Handelsblatt - 06.04.2020

(Martin Jones) #1

V


on Homeoffice hält der
österreichische Finanz-
minister Gernot Blümel
(ÖVP) wenig. Auch in
der Coronakrise arbei-
tet der Vertraute von Bundeskanzler
Sebastian Kurz in seinem Ministeri-
um im Herzen Wiens. Am Telefon er-
läutert der 38-jährige Politiker seine
strikte Ablehnung einer Vergemein-
schaftung von Risiken in der EU.

Herr Minister Blümel, die Bilder aus
Italien, Spanien und Frankreich er-
schrecken. Wären Corona-Bonds da
nicht das richtige Zeichen der fi-
nanzpolitischen Solidarität?
Das ist eine Krise, die die ganze Welt
betrifft, natürlich auch die Euro-Zo-
ne. Ich bin daher froh, dass wir über
verschiedene Instrumente für solch
einen Krisenfall verfügen. Das Anlei-
he-Ankaufprogramm der Europäi-
schen Zentralbank etwa. Andere fi-
nanzpolitische Instrumente wurden
noch gar nicht genutzt, wie der Euro-
päische Rettungsschirm ESM, der in
der Finanzkrise gut funktioniert hat.
Mit diesen Instrumenten verfügen
wir über eine große finanzpolitische
Schlagkraft. Ich sehe daher in der Co-
ronakrise keinen Anlass, dass man
nun die finanzpolitischen Regeln be-
ziehungsweise das EU-Recht ändert.

Ein Argument ist, dass kein Land bei
einer gemeinschaftlichen Finanzie-
rung als Bittsteller dastehen muss.
Niemand läuft Gefahr, das Stigma des
Bittstellers verpasst zu bekommen.
Dann hätten die Länder schon beim
Anleihekaufprogramm der EZB als
Bittsteller wahrgenommen werden
müssen. Doch das war nicht der Fall.
Alle Euro-Länder, die vom ESM in der
Finanzkrise unterstützt wurden, sind
gut aus dieser schwierigen Situation
herausgekommen. Der ESM hat seine
klassischen Kredite und nun auch die
schnellen Enhanced Credit Lines ...

... Kreditlinien, die der Rettungs-
fonds von der Coronakrise schwer
betroffenen Staaten mit weniger
Auflagen einrichten will.
Diese bestehenden beschleunigten
Kreditlinien mit flexiblen Möglichkei-
ten bei den Bedingungen etwa zur
Stärkung des Gesundheitssystem soll-
ten wir nutzen, wenn wir sie brau-
chen.

Sind die 410 Milliarden Euro des
ESM dann überhaupt ausreichend?
Wir müssen erst einmal schauen,
welchen Finanzbedarf die Länder
der Euro-Zone überhaupt haben. Mo-
mentan werden die Kredite des ESM
ja noch gar nicht für die Coronakrise
in Anspruch genommen. Die Anlei-
heankäufe der EZB reichen derzeit,
um die Refinanzierungskosten aller
Länder zu senken.

Der Druck aus Italien, Spanien und
Frankreich ist groß. Laufen Länder
wie Österreich, Deutschland und die
Niederlande da nicht Gefahr, als un-
solidarisch dazustehen?
Ich glaube nicht, dass das Bild eines
unsolidarischen Europas in der welt-
weiten Krise sachlich gerechtfertigt
ist. Wir haben auch eine Verantwor-
tung gegenüber den Bürgern in unse-
ren Ländern. Österreich hat sich Mit-
te der Neunziger in einer Volksab-
stimmung für den EU-Beitritt ent-
schieden. Wir sollten bestehende Re-
geln in der EU nicht ohne Notwen-
digkeit ändern.

Es scheint sich zwischen Deutsch-
land und Frankreich ein Kompro-
miss abzuzeichnen: Kredite des
ESM, Kredite der Europäischen In-

vestitionsbank (EIB) und EU-Mittel
für die Sicherung der Arbeitslosen-
versicherung der Mitgliedstaaten.
Ein gangbarer Kompromiss für Sie?
Es ist ein ganz normaler Prozess auf
politischer europäischer Ebene, dass
man verschiedene Ansichten hat und
versucht, einen Kompromiss zu fin-
den. Wichtig ist, dass der Kompro-
miss auf Basis des europäischen
Rechts passiert und nicht versucht
wird, europäisches Recht zu biegen
oder gar zu brechen. Und die Krise
sollte auch nicht dazu genutzt wer-
den, Vorschläge von vorgestern unter
dem Deckmantel der Coronakrise
umzusetzen.

