seit einem guten halben
Jahr wegen ihrer Brustkrebserkrankung
behandelt. Nun, in Zeiten von Covid-19,
verlangt die SPD-Politikerin auch von ih-
ren Landsleuten so entschiedene Distanz,
dass es manchem Kritiker zu viel wird.
„Schaut euch diese krassen Fotos an!“,
twitterte Schwesig vor ein paar Tagen und
riet das vor allem jenen, „die sich fragen,
ob unsere Maßnahmen übertrieben sind“.
Es waren Fotos aus einer überfüllten In-
tensivstation in der norditalienischen
Stadt Bergamo.
Dennoch fragt sich der eine oder ande-
re Betroffene und Beobachter, ob das
dünn besiedelte Bundesland im deut-
schen Nordosten mit seinem Reglement
nicht über das Ziel hinausschießt. Für den
Tourismus ist Deutschlands beliebteste
Ferienregion wegen der Pandemie ge-
sperrt, die Polizei kontrolliert. Auch Zweit-
wohnungsbesitzer aus der Fremde muss-
ten vorübergehend abziehen. Über die Os-
terfeiertage sind sogar Einheimischen
Ausflüge an die Ostsee oder die Seenplat-
te verboten. „Niemand muss auf den Os-
terspaziergang verzichten“, sagt Schwe-
sig, doch möge man diesen bitte nahe der
eigenen Wohnung machen.
Die meisten Leute hielten sich doch an
die Regeln, entgegnet die Grünen-Landes-
vorsitzende Ulrike Berger. Deshalb müsse
man den Menschen doch jetzt nicht noch
vorschreiben, wo sie allein durch den
Wald oder am Strand spazieren gehen
dürften. Mecklenburg-Vorpommern mit
seinen 1,6 Millionen Bewohnern verzeich-
net, Stand Sonntag, laut Robert-Koch-In-

stitut 523 gemeldete Fälle von Covid-19.
Das sind 32 pro 100000 Einwohner, die
niedrigste Quote aller Bundesländer.
Dass die Lage schlimmer wird, will
Schwesigs rot-schwarzes Kabinett verhin-
dern, unter Androhung von Bußgeldern
und mit dem Angebot von Hilfe für jene,
die unter den rigiden Vorschriften leiden.
Die Ministerpräsidentin kennt den Preis.
Sie weiß, dass ihr Bundesland von Urlau-
bern lebt, 34 Millionen Übernachtungen
waren es 2019. Ein Milliardengeschäft
mit derzeit enormen Verlusten. Aber
Schwesig kennt auch besonders genau
den Wert von Gesundheit.

Regierungschefin wurde Schwesig im
Juli 2017, nachdem ihr Vorgänger Erwin
Sellering den Posten wegen eines Tumors
aufgegeben hatte. Sie räumte ihr Büro als
Bundesfamilienministerin in Berlin und
kehrte zurück nach Schwerin, wo sie
schon Stadtvertreterin und Landesminis-
terin gewesen war. Schwesig zählte zum
engsten Führungskreis der kriselnden So-
zialdemokratie, als SPD-Vize und zwi-
schenzeitlich gemeinsam mit Malu Drey-
er und Thorsten Schäfer-Gümbel als kom-
missarische SPD-Vorsitzende. Dann
machte sie im September 2019 öffentlich,
an Brustkrebs erkrankt zu sein. Ihre Bun-
desparteiämter legte sie nieder, Mecklen-
burg-Vorpommern und die Landes-SPD
führt sie weiter an. Nun kämpft sie gegen
die Ausbreitung von Corona – und ist, ob-
wohl erst 45, selbst Risikopatientin.
Sie halte sich bereits seit einem halben
Jahr an die Regeln, die jetzt für alle gelten,
sagt Schwesig. Den Großteil ihrer Krebs-
therapie habe sie hinter sich, ihr Immun-
system sei „schon wieder wesentlich fit-
ter.“ Klar, es bleibe ein Restrisiko, aber
Schwestern, Ärzte oder Verkäufer hielten
den Laden am Laufen, da müsse natürlich
auch sie als Ministerpräsidentin präsent
sein.
Ihr „Knuddelverbot“ wurde also sozu-
sagen landesweit eingeführt und verlän-
gert. Quer durch das Touristenland Meck-
lenburg-Vorpommern, derzeit weitge-
hend ohne Urlauber. Mit Reden und
Tweets schwört Schwesig ihre Landsleute
auf den Ernst der Lage ein. Via Twitter
empfiehlt sie mal ein Konzert des Meck-
lenburgischen Staatsorchesters im Netz
und mal einen Videogruß von der Ostsee.
Ostsee? „Hoffentlich“, schreibt sie, „im
Sommer wieder“. peter burghardt

