Handelsblatt - 06.04.2020

(Martin Jones) #1
Cultura/Getty Images [M]

D

ie Coronakrise bedeutet für
Europa dramatische Verluste: Wir
verlieren Tausende Menschenle-
ben an eine immer wieder tödli-
che Viruskrankheit, wir verlieren
Wohlstand und Arbeitsplätze an ihre Folgen.
Aber der vielleicht größte Verlust steht uns noch
bevor: Der Verlust an Vertrauen in die Sinnhaf-
tigkeit und Glaubwürdigkeit der Europäischen
Union. Europa steht vor seiner größten Bewäh-
rungsprobe seit seiner Nachkriegsgründung,
denn es geht um den praktischen Zusammenhalt
auf unserem Kontinent.
Wer soll noch an die viel zitierte „Werteunion“
Europas glauben, wenn sich dieses Europa in
der größten Krise seit ihrem Bestehen im wahrs-
ten Sinne des Wortes als wertlos herausstellt?
Wie hohl mögen in den Ohren der betroffenen
Regionen Europas wohl die Sonntagsreden über
„europäische Solidarität“ klingen, wenn zu Be-
ginn der Infektionskrise, als in Italien schon die
ersten Anzeichen für massenhaftes Sterben un-
übersehbar waren, europäischen Mitgliedstaa-
ten – auch Deutschland – zuerst ein Exportver-
bot für medizinische Hilfsmittel nach Italien ver-
hängen, statt Soforthilfe zu leisten? Und was
bleibt übrig von der europäischen Idee, wenn im
Alltag der Krise sich scheinbar nur die einzelnen


Nationalstaaten mittels geschlossener Grenzen
und nationaler Hilfsprogramme als handlungsfä-
hig erweisen – oder hilflos allein zurückgelassen
werden, wenn sie mit nationalen Mitteln allein
im Kampf gegen die Pandemie unterliegen?
Die Europäische Union droht bei dieser größ-
ten Bewährungsprobe seit ihrer Entstehung dra-
matisch zu versagen. Stattdessen erleben wir,
dass Mächte wie Russland und China öffentlich-
keitswirksam Hilfe liefern, um genau dieses Defi-
zit Europas zu betonen. Dass hier humanitäre
und politische Ziele mindestens gleichzeitig ver-
folgt werden, liegt auf der Hand.
Es stimmt: Inzwischen ist das Exportverbot
für Hilfsmittel wieder aufgehoben. Deutschland
gehört zu den Ländern, die schwer erkrankten
Patienten beispielsweise aus Italien, Frankreich
und Spanien Krankenhausbetten und Intensiv-
pflege anbieten, weil unsere Kapazitäten noch
dafür ausreichen. Aber diese ebenso wichtigen
wie guten Hilfen sind angesichts der Wucht der
Krise, angesichts von Tausenden Toten, massen-
hafter Arbeitslosigkeit und schweren sozialen
Verwerfungen nur wenig mehr als der berühmte
„Tropfen auf den heißen Stein“. Länder wie Ita-
lien und Spanien werden es Europa und vor al-
lem uns Deutschen 100 Jahre lang nicht verges-
sen, wenn wir sie bei der Bewältigung dieser

Europa steht


vor seiner historischen


Bewährungsprobe


Kein europäisches Land wird allein aus der Krise heil


herauskommen. Deutschland sollte nun vorangehen und sich


an einem EU-Hilfsprogramm für besonders betroffene Länder


beteiligen, fordern Joschka Fischer und Sigmar Gabriel.


Italien und


Spanien


werden es


hundert Jahre


lang nicht


vergessen,


wenn wir sie


jetzt im


Stich lassen.


