Süddeutsche Zeitung - 06.04.2020

(Nora) #1
Rom –Aus dem Süden Europas erhebt
sich ein lauter Ruf, gerichtet an alle Part-
ner in der EU: Jetzt oder nie. Angestimmt
wird er von drei Ländern, die von der Pan-
demie besonders stark getroffen sind – Ita-
lien, Spanien und Frankreich. In Italien
spricht man bereits vom „Fronte mediter-
raneo“, der Front des Mittelmeers. Auch
das Wort „Achse“ zwischen Rom, Paris und
Madrid wird schon bemüht, obschon der
Begriff normalerweise geografisch und his-
torisch anders besetzt ist. Aber was ist
schon normal gerade?
Der Streit über die wirtschaftliche Ant-
wort auf die Folgen von Corona geht in eine
entscheidende Woche. Noch stehen sich
die Gegner einer Vergemeinschaftung von
Schulden (insbesondere Deutschland, die
Niederlande und Österreich) scheinbar un-
versöhnlich gegenüber mit den südlichen
Fürsprechern. „Europa riskiert den
Bruch“, schreibt Spaniens Premier Pedro
Sánchez in einem offenen Brief, den die rö-
mische ZeitungLa Repubblicapublizierte.

Es ist ein Plädoyer geworden gegen „alte
Dogmen“ und für „großes Denken“. „Ohne
Solidarität untereinander gibt es keine Ko-
häsion, ohne Kohäsion entfremden wir
uns, und das würde das europäische Pro-
jekt schwer beschädigen.“ Für Dienstag ist
eine Videokonferenz der Wirtschafts- und
Finanzminister der Euro-Gruppe geplant.
Sie wird alle möglichen Lösungen prüfen,
so steht es in der Aufgabenstellung. Am
Donnerstag soll dann eine Videositzung al-
ler Staats- und Regierungschefs folgen –
falls die Südallianz die Verhandlungen
nicht vorher abbricht. Gibt es nämlich kei-
ne Diskussionen über „Corona-Bonds“
oder wie man eine Aufwendung auch nen-
nen mag, die von allen 27 Ländern getra-
gen würde, müsste der Europäische Rat
wohl auf nach Ostern verschoben werden.
Es ist ja nicht so, dass man zum Beispiel
in Rom fände, Europa sei untätig: Die Aus-
setzung des Stabilitätspakts, die Zulas-
sung von Staatshilfen, das Kurzarbeitspro-
gramm „Sure“ der EU-Kommission über
100 Milliarden Euro, der Fonds der Euro-
päischen Investitionsbank für die Unter-
nehmen über 200 Milliarden Euro, das Pro-
gramm der Europäischen Zentralbank für
den Aufkauf von Staatsanleihen – und all
die Dinge, auf die Finanzminister Olaf
Scholz und Außenminister Heiko Maas am
Wochenende in einem Artikel für Zeitun-
gen von Portugal bis Griechenland wieder
hingewiesen haben: das alles nimmt man
im Süden durchaus wahr. „Aber das reicht
nicht“, schreibt auch Sánchez. Die Heraus-
forderung sei sehr viel größer, als es die
Mittel seien, die bisher versprochen wur-
den. In diesem Zusammenhang fällt nun
oft ein anderer historisch vorbelasteter Be-