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von constanze von bullion

W


enn am Montag das Corona-Ka-
binett tagt, wird es mal wieder
um Grenzen gehen. Gemeint
sind zunächst die Landesgrenzen, an de-
nen Innenminister Horst Seehofer weite-
re Kontrollen einführen will. Mitverhan-
delt werden aber auch die Grenzen des
Verantwortbaren. Denn die Bundesregie-
rung gerät jede Woche tiefer in ein Dilem-
ma. Schritt für Schritt muss sie entschei-
den, wie viele Menschenleben geopfert –
oder mindestens einem hohen Risiko aus-
gesetzt – werden, damit die Jungen und
Gesunden beizeiten in den Normalbe-
trieb zurückkehren können.
Selbstverständlich wird das so nicht
kommuniziert. In kleinen Portionen ser-
viert die Bundesregierung seit Wochen
ein Potpourri von Entscheidungen mit
wechselnden Botschaften. Erst wurden
Grenzkontrollen eingeführt für Reisende
aus Corona-Risikogebieten. Die Bot-
schaft: Wir müssen die Menschen in
Deutschland schützen, auch wenn hohe
Werte wie die Freizügigkeit Schaden neh-
men. Die Entscheidung war mit Brüssel
nicht abgestimmt, eine gemeinsame eu-
ropäische Grenzpolitik ist derzeit so illu-
sorisch wie Salatanbau auf dem Mars.
Trotzdem ist es im Grundsatz richtig,
die Bewegungsfreiheit empfindlich einzu-
schränken. Wer hier nur auf Freiwillig-
keit setzt, würde spätestes an Ostern mer-
ken, dass viele eben doch kleine Fluchten
suchen, ob beim Ausflug ins Nachbar-
land, an die Ostsee oder in die Berge. Gera-
de für die reiselustigen Deutschen fühlen
sich solche Verbote an wie Menschen-
rechtsverletzungen. Aber wo Entspan-
nung Leben gefährdet, sind sie nötig.
Nur sendet die Bundesregierung eben
widersprüchliche Signale. Flugreisende
aus dem von Corona schwer getroffenen
Iran etwa mussten über Wochen nur ein
Aussteigekärtchen ausfüllen, ein schlech-

ter Witz. Erntehelfern aus Rumänien wur-
de die Anreise per Flieger erst verboten,
dann mit Auflagen doch erlaubt. Schließ-
lich darf der deutsche Spargel nicht ver-
kommen. Und nachdem der Gesundheits-
minister eine fahrlässige Debatte über ei-
ne Exit-Strategie anstieß, die es nicht
gibt, wird das Volk nun – zu Recht – dar-
auf eingestimmt, dass auch nach Ostern
nicht einfach Schluss sein kann mit den
belastenden Kontaktverboten.
Auch Regierende sind Lernende in der
Pandemie. Das sei ihnen zugestanden.
Unerträglich aber ist, was der Zickzack-
kurs verdeckt. Mit jeder Woche wächst
der Druck, in Not geratene Unternehmen
nicht untergehen zu lassen, ebenso wie
die Kunst, den Sport, soziale Einrichtun-
gen oder Menschen, die die Einsamkeit
nicht mehr ertragen.

