Handelsblatt - 06.04.2020

(Martin Jones) #1

Worte des Tages


„Wenn eine Regierung so drastische
Maßnahmen beschließt, muss sie sehr gut
erklären, warum sie notwendig sind. Da ist
mir die Kommunikation nicht klar genug,
das geht besser.“
Katja Suding, Vizechefin der FDP-Bundestagsfraktion

Masken-Nationalismus


Alles


meins!


W


er vor einem halben Jahr
prophezeit hätte, dass
Atemschutzmasken ein-
mal zum begehrtesten Produkt auf
dem Weltmarkt werden würden,
wäre belächelt worden. Doch die
Coronakrise hat die Welt verändert.
Die Pandemie stellt alles auf den
Kopf, sogar die America-first-Politik
von Donald Trump. Bisher ging es
dem US-Präsidenten darum, das
Handelsdefizit der USA zu schlie-
ßen. Doch jetzt ist aus der Strategie
der Export- eine Strategie der Im-
portmaximierung geworden. Weil
Trump die Virusgefahr so lange ge-
leugnet hat, bis es zu spät war, ver-
sucht die US-Regierung verzweifelt,
Schutzmasken ins Land zu bringen.
In diese Lage platzte die Be-
schwerde des Berliner Senats: Die
USA sollen der Berliner Polizei
Atemmasken weggeschnappt ha-
ben. Das Weiße Haus weist die An-
schuldigungen zurück. Tatsächlich
gibt es viele Ungereimtheiten, und
der Senat hat seine Darstellung in-
zwischen geändert. Doch konnte
die Geschichte nur deshalb ein so
großes Echo entfalten, weil aus
Frankreich und Kanada ähnliche
Vorwürfe kommen. So viel ist si-
cher: Die USA haben ein Gesetz aus
dem Koreakrieg aktiviert, das die
Regierung berechtigt, in Lieferbe-
ziehungen von US-Firmen einzu-
greifen. Amerika würde weiter
Schutzausrüstung aufkaufen, „bis
wir viel zu viel haben“, lässt sich ein
Regierungsbeamter zitieren. So ver-
schärfen die USA international die
Ängste vor Engpässe – und doku-
mentieren den Verlust ihrer morali-
schen Autorität. Die Alles-meins-
Doktrin ist kein Ausdruck von
Macht, sondern der Hilflosigkeit.
Allerdings sind auch die empör-
ten Reaktionen deutscher Politiker
schwer zu ertragen. Eine der ersten
deutschen Maßnahmen in der Co-
ronakrise war die Verhängung eines
Exportstopps für medizinische
Schutzausrüstung. Dringende Bitten
der Italiener, Hilfsgüter zu liefern,
wurden viel zu lange ignoriert.
Masken-Nationalismus bietet kei-
nen Ausweg aus der Krise, er ver-
schlimmert sie. Eine Pandemie wird
entweder durch globale Kooperati-
on eingedämmt. Oder gar nicht.


Die US-Regierung versucht,
medizinische Schutzausrüstung zu
horten. Doch Europa macht es
kaum besser, sagt Moritz Koch.

Der Autor ist Senior
Correspondent.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]


F

rankreich und Deutschland verstehen
sich als Motor und Garant der EU und
der Euro-Zone. Doch ihre Zusammenar-
beit in der Coronakrise wird diesem An-
spruch nicht gerecht. Sowohl im Hin-
blick auf die Pandemie als auch auf deren wirtschaft-
liche Folgen bleiben sie eine gemeinsame Antwort
auf die Krise schuldig.
Beide Staaten haben ein rein nationales Paket für
die Rettung der eigenen Wirtschaft beschlossen. An-
schließend wurde gefährliche Symbolpolitik betrie-
ben, wie das Schließen der Grenzen, das die Liefer-
ketten zusätzlich behinderte. In mancher Hinsicht
läuft es derzeit schlimmer als während der Euro-Kri-
se: Frankreich reißt sich Schutzmasken unter den Na-
gel, die Schweden zustehen. Der saarländische In-
nenminister verrammelt die Grenzen nach Westen,
als stünde dort wieder der Erbfeind. In der Landes-
hauptstadt Saarbrücken werden Franzosen die Autos
zerkratzt, und der Einkauf wird ihnen verweigert.
Man könnte vor Scham im Boden versinken, doch die
verantwortlichen Politiker scheint das kaltzulassen.
2010 suchten Angela Merkel und Nicolas Sarkozy
gemeinsam im Europäischen Rat und am Strand von
Deauville nach Lösungen, die weit über die beste-
henden Regeln und Instrumente hinausgingen. Heu-
te ist die Krise umfassender, trifft sie jedes Land. Die
Euro-Krise ließ die Risikoprämien in die Höhe
schnellen, Covid-19 die Zahl der Toten. Doch Frank-
reich und Deutschland reagieren so, als müssten sie
lediglich den laufenden Gang der Geschäfte regeln.
„In Italien und Spanien sterben jeden Tag Hunder-
te Menschen, während man im Berliner Kanzleramt
an die Bankkonten der Deutschen denkt“, schreibt
bitter der italienische Journalist Roberto Brunelli.
Die Todeszahlen im Süden sind auch deshalb höher,
weil nach der Euro-Krise der Gesundheitssektor ge-
schrumpft wurde. Deutschland und Frankreich ha-
ben diese Politik damals gemeinsam betrieben, um-
so größer ist heute ihre Verantwortung, es besser zu
machen.
Sicher, der französische Finanzminister Bruno Le
Maire und sein deutscher Kollege Olaf Scholz reden
häufig miteinander, ihre engsten Mitarbeiter prak-
tisch täglich. Doch diese Zusammenarbeit ist ohne
Ambitionen. Das Höchste der Gefühle: Anfang der
Woche werden möglicherweise Kredite des Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus (ESM) ohne die übli-
chen Auflagen für Strukturreformen vereinbart.
Überzeugende Gründe für diese Kleinmütigkeit
gibt es nicht mehr. In Deutschland haben sich die ge-
sellschaftlichen Mehrheiten verändert. Die Deut-
schen wissen, dass sie nicht auf einer Insel leben.