griff: Marshall-Plan. Wie nach dem Krieg,
als die USA für Westeuropa ein großes Pa-
ket für den Wiederaufbau auflegten, sei
nun wieder Zeit für eine Sonderanstren-
gung, diesmal Europa für Europa. Auch EU-
Kommissionspräsidentin Ursula von der
Leyen schrieb in einem Beitrag in derWelt
am Sonntagvon der Notwendigkeit eines
„Marshall-Plans für Europa.“ Dafür müsse
der EU-Haushalt angepasst werden.
Bisher zeigten sich die Gegner gemein-
samer Staatsanleihen höchstens bereit,
über einen modifizierten Zugang zum Eu-
ropäischen Stabilitätsmechanismus zu re-
den. Der ESM vergibt in der Regel nur Dar-
lehen und knüpft sie an harte Bedingun-
gen. Italien und Spanien aber mögen in der
Viruskrise, die sie selbst nicht verschuldet
haben, keine Konditionen wie in einer klas-
sischen Schuldenkrise hinnehmen.
Frankreich wiederum hat einen Vor-
schlag aufgebracht, der wie ein Kompro-
miss anmutet und seinen Präsidenten Em-
manuel Macron in die Rolle eines „Züng-
leins an der Waage“ bringt, wie es derCor-
riere della Seraanmerkt: Um die Falken zu
beruhigen, die sich vor einer schleichen-
den Einführung von dauerhaften Euro-
bonds fürchten, soll der Fonds für die Über-
windung der Rezession klar als einmalig
deklariert und mit Fristen versehen wer-
den. Die Italiener und die Spanier wären
einverstanden. Die Frage ist dann aber, wie
üppig dieser Fonds ausgestattet wäre: In
Rom hält man tausend Milliarden Euro für
einen angemessenen Betrag.
Derweil bestätigte sich in den zwei Län-
dern der Trend zu einer Stabilisierung der
Zahlen, auf hohem Niveau. In Spanien
stieg die Zahl der Toten am Sonntag um
674 und damit etwas weniger stark als in
den zehn Tagen davor; insgesamt sind dort
bisher 12 418 Menschen an dem Virus ge-
storben. In Italien kamen am Sonntag 525
weitere Opfer hinzu, insgesamt sind es
nun 15 887.oliver meiler  Seite 4

Washington –Wenigstens die giftigen
E-Mails verschicken sie noch. „Joe Biden
wäre die schlechteste Wahl, um das Land
aus dieser Krise zu führen!“, schreibt Do-
nald Trumps Mediensprecher. Kurz dar-
auf, als Antwort quasi: „Wir brauchen im
Weißen Haus endlich einen Leader, der die
Wahrheit sagt“, schreibt Joe Bidens Wahl-
kampfchef. Im Posteingang geht der Präsi-
dentschaftswahlkampf weiter, so als wäre
nichts geschehen. Aber sonst? Ist alles an-
ders. Keine Analysen über die Kandidaten
in den Zeitungen, keine Reportagen über
Wähler im Hinterland, sogar die obsessive
Beschäftigung mit Meinungsumfragen ist
verschwunden, zumindest fast. Die Coro-
na-Pandemie hat den größten und teuers-
ten Wahlkampf der Welt eingefroren. Do-
nald Trump schwört die Nation auf schwe-
re Zeiten ein, sagt, es werde in den nächs-
ten zwei Wochen „viele Tote geben, leider“
und schickt das Militär in besonders betrof-
fene Krisenregionen wie etwa New York.
Klar, dass die Demokraten da Mühe haben,
noch aufzufallen.
Biden wird wohl im Herbst als Kandidat
der Demokraten gegen Trump antreten.
Ganz sicher ist das nicht, weil die Partei
fast alle noch ausstehenden Vorwahlen in
den Sommer verschoben hat. Auch der No-
minierungsparteitag wurde nun von Juli in
den August verlegt. Das erlaubt es dem
Linkspolitiker Bernie Sanders, weiterhin
im Rennen zu bleiben, obwohl sein Rück-
stand auf Biden kaum mehr einzuholen ist.
Biden gegen Trump: Das wird also die Ge-
schichte dieses Wahljahres, das wäre sie zu-
mindest, wenn die Pandemie nicht alles
überlagerte.
Die Gegner des Präsidenten machen an-
gesichts dieser Tatsache einen etwas hilflo-
sen Eindruck. All die sorgfältig zurecht ge-
legten Argumente und Strategien gegen
Trump seien jetzt hinfällig, schreibt das
Magazin Politico: „Trumps Wiederwahl
hängt jetzt einzig von seinem Umgang mit
der Corona-Krise und ihren Folgen ab.“
Bidens Problem – so stellen es zumin-
dest die meisten Kommentatoren dar – ist,
dass er in der Corona-Krise nicht vor-
kommt. Während der Präsident mit sei-
nem täglichen Pressebriefing aus Washing-
ton ein Millionenpublikum erreicht, steckt
Biden in seinem Haus in Delaware fest.
„Sie haben mir eine neue Glasfaserleitung
installiert“, erzählte der 77-Jährige kürz-
lich. Damit hat er aus seinem Keller ein pro-
visorisches TV-Studio gemacht. Dort hält
er vor einer Bücherwand Ansprachen, un-
terhält sich mit Anhängern und hat auch ei-
nen Podcast mit Gästen. Meistens kriti-
siert der frühere Vizepräsident von Barack