Der Regierung liefert all das Gründe,
Kontaktbeschränkungen nach und nach
zu lockern. Dann aber muss sie auch sa-
gen, wer den Preis der Freiheit zahlen
wird: die Risikogruppen, die Alten, Kin-
der mit Behinderung, Herz- und Asthma-
patienten, Diabetiker. Jeder wiedergeöff-
nete Laden erhöht ihr Risiko, tödlich zu er-
kranken, selbst wenn es Atemschutzmas-
ken für alle geben sollte. Auch der Plan,
Gefährdete bei einem Neustart strikt zu
„schützen“, ist nichts als Schönrednerei.
In jedem Heim geht Personal ein und
aus, totale Isolation gibt es nicht. Und Mil-
lionen Menschen aus Risikogruppen bis
zum nächsten Jahr in ihre Wohnung sper-
ren zu wollen, ist so grausam wie unrealis-
tisch. Kommt die Lockerung lange vor
dem Impfstoff, beginnt das kalkulierte
Sterbenlassen. Die Regierung sollte den
Mut haben, das auch auszusprechen.

von cathrin kahlweit

A


ls Keir Starmer ins Rennen um die
Führung der Labour Party einstieg,
galten seine Chancen als mager. Sei-
ne Presse war nicht gut; er sei hölzern, un-
charismatisch, zu sehr Anwalt, zu wenig
Popstar. Ein Blairite, also ein Anhänger
des seit dem Irak-Krieg verhassten Ex-
Premiers Tony Blair, und ein Zentrist oh-
ne erkennbar linke Ausrichtung. So einer
werde die große, alte Partei nicht erobern


  • nicht nach fünf Jahren unter dem Sozia-
    listen Jeremy Corbyn und nicht, nachdem
    sich eine linke Grassroots-Bewegung in
    den Strukturen festgesetzt und die Füh-
    rung übernommen habe. Wenn er siegen
    würde, hieß es, dann nur, weil seine bei-
    den Gegenkandidatinnen unerfahrener,
    weniger greifbar, weniger sichtbar waren.
    Tatsächlich waren die Zuschreibungen
    falsch und die Einschätzung der Stim-
    mung an der Basis war es ebenso. Wenn es
    einer schaffen konnte, die Mehrheit der
    enorm frustrierten Linken hinter sich zu
    vereinen, dann war es Starmer, der Men-
    schenrechtsanwalt. Sein deutlicher Sieg
    ist der Beweis dafür, dass Parteien ein Ei-
    genleben haben, und dass vier verlorene
    Wahlen hintereinander sowie das schlech-
    teste Wahlergebnis seit 1935, das die Par-
    tei bei der jüngsten Parlamentswahl ein-
    fuhr, gereicht haben: So sollte, so konnte
    es nicht weitergehen. Ruhe sollte einkeh-
    ren, der Antisemitismus in der Partei soll-
    te endlich glaubwürdig und entschieden
    bekämpft werden, und es durfte auch ru-
    hig ein Mann aus London sein. Alle Debat-
    ten über Geografie und Gender im Vorfeld
    der Urwahl erwiesen sich als Fetisch der
    hauptstädtischen Politikblase. Worum es
    ging, waren Erfahrung und Kompetenz.
    Corbyn hat die Partei fünf Jahre lang ge-
    führt, aber die rauschhafte Phase, in der
    er eine regelrechte Corbynmania ausge-
    löst hatte, ist längst vorbei. Offenbar hatte
    Labour eine Zeitlang genau das ge-


braucht, während die Tories das Land mit
ihren Eton-und Oxbridge-Absolventen in
blinder Arroganz durch die Austerität und
in den Brexit steuerten: die kollektive Be-
geisterung für einen Mann, der als befrei-
ungsbewegter Antifaschist und sozialisti-
scher Rebell galt – und damit als Gegen-
modell zum regierenden Establishment.
Aber das reichte nicht, um Wahlen zu
gewinnen und einen charmanten Populis-
ten wie Boris Johnson in die Schranken zu
weisen. Corbyn war dafür zu schwach,
sein Kurs spaltete die eigene Partei.