Sie meinen damit konkret die euro-
päische Arbeitslosenrückversiche-
rung?
Ja. Mit diesem Konstrukt, wie es der-
zeit auf dem Tisch liegt, kann Öster-
reich nicht mitgehen.

Kredite über die EIB als Baustein wä-
ren für Sie in Ordnung?
Im Prinzip ja und diesen Baustein
gibt es ja auch jetzt schon. Ob wir ei-
nem weiteren Instrument der EIB zu-
stimmen, kommt auf das genaue
Konzept und die Höhe an.

Die Niederlande schlagen zudem ei-
nen Gesundheitsfonds vor, der keine
Kredite, sondern nicht rückzahlba-
re Hilfen leistet. Ist der in Ihrem
Sinn?
Die Debatte zeigt, dass Österreich,
Deutschland und die Niederlande
willens sind, flexibel zu sein, um al-
len in Not geratenen Ländern zu hel-
fen. Doch auch hier gilt: Es gibt
schon sehr viele Instrumente, um
auf die Coronakrise zu reagieren und
man sollte versuchen, Doppelgleisig-
keiten zu vermeiden.

Wie sehr ist die Stabilität des Euro-
Raums gefährdet?
Wir haben es mit einer weltweiten
Krise zu tun. Ich sehe keine spezifi-
schen Herausforderungen für den
Euro-Raum.

Wird die Coronakrise zur Krise der
EU mit Grenzschließungen, Masken-
Exportverboten und nationalen Al-
leingängen?
Ich warne davor, das Problem in der
europäischen Konstruktion zu su-
chen. Auch die Vereinigten Staaten
gehen in jedem einzelnen Bundes-
staat mit Ausgangssperren unter-
schiedlich gegen die Pandemie vor.

Aber ist die europäische Antwort
koordiniert genug? Wir haben die-
sen Eindruck nicht ...
Die Frage ist doch, was hätte die eu-
ropäische Ebene bisher besser leis-
ten können? Im wirtschaftlichen Be-
reich hat jedes EU-Land unterschied-
liche Probleme zu bewältigen und
unterschiedliche Zugänge, um den
eigenen Unternehmen zu helfen. Ich
bezweifle, dass es überhaupt von der
europäischen Ebene eine einheitli-
che Antwort geben kann. Das heißt
aber auch: Wir dürfen die entstehen-
den Probleme nicht der EU in die
Schuhe schieben.

Die Notmaßnahmen zur Eindäm-
mung des Virus belasten die Wirt-
schaft. Wie stehen Sie in der Diskus-
sion über eine Normalisierung?
Es ist sicher eine der größten He-
rausforderungen zu beurteilen,
wann der richtige Zeitpunkt ist, wie-
der schrittweise zur Normalität zu-
rückzukehren. Die Grundvorausset-
zung dafür ist, dass sich die Neuin-
fektionen massiv reduzieren, wir das
Virus unter Kontrolle haben, das Ge-
sundheitssystem nicht überlastet ist,
Ärzte nicht in die Situation kommen,
entscheiden zu müssen, wer be-
kommt die lebensnotwendige Be-
handlung und wer nicht. Sobald wir
ein solches Niveau bei den Infektio-
nen haben, können wir darüber
sprechen, wie wir zurück zur Nor-
malität kommen.

Sehen Sie das Niveau bald erreicht?
Momentan ist es sicherlich zu früh,
über einen solchen Zeitplan zu spre-
chen. Wir haben in Österreich gerade
eine Studie laufen, für die wir reprä-
sentativ 2 000 Personen auf Corona
testen, um Rückschlüsse ziehen zu
können, wie sich das Virus in der Be-
völkerung verbreitet hat und wie hoch
die Dunkelziffer ist. Das soll uns hel-
fen zu entscheiden, ob es die Möglich-
keit gibt, zu einem Zeitplan der Wie-
der-Eröffnung überzugehen oder ob
es dafür immer noch viel zu früh ist.