Obama dort die späte Reaktion der Trump-
Regierung auf die Pandemie, die fehlende
Ausrüstung für das Gesundheitspersonal
oder die diversen Falschaussagen des Prä-
sidenten. Die Zugriffszahlen sind aller-
dings bescheiden. Bei einem Videochat mit
Unterstützern schauten vergangene Wo-
che gerade einmal 2236 Leute zu – Zahlen,
die selbst manchem Lokalpolitiker pein-
lich wären.

Vielleicht – und das ist die andere Lesart


  • ist es aber auch gar nicht wichtig, was Bi-
    den mehr als ein halbes Jahr vor den Wah-
    len sagt und tut. Die Amerikanerinnen und
    Amerikaner werden Trump wohl tatsäch-
    lich eher daran messen, ob es seine Regie-
    rung schafft, die Pandemie in den Griff zu
    bekommen. Ob sie es schafft, die Bundes-
    staaten doch noch rechtzeitig mit Beat-
    mungsgeräten und Schutzmasken auszu-
    statten. Und ob sie es schafft, den Millio-
    nen von Menschen zu helfen, die nun ihre
    Arbeit verloren haben.


Die Probleme der Regierung sind dabei
offensichtlich. Es gibt bei den Demokraten
aber unterschiedliche Ansichten darüber,
wie sehr sie diese Probleme ansprechen sol-
len. Leute wie der frühere Obama-Stratege
David Axelrod warnen davor, dass zum jet-
zigen Zeitpunkt zu viel Kritik schädlich sei
für die Demokraten – weil es damit so aus-
sehe, als wolle die Opposition aus der Krise
politischen Gewinn ziehen.
Die Parteiführung um Nancy Pelosi
scheint diese Bedenken nicht zu teilen.
Dass Trump die Krise zu Beginn bestritten
und geleugnet habe, sei „tödlich“, sagte die
Sprecherin des Repräsentantenhauses:
„Während er herumtrödelt, sterben Leu-
te.“ Am Donnerstag kündigte Pelosi an, ei-
nen mit weitreichenden Kompetenzen aus-
gestatteten Sonderausschuss einzusetzen,
der die Arbeit der Regierung laufend über-
wachen soll. Es bestehe die Gefahr, dass
Geld aus dem Zwei-Billionen-Dollar-Ret-
tungspaket in falsche Hände gerate.
Und die Umfragen? Sie sprechen derzeit
eher für die Demokraten. Nach einer Erhe-
bung von ABC News und Ipsos vom Freitag
beurteilt eine Mehrheit der Amerikaner
Trumps Krisenmanagement negativ. Aber
bis Herbst ist noch Zeit. alan cassidy

