Handelsblatt - 06.04.2020

(Martin Jones) #1
Norbert Häring Frankfurt

D

ie Corona-Pandemie
hat die Industrieländer
kalt erwischt und bis-
her nicht da gewesene
wirtschaftliche und fi-
nanzielle Ausfälle verursacht. Doch
die reichen Länder haben riesige Mit-
tel, sich dem entgegenzustemmen
und die Folgen abzumildern – und sie
nutzen sie. Die Entwicklungsländer
haben nichts dergleichen. Dabei wer-
den sie von den Folgen der Pandemie
mindestens ebenso hart getroffen.
Wie die ständige Handels- und
Entwicklungskonferenz der Verein-
ten Nationen (Unctad) in einer am


  1. März veröffentlichten Analyse
    feststellt, waren die Folgen der Pan-
    demie in Form von Kapitalflucht, hö-
    heren Kreditzinsen, Währungsab-
    wertungen und sinkenden Exporter-
    lösen schlimmer für die
    Entwicklungsländer als das, was sie
    2008 nach dem Zusammenbruch
    von Lehman Brothers verkraften
    mussten. In nur einem Monat wur-
    den 60 Milliarden Dollar an Kapital
    abgezogen, zweimal so viel wie da-
    mals.
    Der Wert der Währungen der Ent-
    wicklungsländer gegenüber dem Dol-
    lar ist um fünf bis 25 Prozent gesun-
    ken, was den Schuldendienst für
    Auslandsschulden in Dollar entspre-
    chend teurer macht. Zu den von Ab-
    wertung am stärksten betroffenen
    Ländern zählen Brasilien, Mexiko,
    Indonesien, Russland und Südafrika.


Gleichzeitig ist nicht nur der Tou-
rismus zum Erliegen gekommen,
sondern auch der Preis der Rohstoffe
eingebrochen, die für viele Länder
Hauptexportprodukte sind. Seit Jah-
resanfang beträgt der Rückgang nach
Unctad-Berechnungen 37 Prozent.
Hinzu kommt, dass die Handelspart-
ner aufgrund der Einstellung der Pro-
duktionen viel weniger abnehmen.
Es braucht also noch nicht einmal
eine Ansteckung der eigenen Bevöl-
kerung, damit die Pandemie für die
Entwicklungsländer eine Katastrophe
ist. Die absehbare Folge: Laut Unctad
werden den Entwicklungsländern
2020 und 2021 zwei Billionen (2 000
Milliarden) Dollar fehlen, um ihre
Verpflichtungen zu erfüllen.

Tsunami von Ausfällen
Das hat das Zeug, eine Schuldenkrise
auszulösen, die viele direkte und in-
direkte Kreditgeber in den Industrie-
ländern mit in ihren Sog zieht.
„Wenn nicht sofort gehandelt wird“,
sagte Unctad-Direktor Richard Kozul-
Wright, „wird sich die Verschul-
dungskrise rasch in einen Tsunami
von Zahlungsausfällen verwandeln“.
Die Entwicklungsländer stehen vor
zwei riesigen Problemen. Anders als
die Industrieländer mit ihren großen
internationalen Reservewährungen
können sie nicht einfach Geld dru-
cken, um die Folgen der Pandemie
zu bewältigen. Sie haben keine Mög-
lichkeit, auch nur annähernd so gro-

ße Hilfsprogramme aufzulegen, wie
das die Industrieländer getan haben.
Außerdem schlittern sie mit einer
in Relation zu ihrer Wirtschaftsleis-
tung rekordhohen Verschuldung in
diese Krise. Schon 2018 lag ihre Ge-
samtverschuldung bei fast 200 Pro-
zent der Jahreswirtschaftsleistung.
Das beinhaltet die Schulden des Staa-
tes und der Privaten, sowohl im In-
land als auch im Ausland.
Hinter der starken Zunahme ste-
hen nach Unctad-Angaben vor allem
die Unternehmen, deren Schulden
zu einem Drittel auf ausländische
Währung laufen und von ausländi-
schen Gläubigern gehalten werden.
China ist dabei nicht eingerechnet.
Kreditgeber seien demnach in gro-
ßem Umfang ausländische Schatten-
banken, also Finanzinstitute, die
bankähnliche Geschäfte tätigen, oh-
ne wie Banken reguliert zu werden.
Sie wären die ersten Betroffenen,
wenn es zu Zahlungsausfällen in gro-
ßem Stil kommt. Da diese Schatten-
banken sich wiederum bei normalen
Banken verschulden, könnte eine
Zahlungskrise auch diese in ihren
Sog ziehen.
Ausgerechnet in diesem Jahr ste-
hen besonders viele Regierungsanlei-
hen zur Tilgung an. Allein von den
Ländern mit niedrigem und mittle-
rem Einkommen, China nicht gerech-
net, laufen 2020 Staatsanleihen im
Volumen von 415 Milliarden Dollar
aus, 2021 noch einmal 147 Milliarden