Teilverstaatlichungen von Unter-
nehmen gehören in vielen Ländern
zum Rettungsinstrumentarium. Ver-
lieren wir ein Stück Liberalismus?
Verstaatlichungen sind momentan
kein Thema in Österreich. Wir sind
überzeugt, dass wir mit unserem 38
Milliarden Euro großen Schutz-
schirm für die österreichische Wirt-
schaft die Coronakrise bewältigen
können. Aber in solch einer Krise
darf es keine Denkverbote geben. Es
entstehen ständig neue Situationen.
Daher schließe ich nichts aus. Es gibt
aber natürlich manche Auswirkun-
gen der Krise, die unsere Wirtschaft
und Gesellschaft über Jahre prägen
werden.

Was sehen Sie da vor allem?
Ich denke vor allem an das Konsu-
mentenverhalten. Wir lernen jetzt,
Abstand zu anderen Menschen zu
halten und uns mehr im digitalen
Raum zu bewegen, Onlineangebote
intensiver zu nutzen. Dieses Nut-
zungsverhalten wird sich zum Teil
auch nach der Krise fortsetzen. Das
wird die Wirtschaft verändern, aber
ich gehe nicht davon aus, dass wir
Grundprinzipien des wirtschaftli-
chen Handelns über Bord werfen
werden. Denn die Krise ist ein be-
schränkter Zeitraum – und wir wer-
den sie hoffentlich bald überwunden
haben.

Vielen Dank für das Interview.

Die Fragen stellten Nicole Bastian
und Hans-Peter Siebenhaar.

Gernot Blümel


„Es gibt schon sehr


viele Instrumente“


Österreich wendet sich strikt gegen Corona-Bonds und


lehnt eine europäische Arbeitslosenrückversicherung ab.


Minister Blümel:
„Momentan ist es zu
früh, über einen Zeitplan
für eine Normalisierung
zu sprechen.“

SEPA.Media | Martin Juen

Allzweckwaffe Der
Magister der Philoso-
phie war von Dezem-
ber 2017 bis zur Ibiza-
Affäre im Mai 2019
Kanzleramtsminister
und zuständig für die
EU. In der seit Januar
regierenden schwarz-
grünen Koalition hat
der 38-Jährige das
Finanzministerium
übernommen.

Kurz-Vertrauter Zu
Kanzler und ÖVP-
Chef Sebastian Kurz
besitzt Blümel ein
enges Vertrauensver-
hältnis. Auch vor diffi-
zilen Aufgaben
schreckt er nicht
zurück. So wird der
Wiener-ÖVP-Chef als
Bürgermeisterkandi-
dat in Wien antreten.

Vita
Gernot Blümel

Wirtschaft & Politik
MONTAG, 6. APRIL 2020, NR. 68
10

Arbeitsmarkt

Union trägt europäische Corona-Hilfe mit


Die Union wird dem
EU-Kurzarbeiterfonds wohl
zustimmen. Der
Wirtschaftsflügel übt Kritik.

Ruth Berschens, Martin Greive,
Jan Hildebrand Brüssel, Berlin

D


ie EU betritt in der Coronakri-
se sozialpolitisches Neuland.
Bisher war Arbeitsmarktpoli-
tik eine nationale Angelegenheit. Mit
ihrem Vorschlag eines europäischen
Kreditprogramms zur Finanzierung
von Kurzarbeit (Sure) mischt sich EU-
Kommissionspräsidentin Ursula von
der Leyen jetzt auch in die Arbeits-
marktpolitik ein. Mehr noch: Die EU-
Kommission nimmt dafür selbst Schul-
den in Höhe von bis zu 100 Milliarden
Euro auf.
Der neue Topf sei „ein sehr starkes
Signal der europäischen Solidarität“,
sagte EU-Sozialkommissar Nicolas
Schmit dem Handelsblatt. „Wir haben
eine gemeinsame Verantwortung si-
cherzustellen, dass die EU-Mitglied-
staaten unabhängig ihrer Größe oder
ihres Wohlstands in der Lage sind, das
Einkommen ihrer Bürger in diesen
schwierigen Zeiten zu sichern.“
Im Bundesfinanzministerium und
bei der SPD wurde der Vorschlag um-
gehend begrüßt. In der Union tat man
sich zunächst etwas schwerer. Am Frei-
tag hat der geschäftsführende Vor-
stand der Unionsfraktion in einer Tele-
fonkonferenz über eine gemeinsame
Linie beraten. „Wir sind als Unionsfrak-
tion in dieser Situation der Meinung,
dass es die Stunde der Solidarität ist“,
sagte der stellvertretende Fraktionsvor-
sitzende Andreas Jung (CDU) dem Han-
delsblatt.