Kopenhagen –In Schweden bahnt sich ein
Kurswechsel an. Der Sonderweg des Lan-
des in der Corona-Krise, der mehr auf Ap-
pelle denn auf Restriktionen setzt, könnte
bald ein Ende haben. Die Regierung ver-
handelte am Wochenende mit den Opposi-
tionsparteien überraschend über Not-
standsbefugnisse. Offenbar setzt die
schnell steigende Zahl der Infizierten die
Regierung unter Druck. Ministerpräsident
Stefan Löfven sagte der ZeitungDagens Ny-
heter(DN), die Schweden müssten sich dar-
auf vorbereiten, dass die Zahl der Toten
bald „in die Tausende“ gehe. Mit ihrer neu-
en Linie gebe die Regierung zu erkennen,
schrieb das Blatt, dass das bisherige schwe-
dische Modell „nicht voll funktioniert“.
Das geplante Notstandsgesetz soll
schon in der kommenden Woche im Parla-
ment verhandelt werden. Es würde der Re-
gierung erlauben, Einkaufszentren, Nacht-
clubs, Fitnessstudios oder Flughäfen zu
schließen, was ihr nach schwedischem
Recht bisher nicht gestattet ist. Dabei
machte die sozialdemokratische Regie-
rung am Wochenende nach scharfer Kritik
von Teilen der Opposition einen Rückzie-
her: Ihr ursprünglicher Vorschlag hätte der
Regierung für drei Monate das Recht für
all diese Restriktionen unter Umgehung
des Parlamentes eingeräumt. Ein Kompro-
missvorschlag sieht nun vor, dass das Par-
lament ein Vetorecht bekommt.
Das schwedische Modell hatte bisher
den Gesundheitsbehörden die Richtungs-
entscheidungen in der Krise überlassen,
die Regierung war stets den Empfehlun-
gen der Wissenschaftler gefolgt. Und die
Experten wie auch die Politiker quer durch
alle Lager setzten darauf, dass der fach-
männische Rat sowie die Vernunft und Ei-
genverantwortung der Bürger ebenso gut,
wenn nicht besser funktionieren als stren-
ge Gesetze und Strafandrohungen, um Zie-
le wie eine zwischenmenschliche Distanz
zu erreichen. So wurden etwa die Oberstu-
fen der Schulen und die Hochschulen ge-
schlossen, aber Grundschulen und Restau-
rants sind bis heute geöffnet.

Schweden meldete am Sonntag 401 To-
te durch das Coronavirus und 406 Patien-
ten auf den Intensivstationen des Landes.
In Dänemark, das nur halb so viele Einwoh-
ner zählt, waren es am gleichen Tag 179 To-
te, in Norwegen 66. Sowohl Dänemark als
auch Norwegen hatten schon früh auf rest-

riktive Ausgangssperren gesetzt. Für Auf-
regung sorgte am Wochenende die Mel-
dung der Nachrichtenagentur TT, wonach
die schwedischen Todeszahlen in Wirklich-
keit viel höher seien, weil viele Opfer erst
im Nachhinein gemeldet würden. So seien
am 26. März zum Beispiel 66 Verstorbene
gemeldet worden, später aber habe das Ge-
sundheitsamt die Zahl auf 124 korrigiert,
fast das Doppelte also. Staatsepidemiologe
Anders Tegnell sagte am Sonntag, man ha-
be die Rückstände mittlerweile nachgetra-
gen, die Dunkelziffer sei heute wohl nicht
mehr so hoch.

Dennoch warnte Ministerpräsident Löf-
ven in dem DN-Interview in für seine Ver-
hältnisse dramatischen Worten sein Volk
vor einem rapiden Anstieg der Zahlen:
„Die Zahl der Toten wird in die Tausende
steigen.“ Genau darauf bereite man sich
vor. In dem Interview versuchte Löfven,
die Unterschiede zu den Nachbarländern
kleinzureden und betonte die Gemeinsam-
keiten: „Alle Länder denken darüber nach,
wie sie die soziale Distanzierung stärken
können“, sagte er. Manchmal tue man ein-
fach nur dieselben Dinge zu unterschiedli-
chen Zeitpunkten.
Gesundheitsministerin Lena Hallen-
gren hatte Ende letzter Woche ähnlich ar-
gumentiert: Nein, so etwas wiebusiness as
usualhabe es auch in Schweden nie gege-
ben. Der Weg der Regierung sei effektiv ge-
wesen, so seien im Moment schätzungswei-
se 70 Prozent weniger Menschen im Zen-
trum Stockholms unterwegs.
Am Wochenende veröffentlichten
Schwedens Zeitungen allerdings Zahlen
von Google Maps, die den Skeptikern Muni-
tion lieferten: Demzufolge hatten die von
dem Kartendienst verfolgten Schweden
zwar tatsächlich ihre Aktivitäten einge-
schränkt – aber weit weniger als ihre Nach-
barn. So war die Zahl der Schweden, die
Einkaufszentren, Bibliotheken und Muse-
en besuchten, in den sechs Wochen vor
dem 29. März um 24 Prozent gesunken –
in Dänemark waren es allerdings 37 und in
Norwegen 65 Prozent weniger. Zehn Pro-
zent weniger Schweden waren in Lebens-
mittelläden und Apotheken unterwegs –
gegenüber 22 Prozent bei den Dänen und
32 Prozent bei den Norwegern. „Der Ap-
pell an die Freiwilligkeit scheint nicht wie
gewünscht zu funktionieren“, kommentier-
te die Zeitung DN. kai strittmatter