Dollar. Wegen der Kapitalflucht wird
es kaum möglich sein, diese zu be-
zahlenden Zinsen durch die Ausgabe
neuer Anleihen zu refinanzieren.
Hinzu kommen die anstehenden
Rückzahlungen der privaten Unter-
nehmen. Von diesen dürften viele in
Anbetracht der desolaten wirtschaft-
lichen Lage während der Pandemie
kaum in der Lage sein, den Schulden-
dienst zu leisten. „Diese Probleme
können nicht durch die Politik eines
einzelnen Landes eingedämmt wer-
den“, mahnt Jayati Ghosh, Ökono-
mieprofessorin in Neu-Delhi: „Die
Weltgemeinschaft braucht Führung,
um die Coronavirus-Pandemie ge-
meinsam zu bewältigen.“

Hilfsprogramm gefordert
Die Unctad appelliert auch an das Ei-
geninteresse der Industrieländer,
wenn sie jetzt ein großes Hilfspro-
gramm zur Abwendung einer Schul-
denkrise und einer humanitären Ka-
tastrophe fordert. Dazu sollen neue
Sonderziehungsrechte des Internatio-
nalen Währungsfonds (IWF) in Höhe
von einer Billion Dollar ausgegeben
werden. Sonderziehungsrechte sind
eine Währung, mit der Regierungen
und Notenbanken untereinander
Zahlungen leisten oder die sie zum
Beispiel in Dollar oder Euro eintau-
schen können.
Zweitens soll ein sofortiges Morato-
rium für den Schuldendienst der Ent-
wicklungsländer beschlossen wer-
den, gefolgt von einer Schuldenre-
strukturierung nach dem Vorbild des
Londoner Abkommens. Bei diesem
wurden nach dem Zweiten Weltkrieg
die deutschen Schulden teilweise er-
lassen, gestreckt und von Exporterlö-
sen abhängig gemacht. Auch hier
stellt sich die Unctad ein Volumen
von einer Billion Dollar an Schulden-
erleichterungen vor.
Und drittens fordert sie 500 Milli-
arden Dollar an Wiederaufbauhilfen
für die armen Länder zur Wiederan-
kurbelung der Volkswirtschaften
nach dem Ende der Coronakrise.
Den IWF drängt die Unctad, Kapi-
talverkehrskontrollen als Krisenmaß-
nahmen gutzuheißen. Das würde be-
deuten, dass Entwicklungsländer ver-
fügen könnten, dass aus den
betreffenden Ländern zeitweise nur
noch mit Genehmigung Geld ins Aus-
land überwiesen werden darf.

Kritik an Federal Reserve
Kritik der Unctad erntet die US-No-
tenbank Federal Reserve dafür, dass
sie trotz der zentralen Rolle des Dol-
lars für den globalen Handel und das
Weltfinanzsystem nur einer kleinen
Gruppe „strategisch ausgewählter“
Länder Dollar-Kreditlinien (Swaps)
eingeräumt habe, die es diesen Län-
dern ermöglichen, sich dringend be-
nötigte Dollar zu besorgen. Dazu ge-
hörten mit Mexiko, Brasilien und Sin-
gapur nur drei Schwellenländer und
keine Entwicklungsländer.
Nach Medienberichten sollen be-
reits mindestens 85 Länder Hilfen
des IWF beantragt haben. Die beste-
henden Kreditlinien dürften kaum
ausreichen, weshalb über eine Aus-
weitung diskutiert wird.
Allerdings würden die stark ver-
schuldeten Länder dann nur Kredite
bekommen, die normalerweise auch
noch mit harten Auflagen einherge-
hen. Bei einer Verteilung von Sonder-
ziehungsrechten ist das anders.
Insofern ist die Diskussion ähnlich
wie in Europa, wo die einen den be-
sonders betroffenen und besonders
klammen Ländern nur über Kredite
mit Auflagen helfen wollen, während
die anderen Euro-Bonds mit gemein-
schaftlicher Haftung fordern.

Verschuldung


Es droht eine globale


Schuldenkrise


Vielen Entwicklungs- und Schwellenländern könnte die Pleite bevorstehen.


Bankrotte Minengesellschaft
im Kongo: Corona führt
zum Einbruch der Rohstoffpreise
in den Entwicklungsländern.

LAIF

37

PROZENT
im Durchschnitt
betrug der Einbruch
bei den Preisen für
Rohstoffe.

Quelle: Unctad

Wirtschaftswissenschaften
MONTAG, 6. APRIL 2020, NR. 68
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