Starmer, 57, hat jetzt alle Chancen –
auch wenn die globale Krise die Kräfte bin-
det, und der Fokus gerade nicht auf dem
politischen Alltagsgeschäft einer Oppositi-
on liegt, sondern auf der gemeinsamen na-
tionalen Anstrengung. Er ist ein prinzipi-
entreuer Pragmatiker, ein ehrlicher Mak-
ler, sachorientiert, engagiert, fokussiert.
Selbst seine Gegner, die ihm mangelndes
Charisma vorwerfen, beschreiben ihn so.
Offenbar fand eine überwältigende Mehr-
heit der Labour-Mitglieder, aber auch von
stimmberechtigten Gewerkschaftern und
Sympathisanten, dass es endlich wieder
Zeit ist für einen, der Wahlen gewinnen
kann und will. Und für einen, der die Regie-
rung um Bumbling Boris, um den oft unzu-
verlässigen, ausweichenden Premier, pro-
fessionell herausfordert.
Starmer ist, anders als es Corbyn war,
überzeugter Europäer, hat im politischen
Hotspot Nordirland politische Erfahrun-
gen gesammelt, war mit 45 schon Staats-
anwaltschef von England und Wales und
machte eine Blitzkarriere im Unterhaus.
In seinem ersten Fernsehinterview zeigte
er sich höchst selbstbewusst. Sein Ziel:
Downing Street, spätestens 2024.

B


ayern zahlt seinen Pflegekräften ei-
nen Bonus von 500 Euro. Das hat
Ministerpräsident Markus Söder
angekündigt, natürlich als Erster in
Deutschland. Eine Anerkennung in Coro-
na-Zeiten soll die Zahlung sein, steuerfrei
und aus dem Staatshaushalt, „vorläufig
einmalig“, Wiederholung also nicht ausge-
schlossen.
Es ist eine Geste, eine schöne und gute,
die freilich nichts an den grundlegenden
Problemen ändert: Den Pflegekräften
fehlt es an Schutzkleidung. Auch wenn im-
mer mehr Firmen Masken herstellen, ist
der Nachschub längst nicht gesichert. Das
Personal in Krankenhäusern und Pflege-
heimen ist knapp und die Belastung hoch.


So war es schon vor der Corona-Krise, und
wenn nun Schwestern und Pfleger ausfal-
len, ist ihre Arbeitskraft umso schwerer
zu ersetzen. Der Verdienst ist noch immer
zu gering, auch wenn Menschen in Pflege-
berufen gerade endlich mehr Anerken-
nung bekommen und täglich Leute vom
Balkon klatschen. All das muss gelöst wer-
den, damit Pflegeberufe auch für Men-
schen attraktiv werden, die nicht nur von
Idealismus getrieben sind.
Söders Geste ist dennoch richtig.
126 Millionen Euro lassen sich in Bayerns
Haushalt problemlos verbuchen. Der Ak-
zeptanz der Bevölkerung kann sich Söder
sicher sein. Und eine Geste wirkt in diesen
Zeiten durchaus positiv. katja auer