von arne perras

Singapur –Singapur zählt zu jenen Staa-
ten, die viel Anerkennung von den Epide-
miologen bekommen haben. Der Stadt-
staat gilt als tatkräftig und effizient.
Schnelle Entscheidungen, frühzeitige Be-
schränkungen und Kontrollen bei Flügen
aus China, strikte Quarantäne, ein effizien-
tes Aufspüren aller Personen, die mit Infi-
zierten Kontakt hatten. Singapur schien
vieles, wenn nicht alles richtig zu machen
im Kampf gegen Covid-19. Und doch wird
nun immer deutlicher, dass auch die rei-
che, straff organisierte Handelsmetropole
ihre Schwierigkeiten hat, das Virus in den
Griff zu bekommen. Gerade in den vergan-
genen Tagen traten die Probleme immer of-
fener zutage, das schlüssige Bild, das an-
fangs um die Welt ging, es gerät gerade ins
Wanken.
Die Welt sah einen Staat, der offenkun-
dig seine Lehren aus der Sars-Epidemie im
Jahr 2003 gezogen hatte und den Aus-
bruch von Covid-19 von der ersten Minute
an sehr ernst nahm. So gelang es, die Zahl
der Fälle bis Ende Februar unter 100 regis-
trierten Infizierten zu halten. Dann aber
veränderte sich die Lage rasch. Mitte März
nahmen die Krankheitsfälle rapide zu. In-
zwischen zählt der Stadtstaat bereits zehn-
mal so viele Fälle wie noch vier Wochen zu-
vor. Am Wochenende bestätigte die Regie-
rung die Zahl von 1309 Infizierten, sechs
davon inzwischen tot. Am Sonntagabend
wurde außerdem bekannt, dass Singapur
zwei Siedlungen mit 20 000 Gastarbeitern
unter Quarantäne stellt, weil es dort Dut-
zende Infizierte gibt.


Dass sich die Lage im März erheblich
veränderte und die Zahlen nach oben
schnellten, wird in Teilen der sogenannten
zweiten Welle zugeschrieben, ausgelöst
durch die vielen Rückkehrer von anderen
Kontinenten; zumeist waren das singapuri-
sche Staatsbürger, aber auch ausländische
Geschäftsleute und deren Familien. Für sie
alle gelten nun strikte Quarantänevor-
schriften, auch hat Singapur mehrfach die
Regeln zur Einreise verschärft. So gelingt
es Ausländern fast gar nicht mehr, Famili-
enangehörige in die Stadt zu bringen.
Trotz strikter Kontrollen und Beschrän-
kungen aber ist zu beobachten, dass sich
der Staat immer schwerer tut, neue Fälle
mit den schon bekannten Infektionen zu
verknüpfen. Das bedeutet: Die Anste-
ckungswege sind immer seltener nachvoll-


ziehbar. Was in den ersten Wochen des Aus-
bruchs noch hervorragend gelang, war in
den vergangenen Tagen oft gar nicht mehr
möglich. Das oft gelobte Tracing in Singa-
pur stößt nun an seine Grenzen. Ein Alarm-
zeichen.