Und genau


das tun wir


gerade.


drohenden und bereits einsetzenden Entwick-
lung in ihren Ländern jetzt im Stich lassen. Und
genau das tun wir gerade.
Europa droht zum Nullsummenspiel zu wer-
den, bei dem Nationalstaaten glauben, dass im-
mer einer verlieren muss, wenn ein anderer et-
was bekommt. Donald Trump hat dies zum Cre-
do seiner internationalen Politik gemacht. Nun
hat dieses „My-nation-first-Virus“ offenbar auch
Europa infiziert.
Schon die in Deutschland seit Jahrzehnten im-
mer wieder aufgestellte Behauptung, Deutsch-
land sei ein „Nettozahler“ hat dieses antieuro-
päische Ressentiment immer wieder von Neuem
belegt. Natürlich zahlt Deutschland mehr Steu-
ergelder an Brüssel, als es an Fördergeldern zu-
rückerhält – nur ist das nicht einmal die Hälfte
der Rechnung. Man muss eigentlich nur die
Grundrechenarten kennen, um zu wissen, dass
ein Land wie Deutschland, das weit mehr an Gü-
tern und Dienstleistungen nach Europa expor-
tiert (oder: ausführt) als es von dort importiert
(oder: einführt), offenbar auch mehr Geld ins
Land bekommt, als es in anderen Ländern aus-
gibt. Anders wird man kein Exporteuropa- und
Weltmeister. Die Wahrheit ist: Unser Land ist der
größte wirtschaftliche und finanzielle Gewinner
Europas. Sogar an der Finanzkrise Griechen-
lands haben wir Geld verdient. Das alles wissen
unsere Nachbar- und Mitgliedstaaten in der Eu-
ropäischen Union. Und deshalb schauen sie jetzt


  • zu Recht – darauf, was Deutschland tut, um ei-
    nen Teil seines durch Europa erworbenen Wohl-
    stands nun für dieses Europa einzusetzen.
    Europa ist nicht nur als Friedensprojekt, son-
    dern auch als wirtschaftliches, soziales und öko-
    logisches Projekt eben kein „Nullsummenspiel“,
    sondern das Gegenteil: Es schafft im wahrsten
    Sinn des Wortes einen „Mehrwert“ für alle. Ge-
    rade für Deutschland und durchaus auch im fi-
    nanziellen und wirtschaftlichen Sinn. Die Grün-
    der der Europäischen Union wussten das und
    was Europa jetzt braucht, ist der Mut dieser
    Gründergeneration.
    Denn natürlich ist es nicht überall populär, die
    im eigenen Land hart erarbeitete wirtschaftliche
    Leistung mit anderen zu teilen. Vor allem nicht,
    wenn man mitten in einer Krise ist, deren Aus-
    gang weder die Politik noch die Bevölkerung
    heute schon sicher beurteilen können. Die ban-
    ge Frage „Brauchen wir unsere medizinischen
    und wirtschaftlichen Ressourcen nicht für uns
    selbst?“, ist nicht unmoralisch oder verwerflich.
    Die Antwort darauf lautet allerdings, dass kein
    Land – auch nicht Deutschland – allein und auf