Für Ärzte, Unternehmer und Ökonomen ist Europa
die zweite Haut geworden. Die Pandemie und die
folgende Wirtschaftskrise wollen wir mit unseren eu-
ropäischen Nachbarn gemeinsam durchstehen.
Deutsche Ärzte kämpfen um das Leben französi-
scher Patienten mit derselben Hingabe wie um das
von Deutschen. Unternehmen wollen die Kooperati-
on verstärken, verstehen, dass Hilfe für die Nach-
barn auch im besten eigenen Interesse liegt, weil wir
sonst keinen Aufschwung haben werden.
Während der Euro-Krise fürchteten viele Deut-
sche, sie müssten für den Schlendrian der Südländer
haften. Heute muss man fürchten, dass Deutsche,
Italiener, Franzosen und Spanier für den Schlend-
rian von Regierungen und eine müde EU-Kommissi-
on haften werden, die in nationalen Grenzen denken
oder sich in juristischen Fingerübungen verlieren.
Das hat viel damit zu tun, dass die entscheidenden
Gespräche von einem Dutzend Personen geführt
werden, die sich seit Jahren in herzlicher Abneigung
verbunden sind. Die Schuld ist gleichmäßig verteilt:
Die deutsche Ministerialbürokratie wiederholt ihr
Mantra „keine Vergemeinschaftung von Schulden“,
obwohl wir die über ESM, Europäische Investitions-
bank und EU längst haben. Dem französischen Fi-
nanzministerium und Schatzamt fällt nicht mehr
ein, als auf das morsche Tabu der Europa-Bonds ein-
zudreschen. Nicht einmal den gemeinsamen Rat der
Wirtschaftsweisen haben die beiden Regierungen
einberufen: Sie schlafwandeln.
Schnelle und pragmatische Ansätze dafür, wie
Schutzkleidung, Tests, Beatmungsgeräte länderüber-
greifend hergestellt werden können, bleiben dabei
auf der Strecke. Das gilt genauso für die Planung,
wie man den Exit aus der Phase der Ausgangssper-
ren und des künstlichen Komas der Wirtschaft findet
und koordiniert. Und noch mehr für die Überlegun-
gen, die jetzt schon angestellt werden müssten mit
Blick auf die notwendige Veränderung der Lieferket-
ten, für eine größere Autonomie Europas nicht nur
bei medizinischem Gerät und Pharmazeutika, son-
dern bei allem, was für Europa lebenswichtig ist.
Die Bürger eilen im Moment der weitgehend natio-
nal denkenden Politik voraus. Das ist einerseits beru-
higend, was den Zustand der öffentlichen Meinung
angeht. Doch es kann einen andererseits zur Verzweif-
lung treiben, weil dies nun einmal die Stunde der Exe-
kutive ist und diese darüber entscheidet, was in
Europa geschieht. Oder besser gesagt: nicht geschieht.

Frankreich und Deutschland


Die beiden


Schlafwandler


Deutschland und
Frankreich
arbeiten in der
Coronakrise nicht
zusammen. Dabei
erwarten die
Bürger dies, sagt
Thomas Hanke.

Die Euro-Krise


ließ die


Risikoprämien


in die Höhe


schnellen,


Covid-19 die


Zahl der Toten.


Doch Paris und


Berlin agieren,


als müssten


sie nur


die laufenden


Geschäfte


regeln.
Der Autor ist Korrespondent in Paris.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Meinung


& Analyse


MONTAG, 6. APRIL 2020, NR. 68
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„Ich hoffe, dass wir nach
Ostern Schritt für Schritt
an den Grenzen wieder zu
vollständiger Normalität
zurückkommen.“
Ylva Johansson, EU-Innenkommissarin

„Unsere Aufgabe als
Bundesregierung ist es, uns
für unsere Bevölkerung auf
den schwierigsten Teil
dieser Krise vorzubereiten.“
Helge Braun, Kanzleramtsminister

Stimmen weltweit


Der Londoner „Guardian“ schaut auf die USA und
gibt Präsident Donald Trump eine große
Mitschuld an der offenbar unzureichenden
Antwort auf die Ausbreitung des Coronavirus.