„Singapur hat bei Weitem einen der bes-
ten Ansätze verfolgt“, erklärt dazu der In-
fektiologe Michael Osterholm von der Uni-
versity of Minnesota im Gespräch mit der
Agentur Reuters. Nun aber zeige sich auch
im Stadtstaat, wie schwer es doch ist, die-
ses Virus einzudämmen. Mutmaßlich
hängt das damit zusammen, dass Kranke
nicht zum Arzt gehen; und dass es vermut-
lich eine unbekannte Zahl von Infizierten
gibt, die entweder nur sehr schwache oder
gar keine Symptome zeigen. Die Betroffe-
nen wissen dann gar nicht, dass sie Träger
sind, geben das gefährliche Virus aber
gleichwohl weiter.
Am Freitagnachmittag um 16 Uhr war
Premierminister Lee Hsien Loong im Lives-
tream zu sehen, er klang besorgt ange-
sichts der schnell steigenden Infektions-
zahlen und verordnete neue, weit drasti-
schere Schritte im Kampf gegen Covid-19.
Seine Ankündigung fiel in eine Zeit, da der
Alltag in Singapur trotz ökonomischer Här-
ten noch halbwegs normal erschien. Weil
die Eindämmung im Februar noch recht
gut gelang, hatte der Staat von Schulschlie-
ßungen abgesehen, man konnte Restau-
rants besuchen. Auch die meisten Büros
im Central Business Distrikt blieben geöff-
net, wenn auch zahlreiche Unternehmen
bereits das Arbeiten online erprobten oder
ihre Belegschaften in Gruppen unterteil-
ten, die jeweils versetzt zur Arbeit fuhren.
Von Dienstag an wird es sehr viel stren-
ger zugehen, es schließen die Schulen und
auch viele Arbeitsstätten und Geschäfte,
vorerst für vier Wochen. Nur noch soge-
nannte „essenzielle Dienste“ laufen wei-
ter: Kliniken, Lebensmittelläden und Ban-
ken bleiben geöffnet, und ja, auch der Fri-
seur und der Barbier um die Ecke. Offen-
bar ist die Vorstellung, dass die Bevölke-
rung im Schatten der Corona-Krise verzot-
teln könnte, doch von Gewicht. Tönen und
Färben sowie die Dauerwelle müssen aller-
dings ausfallen, weil die Zeit beim Friseur
auf ein Minimum beschränkt bleiben soll.
Die Regierung kommuniziert ihre Bot-
schaften rund um die Uhr auf allen Kanä-
len, doch auch das hielt viele nicht davon
ab, in die Malls zu strömen und sich manch-
mal deutlich näher zu kommen, als sie soll-

ten. In der Shopping-Meile Plaza Singapu-
ra zum Beispiel konnte man noch am


  1. März beobachten, wie Wühltische einer
    beliebten japanischen Lifestyle-Kette stun-
    denlang wie ein Magnet die Schnäppchen-
    jäger anzogen. Dutzende Kunden steckten
    die Köpfe über der Ware ganz eng zusam-
    men, obgleich sie schon lange mit den ener-
    gischen Botschaften über Social Distan-
    cing berieselt worden waren.


Die staatsnaheStraits Timesbeklagte
in einem Kommentar, dass die schon früh-
zeitig ausgegebene Regel, Abstand zu hal-
ten, in den vergangenen Wochen von vie-
len Leuten einfach nicht eingehalten wur-
de. Darauf spielte auch Premier Lee an, als
er in seiner Rede an die Nation sagte: „Wir
brauchen jeden Singapurer an Bord.“ Nur
so könne es gelingen, die Infektionsketten
zu brechen.