Wirtschaft & Politik
MONTAG, 6. APRIL 2020, NR. 68
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sich gestellt aus dieser Krise wieder heil heraus-
kommen wird. Denn der ökonomische und so-
ziale Zusammenbruch unserer Nachbarn wird
auch das scheinbar sichere Deutschland errei-
chen. Wohlstand und Sicherheit gibt es in
Europa nur für alle oder für niemanden. Das
war der Grund, warum die Gründergeneration
sich an dieses damals gewagte Projekt der euro-
päischen Einigung gewagt hat, obwohl es gewiss
nicht populär gewesen war, kurz nach den Ver-
wüstungen des Zweiten Weltkrieges ausgerech-
net uns Deutsche an den Tisch eines geeinten
Europas zu bitten. Kein Land hat von dieser Soli-
darität so sehr profitiert wie Deutschland – denn
mit der Begründung der Europäischen Integrati-
on reichten uns die Länder als Freunde und
Partner die Hand, über deren Straßen noch we-
nige Jahre zuvor die Stiefel der deutschen Besat-
zer marschiert waren. Die Erfolgsgeschichte der
Bundesrepublik wäre ohne Europas Solidarität
nicht zu erzählen.
Niemand trägt deshalb so viel Europa in sich
und niemand hat so viel Verantwortung für
Europa wie unser Land. Deshalb muss es jetzt
die Bereitschaft zur Führung in Europa zeigen –
am besten gemeinsam mit Frankreich. Europa
braucht jetzt zweierlei: gemeinsame Hilfen in
der Krise und ein gemeinsames Wiederaufbau-
programm für nach der Krise. So wie es 1948
auch zwei Projekte gab, die aufgrund ihrer histo-
rischen Größe bis heute im kollektiven Gedächt-
nis unseres Landes geblieben sind: die Berliner
Luftbrücke, um die in Not befindlichen Bürge-
rinnen und Bürger West-Berlins zu versorgen
und der Marshallplan zum Wiederaufbau
Europas, der heute immerhin einen Wert von
knapp 150 Milliarden Euro hätte und von dem
die deutsche Staatsbank KfW (früher: Kreditan-
stalt für Wiederaufbau) abstammt. Noch heute
verwaltet die KfW 12 Milliarden Euro als Sonder-
vermögen aus dem damaligen „Marshallplan“.
Noch heute – 70 Jahre später – finanziert die KfW
die gerade erst beschlossenen Hilfsmaßnahmen
für die deutschen Unternehmen in der Corona-
krise aus diesem Vermögen.
Die am härtesten von der Corona-Pandemie
getroffenen Länder wie Italien und Spanien
brauchen ein sich überlappendes Dreistufen-
Programm: medizinisch-humanitäre Soforthilfe;
mittelfristige, langlaufende europäische Kredit-
hilfen, die nicht auf die Maastricht-Kriterien an-
gerechnet werden, zur Stabilisierung der inlän-
dischen Realwirtschaft; langfristiges Innovati-
onsförderungs-Programm zur wirtschaftlichen
und sozialen Zukunftssicherung.

Deutschland wäre gut beraten, sich an einem
solchen Hilfsprogramm auf Europäischer Ebene
sofort zu beteiligen, statt den ideologischen
Streit zwischen Nord- und Südeuropa über
Euro-Bonds oder Corona-Bonds fortzusetzen.
Denn klar ist: Weder Italien noch Spanien sind
in der Lage, die notwendigen Finanzmittel zum
Wiederaufbau ihrer Länder allein als neue
Staatsschulden aufzunehmen. Die Last der Zin-
sen und vermutlich auch der Tilgung muss ih-
nen Europa abnehmen. Das Signal, dass alle eu-
ropäischen Mitgliedstaaten dazu bereit sind,
muss schnell kommen. Sonst werden rechtsex-
treme Kräfte in beiden Ländern erneut versu-
chen, ihre nationalistische Suppe gegen die EU
aufzuwärmen. Es liegt im europäischen, wie
aber auch im deutschen Interesse, dass diese
von zweifelsfrei demokratischen Kräften getra-
genen Regierungen in Italien und Spanien wirt-
schaftlich, sozial und damit auch politisch stabil
und europäisch gesinnt bleiben!
Natürlich wird Europa schon auf mittlere
Sicht und ganz unabhängig von der aktuellen
Krise, die gemeinsame Währung auch gemein-
schaftlich verbürgen müssen. Nur dann wird
der Euro eine echte internationale Reservewäh-
rung und eine Alternative zum Dollar. Tun wir
das nicht, wird Europa seine wirtschaftliche
Souveränität nicht erreichen, sondern im Zwei-
fel immer von der Politik des Dollar-Raums ab-
hängen, wie wir es in der Auseinandersetzung
um den Atomvertrag mit dem Iran bitter erle-
ben mussten.
Da diese Weiterentwicklung aber nicht heute
und wohl auch nicht morgen erfolgen wird, darf
es mitten in der Krise jetzt keinen lähmenden
Prinzipienstreit geben. Der klarste und deut-
lichste Weg wäre es, den Haushalt der Europäi-
schen Union um einen Nothilfefonds zu erwei-
tern, der von allen Mitgliedstaaten gespeist wird
und über ausreichende finanzielle Mittel verfü-
gen muss, um große Krisen in Europa bewälti-
gen zu können. Dazu gehört es übrigens auch,
dringend Antworten darauf zu finden, was
Europa tun will, wenn sich in den Flüchtlingsla-
gern in Griechenland oder auch in der Türkei
oder in Syrien die Corona-Infektion massenhaft
ausbreitet. Alle internationalen Hilfsorganisatio-
nen warnen vor der menschlichen Tragödie, die
dort entstehen wird und für die wir – ob es uns
passt oder nicht – auch Verantwortung tragen.
Dort, wo ganz Europa bedroht ist, muss auch
die ganze Europäische Union antworten und
darf diese Antwort nicht auf Teilgruppen wie
die Euro-Gruppe delegieren. Oder wie es