E


s klang mitunter, als seien erhebli-
che Teile der Bevölkerung, vor al-
lem Einwohner der Städte, so etwas
wie ein Viren verschleudernder, von Trotz
und Unvernunft getriebener Freizeitmob.
Als genügte die Sonne eines schönen Früh-
lingswochenendes, diese Menschen zu
kopflos ins Freie preschenden Gipfelstür-
mern, Ufergrillern und Freiluftzechern zu
machen, welche das Land heimsuchen
wie ein fünfter Reiter der Apokalypse. Als
feiere die Jugend in hyänenhafter Gleich-
gültigkeit Corona-Partys, bis dann wirk-
lich der Arzt kommt.
Alles davon, fast alles, war schwer über-
trieben. Zahl und Ausmaß der Verstöße ge-
gen die Corona-Auflagen, welche die Poli-


zei am Wochenende meldete, sind über-
schaubar. Die Vernunft der Bürger steht
in Kontrast zu all den hysterischen Bürger-
meistern und Landespolitikern, die Mit-
bürger zum Aufschreiben auswärtiger Au-
tokennzeichen anstiften und bedenken-
los noch drakonischere Einschränkungen
der Freiheitsrechte fordern.
Dabei gehen diese Einschränkungen
schon sehr weit. Die überwältigende Mehr-
heit der Deutschen vertraut darauf, dass
sie mit der Pandemie wieder enden, und
akzeptiert die Bürde vielleicht nicht klag-
los, aber in beachtlicher Solidarität. Es ist
eine Solidarität, wie sie jene vermissen las-
sen, die den eigenen Bürgern so wenig Ver-
nunft zutrauen. joachim käppner

D


ie US-Regierung schnappt Berlins
Polizei 200 000 Atemschutzmas-
ken weg – unter dem irrlichtern-
den Präsidenten Donald Trump passte die-
se Meldung ziemlich gut. Vermutlich des-
halb fühlten sich Berlins Regierender Bür-
germeister Michael Müller und sein Innen-
senator dazu ermuntert, den USA sogleich
massive Vorwürfe zu machen. Doch pein-
lich ist der Vorgang nun vor allem für Ber-
lin, als Irrlichter stehen der Bürgermeis-
ter und der Senator da.
„Unmenschlich und unakzeptabel“, ein
„Akt moderner Piraterie“ – harscher als
die beiden Berliner Politiker es getan ha-
ben, kann man ein anderes Land kaum kri-
tisieren. Jetzt zeigt sich, dass sie auf sehr


poröser Basis geurteilt haben. Möglicher-
weise ist beim Umladen der Masken in
Bangkok nur etwas schiefgelaufen. Die
Berliner Polizei ermittelt nun selbst, auch
das Außenministerium ist eingeschaltet.
Selbst wenn sich der Verdacht noch bestä-
tigen sollte, die Schelte kam zu schnell.
Die Voreile ist um so ärgerlicher, da die
Corona-Politik des Senats zuletzt gut lief.
Die rot-rot-grüne Koalition hat über die
nun gültigen Restriktionen konstruktiv
gestritten, die Polizei setzt sie maßvoll
durch, in keinem anderen Bundesland be-
kamen Selbständige so schnell ihre Unter-
stützung. Doch die haltlos gemachten An-
schuldigungen sind das, was jetzt erst mal
hängen bleibt. jan heidtmann

S


eit zehn Jahren quält sich Euro-
pa mit einem Problem, das zu
groß ist, als dass es einfach so ver-
schwinden würde: Wie sorgt
man für wirtschaftliche Gerech-
tigkeit auf einem Kontinent, auf dem zwar
mit denselben Münzen bezahlt, aber nicht
nach denselben finanzpolitischen Geset-
zen gehandelt wird? Steuern, Sozialsyste-
me, Ausgaben für Bildung oder Wissen-
schaft: Europa isteinWirtschaftsraum
und verfügt in 19 Staaten übereineWäh-
rung. Was aber jedes Land mit dieser Seg-
nung anstellt, unterliegt der Weisheit der
jeweils amtierenden Regierung.
Vor gut zehn Jahren hat die Staatsschul-
denkrise diesen Konstruktionsfehler gna-
denlos offengelegt. Zu viel Verschuldung
bedeutet zu viel Risiko bei neuen Kredi-
ten, mit fataler Wirkung für Banken und
Industrie. Reparaturvorschläge gab es vie-
le, allein es fehlt die Kraft, den Staaten der
Euro-Zone eine Kur zu verordnen.