Berlin –EU-Kommissionspräsidentin
Ursula von der Leyen hat angekündigt,
dass die Verteilung von 1600 unbegleite-
ten minderjährigen Flüchtlingen aus
Griechenland in dieser Woche starten
soll. Luxemburg beginne als erstes
Land damit, erklärte von der Leyen am
Freitagabend in der ARD. „Jetzt können
wir damit starten, und ich bin sehr
dankbar, dass wir das nun tun.“ Acht
EU-Staaten hatten sich zu einer Aufnah-
me bereit erklärt. Dazu gehört auch
Deutschland. Das Bundesinnenministe-
rium hatte zuletzt in der vergangenen
Woche erklärt, dass die Abstimmungen
dazu liefen. Auch die Kirchen hatten
mehrfach darauf gedrängt, zügig mit
der Verteilung zu beginnen.kna


Teheran –Iran will nach Angaben von
Präsident Hassan Rohani die strengen
Corona-Vorschriften leicht lockern. Von
kommendem Samstag an sollen einige
Geschäfte in den Provinzen unter beson-
ders strengen hygienischen Auflagen
wieder öffnen, wie der Präsident am
Sonntag bekannt gab. Für die Haupt-
stadt Teheran gilt diese Regelung erst
eine Woche später. Allerdings bleiben
Sporthallen, Stadien, Schwimmbäder
und andere Orte, an denen es zu größe-
ren Menschenansammlungen kommen
könnte, weiter geschlossen. Iran wurde
vom Coronavirus besonders hart getrof-
fen. Nach Angaben des Gesundheitsmi-
nisteriums vom Sonntag gab mehr als
3600 Tote und 58 000 Infizierte. dpa


Lyon –Nach der tödlichen Messeratta-
cke im Südosten Frankreichs unter-
sucht nun die Anti-Terror-Staatsanwalt-
schaft den Vorfall. Vorläufige Ermitt-
lungsergebnisse deuteten darauf hin,
dass der Angreifer die öffentliche Ord-
nung „durch Bedrohung oder Terror“
massiv stören wollte, teilte die Behörde
mit. Bei einer Durchsuchung der Woh-
nung des 33-jährigen Sudanesen seien
Dokumente aufgetaucht, in denen sich
der Mann insbesondere darüber be-
schwere, dass er in einem Staat von
Ungläubigen lebe. Der mutmaßliche
Täter soll zuvor mit Messerstichen in
Romans-sur-Isère nahe Valence zwei
Menschen getötet und fünf weitere
verletzt haben. Der Angreifer leistete
bei seiner Festnahme laut Staatsanwalt-
schaft keinen Widerstand. reuters


DEFGH Nr. 81, Montag, 6. April 2020 (^) POLITIK HF2 7
Schutzmasken hin oder her – die kommenden zwei Wochen könnten laut US-Präsi-
dent Donald Trump die „härtesten“ in der Corona-Krise sein. FOTO: APU GOMES/AFP
Schockgefroren in der Pandemie
Trump kündigt schwere Zeiten an, der Wahlkampf der US-Demokraten fällt kaum auf
Am Ende des Sonderwegs
Schwedens Regierung bereitet nun auch Notstandsgesetze vor
Die gefährliche
zweite Welle
Singapur gilt als Vorbild im Kampf gegen Covid-19.
Doch inzwischen steigen dort die Infektionszahlen
Mittelmeertief
Rom, Madrid und Paris fordern Solidarität ihrer EU-Partner ein
Flüchtlinge werden verteilt
Iran lockert Beschränkungen
Anti-Terror-Ermittlungen
Die EU muss gegen Corona eine „Kriegs-
wirtschaft“ organisieren, findet Spani-
ens Regierungschef Pedro Sánchez. AFP
Die Abstandsregeln der Regierung haben nicht
alle Singapurer so korrekt eingehalten wie hier in der Schlange
für Desinfektionsmittel.FOTO: EDGAR SU/REUTERS
Anfangs konnten die Behörden
die Ansteckungswege
nachvollziehen – jetzt nicht mehr
Brüssel hat Milliarden-Hilfen
bereits zugesagt. Aber aus Spanien
heißt es: „Das reicht nicht.“
Jetzt müssen Schulen, Büros
und Geschäfte schließen, nur
essenzielle Dienste laufen weiter
Die Gesundheitsbehörden
haben bisher die Richtung
vorgegeben in der Krise
„Die Zahl der Toten wird
in die Tausende steigen“,
warnt der Ministerpräsident
Joe Biden sendet Videochats
aus seinem Keller – zuletzt
schauten 2236 Menschen zu
AUSLAND

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