George Marshall bei seiner berühmten Bostoner
Rede zur Begründung des Marshallplans sagte:
„(...) die wirtschaftliche Wiederaufrichtung
Europas ist Sache der Europäer selbst. Ich glau-
be, die Initiative muss von Europa ausgehen.
Das Programm sollte ein gemeinschaftliches
sein, vereinbart durch einige, wenn nicht alle
europäischen Nationen.“
Der Streit jedenfalls, ob die Europäische Uni-
on dies innerhalb der gemeinsamen Währungs-
gruppe des Euros mit gemeinsamen Anleihen
(Bonds) tut sollte, ob bestehende Finanzie-
rungsmöglichkeiten wie die 410 Milliarden Euro
des Europäischen Stabilitätsmechanismus
(ESM) dafür genutzt werden können oder ein
neues Instrument entstehen muss, weil der ESM
für ganz andere Ziele geschaffen wurde und
deshalb ungeeignet für die heutige Situation ist,
sollte rasch beendet und entschieden werden.
Die Coronakrise braucht eine starke und ver-
nehmlich europäische Antwort von grenzüber-
schreitender und praktischer Solidarität: Sie be-
deutet eine Herausforderung, die nationale
Grenzen ignoriert und die Handlungsfähigkeit
einzelner Staaten teilweise drastisch überfor-
dert. Wenn wir die großen strategischen He-
rausforderungen des neuen Jahrzehnts – von
der Digitalisierung über die Migration bis zur Si-
cherheitspolitik – bestehen wollen, werden wir
Europäer das nur gemeinsam schaffen können.
Krisen können Chancen für Europa sein – so wie
die Balkankriege der 1990er-Jahre, die zum Be-
ginn einer europäischen Außenpolitik führten.
Das Coronavirus hat das Potenzial zum Be-
schleuniger von zwei entgegengesetzten Prozes-
sen zu werden: Entweder es vertieft die ohne-
hin in Europa existierenden Risse so massiv,
dass die Union daran auseinanderbrechen
könnte. Oder es gelingt der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten im Kampf gegen das
Virus und seine Folgen zu einigen. Es kommt
jetzt sehr stark auf uns Deutsche an, welchen
Weg Europa einschlagen wird. Viel Zeit dafür
haben wir nicht mehr!

Joschka Fischer (links) führte die Grünen 1985
in Hessen zum ersten Mal in eine
Landesregierung. Von 1998 bis 2005 war er
Bundesaußenminister.

Sigmar Gabriel wurde 1999 Ministerpräsident
von Niedersachsen. Später war er
SPD-Vorsitzender sowie im Bundeskabinett
Umwelt-, Wirtschafts- und bis 2018
Außenminister.

BrauerPhotos / J.Reetz, Oliver Schmauch für Handelsblatt, [M]

Europa


droht zum


Nullsummen -


spiel zu


werden,


bei dem


Nationalstaa ten


glauben, dass


immer einer


verlieren muss,


wenn ein


anderer etwas


bekommt.


Wirtschaft & Politik
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