Im Reparaturset erfreut sich seitdem
die Idee einer gemeinsamen europäi-
schen Schuldenpolitik großer Beliebtheit,
vor allem bei jenen Staaten, die in ihrer
ökonomischen Tradition allemal etatis-
tisch denken und die Währung als Hebel
der Wirtschaftspolitik ansehen. Gemein-
same Schulden, gemeinsame Haftung –
das wäre doch ein echtes Signal europäi-
scher Solidarität, heißt es. Eine Schnaps-
idee sagen alle anderen Staaten, die ihre
gute Bonität mit einer guten Wirtschafts-
politik unter Kontrolle halten wollen.
Dieser ordnungspolitische Konflikt ist
schwer lösbar. Unlösbar scheint er jetzt zu
werden, in der größten ökonomischen Kri-
se, die Europa (und den Rest der Welt) in
der modernen Geschichte gepackt hat.
Das Wort von den Bonds, den gemeinsa-
men Verschuldungspapieren, ist toxisch
geworden, vor allem in der hässlichen Ver-
bindung mit dem Covid-19-Virus. Corona-
Bonds sind giftig, weil der Begriff vom ers-
ten Moment an wie ein Schwert geführt
wurde. Corona-Bonds sollen Europa tei-
len in die moralisch verantwortungsbe-
wussten und in egoistische Staaten. Coro-
na-Bonds werden als Allzweckwaffe ge-
gen eine kollabierende Wirtschaft und als
Symbol der Solidarität gehandelt. All das
ist bestenfalls halbwahr und gefährlich.
Es ist also höchste Zeit, abzurüsten und
sich der Realität zu stellen, die weitaus
komplexer ist, aber auch mehr Anlass zur
Hoffnung gibt, als es das Lamento vom gei-
zigen Norden und dem kollabierenden Sü-
den nahelegt.


Europa blutet an allen Körperteilen, die
medizinischen Systeme in vielen Ländern
sind überfordert, die Volkswirtschaften
stehen still. Wie und wann sie wieder an-
springen, kann heute niemand sagen.
Hierauf hat die Finanzpolitik erst mal wie
ein Notarzt reagiert. Die Kommission be-
teiligt sich an der Finanzierung der Be-
schäftigten, die kaum oder keine Arbeit
mehr haben, und hat die strengen Ver-
schuldungsregeln aufgehoben. Die Euro-
päische Zentralbank signalisiert allen Spe-
kulanten mit einem Notkaufprogramm
von 750 Milliarden Euro Stärke. Die Euro-
päische Investitionsbank soll 50 Milliar-
den mobilisieren. Der Notfonds ESM mit
Reserven von 420 Milliarden Euro könnte
seine Vorschriften so lockern, dass die als
erniedrigend empfundene Aufsicht – im
Fall Griechenlands die Troika – wegfällt.
Ja, Corona ist nicht selbst verschuldet, je-
der ist betroffen. Hilfe darf also nicht als
Diskriminierung empfunden werden.
Bereits jetzt hat die Notfallversorgung
den Effekt, dass trotz der sich abzeichnen-
den Verschuldung die Zinsen niedrig blei-
ben. Italien hat erfolgreich Staatsanleihen
platziert. Die schlimmste Blutung scheint
also zunächst gestoppt zu sein.
Der entscheidende Schritt steht nun be-
vor, und auch den werden nur alle Euro-
Länder gemeinsam gehen können: Wie
wird der Binnenmarkt wieder zum Leben
erweckt, wie organisiert und finanziert
man den Wiederaufbau?
Es ist fast schon eine Fügung, dass die
EU ihren Haushaltsplan für die nächsten
Jahre auf den letzten Drücker entscheiden
muss. Dieser Haushalt muss nun zum Ret-
tungsprogramm umfunktioniert werden.
Er kann zum symbolischen Wiederaufer-
stehungsprogramm für den Kontinent
werden. Europa braucht diese starke Sym-
bolik, die EU muss angesichts einer kolla-
bierenden Weltordnung ihre Idee einer
funktionierenden Staatengemeinschaft
mit Leben und mit Geld füllen. Nicht nur
der italienische Hilferuf zeigt, welche Hoff-
nung in Europa gesetzt wird.
Falsch aber wäre es, bei der Arbeit am
Wiederaufbauprogramm die ideologi-
schen Schlachten von gestern zu führen.
Der Begriff Corona-Bonds ist eine Hülse,
eine Gestaltungsidee steckt nicht dahin-
ter. Bonds gibt es übrigens bereits. Sowohl
der unmittelbare Notarzteinsatz wie auch
der nächste Haushalt werden natürlich
kreditfinanziert sein. Die Strukturfehler
der Euro-Zone verschwinden aber nicht,
wenn man sie mit geborgtem Geld zu-
schüttet. Wer deswegen heute nach Coro-
na-Bonds ruft, der bearbeitet vielleicht
ein Trauma aus der Griechenland-Krise
oder kämpft für eine Ordnung, die mehr
ideologisch als ökonomisch begründet ist.
Ein Post-Corona-Europa baut er nicht.