Gegen Euro-Bonds
Die Union unterstütze einen „Drei-
klang der Solidarität“: mögliche Hilfen
über den Euro-Rettungsfonds ESM, ei-
nen verstärkten Einsatz der Europäi-
schen Investitionsbank (EIB) und auch
den Vorschlag der EU-Kommission für
den Kurzarbeiterfonds. Dieser müsse
allerdings zeitlich befristet sein und
dürfe nicht zu einer dauerhaften EU-
Arbeitslosenversicherung werden, sag-
te Jung. Da seien noch Klarstellungen
erforderlich. Gemeinsame europäische
Staatsanleihen, sogenannte Corona-
Bonds, lehnt die Union weiter strikt ab.
Allerdings gibt es in der Unionsfrak-
tion nach wie vor auch Vorbehalte ge-
gen den EU-Vorstoß. „Wir dürfen Soli-
darität nicht mit Haftungsvergemein-
schaftung verwechseln“, sagte Carsten
Linnemann, Chef des Unions-Wirt-
schaftsflügels, dem Handelsblatt.
Deutschland könne auch ohne neue
EU-Geldtöpfe besonders vom Virus be-
troffenen Nachbarländern schnell hel-
fen, etwa durch die Übernahme von
Erkrankten und die Lieferung von me-
dizinischem Gerät. Neue Umvertei-
lungsinstrumente wie den EU-Fonds
für Kurzarbeit sieht Linnemann dage-
gen kritisch. „Es droht, dass diese Töp-
fe dauerhaft bleiben“, fürchtet der
CDU-Politiker.
Diese Gefahr sieht auch das Institut
der deutschen Wirtschaft (IW Köln) in
einer Analyse, die dem Handelsblatt
vorliegt. „Auch wir haben die Sorge,
dass die Kommission damit die Tür für
eine Dauerlösung öffnen will, die man
am Ende nicht wieder zubekommt“,
sagt IW-Forscher Jürgen Matthes.
„Trotzdem überwiegen aus unserer
Sicht die Vorteile die Nachteile.“ So set-

ze der Vorstoß „ökonomisch an einer
richtigen Stelle an“, heißt es in dem
IW-Papier. Er sei „auf die Krise bezo-
gen, ermöglicht als Ultima Ratio auch
Transfers und lässt die EU als Helfer
sichtbar werden“. Allerdings seien die
Hilfen nur „bedingt schnell einsetz-
bar“. „Bestehende Institutionen wie
die Europäische Zentralbank (EZB)
oder der Euro-Rettungsschirm ESM

können schneller handeln“, heißt es in
der Analyse.
Im Europaparlament stößt der Vor-
schlag zum Kurzarbeitergeld auf breite
Zustimmung, auch bei der Europäi-
schen Volkspartei. Dort fürchtet man
allerdings, dass aus dem zunächst be-
fristeten Kurzarbeitergeld am Ende ei-
ne Dauereinrichtung werden könnte.
„Wenn hier zentrale Weichenstellun-

gen für die Zusammenarbeit der natio-
nalen sozialen Sicherungssysteme ge-
stellt werden, muss das Europäische
Parlament eingebunden werden“, for-
dert Parlamentarier Markus Ferber
(CSU). Die EU-Kommission selbst sieht
zudem in dem europäischen Kurzar-
beitergeld nur eine Übergangslösung
auf dem Weg zur geplanten Arbeitslo-
sen-Rückversicherung.







 














 





 




  


Wirtschaft & Politik
MONTAG, 6. APRIL 2020, NR. 68
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