Tausende tanzende Lichter
am Nachthimmel – Drachen-
steigen ist am chinesischen
Fest Qingming vielerorts im-
mer noch Tradition. Dafür
werden an den Fluggeräten Leuchtkör-
per befestigt, die dann still durch die
Nacht schweben. Das Totengedenkfest
Qingming selbst wird in vielen asiati-
schen Ländern gefeiert, in denen Men-
schen mit chinesischen Wurzeln leben. In
China findet es jeweils zwischen dem 4.
und 6. April statt. Die Menschen besu-
chen tagsüber die Gräber der Verstorbe-
nen, reinigen sie, bringen Lebensmittel
und Blumen. Wer gestorben ist, ohne sei-
ne Sünden zu beichten, darf im Jenseits
nur am Qingming-Fest speisen, heißt es.
Die Menschen glauben, dass ihre Vorfah-
ren Einfluss auf die Lebenden nehmen
können. So verbrennen sie am Qingming-
Fest Geld, Autos und Luxusgüter aus Pa-
pier, um ihre Ahnen milde zu stimmen.
Manchmal wird auch eine Gefährtin oder
ein Gefährte aus Papier mitgeschickt. Die-
ses Jahr hat Chinas Regierung am Wo-
chenende strenge Regeln für die Trauer
angeordnet. Im Netz mussten Termine
am Friedhof gebucht werden, am besten
sollten die Menschen zu Hause bleiben,
um Ansteckungen mit dem Coronavirus
zu verhindern. Die Menschen sollten lie-
ber digital trauern. Zudem stand das
Land am Samstag drei Minuten in Geden-
ken an die Corona-Opfer still. lde

(^4) MEINUNG Montag, 6. April 2020, Nr. 81 DEFGH
FOTO: JENS BÜTTNER/DPA
CORONA


Regieren heißt lernen


LABOUR

Endlich wieder gewinnen


PFLEGE-BONUS

Richtige Geste


FREIZEIT

Vernunft und Unvernunft


HAUPTSTADT

Berliner Irrlichter


Schutz gegen Corona sz-zeichnung: oliver schopf

EUROPA


Ja, es gibt Hoffnung


von stefan kornelius


AKTUELLES LEXIKON


Qingming


PROFIL


Manuela


Schwesig


Risikopatientin
im Einsatz für
harte Corona-Regeln

Jeder wiedergeöffnete Laden
erhöht das Risiko für Alte oder
Menschen mit Behinderung

Starmer ist, anders als es
Corbyn war,
überzeugter Europäer

Aus der Krise kann ein


Wiederauferstehungsprogramm


für den Kontinent erwachsen

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