D


as reichste Land der Welt ist schon von sei-
ner Struktur her schlecht gerüstet, um eine
solche Krise zu bewältigen. Das Fehlen einer
allgemeinen Gesundheitsfürsorge oder grundlegen-
der Arbeitnehmerrechte wie einer gesetzlich gere-
gelten Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sowie die
niedrigen Einkommen, von denen viele Amerikaner
leben müssen, begünstigen die Ausbreitung von
Krankheiten und dass diese auch noch die schwer-
wiegendsten Folgen haben.
Aber ein völliges Versagen der Führung – der Man-
gel an Entschlossenheit, Einsicht, grundlegender
Kompetenz und sogar an Widerspruchsfreiheit in
der Trump-Administration – hat das Problem noch
verschärft. Und ohne die Arbeit der Gouverneure
der Bundesstaaten und der Institutionen, die der Re-
gierung zuvorgekommen sind und mit ihren Aktio-
nen viel weiter als diese gegangen sind, wäre die La-
ge noch schlimmer. Donald Trump hat sie besten-
falls sich selbst überlassen oder gar ihren Kampf
gegen das Coronavirus aktiv behindert.

Die britische „Times„ beschreibt einen Schock
durch Corona bei Zeitungen, gerade im Lokalen:

D


ie Medienforschungsfirma Enders Analy-
sis schätzt, dass die Verkäufe an Zeitungs-
kiosken sich rasch halbieren werden, wo-
durch der Zeitungsindustrie in diesem Jahr ein
Verlust von rund 110 Millionen Pfund (125 Millio-
nen Euro) entsteht. Einen solchen Schock dürften
viele lokale Zeitungen nicht überleben. (...) Zu je-
der Zeit wäre es schlecht, Lokalzeitungen zu ver-
lieren, doch während einer Pandemie sind sie be-
sonders wichtig. (...) Sie können lebenswichtige
Informationen über plötzliche Veränderungen bei
den örtlichen öffentlichen Diensten, zu Nachbar-
schaftshilfe für Gefährdete oder über Virusaus-
brüche in der näheren Umgebung liefern. Sie kön-
nen auch dazu beitragen, dass Probleme mit der
Reaktion örtlicher Behörden bekannt werden und
somit gewährleisten, dass Ressourcen dort einge-
setzt werden, wo man sie benötigt. Internetplatt-
formen wie Facebook sind weder so vertrauens-
würdig noch so verantwortungsbewusst wie un-
abhängige, der Faktenprüfung verpflichtete Zei-
REUTERS, dpa (2)tungen.

Der „Standard“ aus Wien hofft darauf, dass nach
der Coronakrise auch andere Herausforderungen
konzertiert angegangen werden.

W


ie schön wäre es, ginge unser Staat – ist
das Virus erst einmal besiegt – mit der
gleichen Vehemenz gegen die anderen
Seuchen vor, die zwar genauso unsichtbar, aber min-
destens ebenso bedrohlich sind wie das Coronavi-
rus: Ungleichheit etwa, Rassismus oder Klimawan-
del. Expertinnen und Experten, die jetzt, wo wegen
der Pandemie nun einmal der Hut brennt, von der
Politik geschätzt und zitiert werden, gibt es auch bei
diesen Themen zuhauf. Bisher verhallten ihre Rufe
meist ungehört, taugten höchstens für Sonntagsre-
den – und waren am Montag vergessen. Ob sich das
nun, wo wir als Gesellschaft durch eine der schwers-
ten Krisen seit Menschengedenken gehen, ändert,
steht in den Sternen. Aber man wird ja wohl noch
träumen dürfen. Denn wenn nicht jetzt, wann dann?

D


ie britischen Sozialdemokraten haben ihr Expe-
riment mit dem scharfen Linkskurs wieder be-
endet. Nach zwei Wahlniederlagen hat die La-
bour-Partei eingesehen, dass die Politik von Jeremy Cor-
byn wohl doch nicht mehrheitsfähig ist. Mit Keir Star-
mer haben sie nun einen Vertreter der Mitte zum Par-
teichef gewählt. Die Kandidatin des linken Flügels, Re-
becca Long-Bailey, musste sich geschlagen geben.
Corbyn hatte versucht, das Erbe des wirtschafts-
freundlichen Reformers Tony Blair zu tilgen. Alle wich-
tigen Parteiämter hatte er mit seinen Gefolgsleuten be-
setzt. Nun schwingt das Pendel zurück. Starmer muss
die zerstrittene Traditionspartei wieder zu einer ernst
zu nehmenden Kraft machen, die Wahlen gewinnen
und regieren kann. Das wird nicht leicht, denn die briti-
schen Genossen stecken in der gleichen Sinnkrise wie
die Sozialdemokratie überall. Der interne Flügelkampf
hat jahrelang alle Energien gebunden. Starmer muss
die Partei zusammenführen und neu verorten.
Da hat es fast etwas Gutes, dass die Opposition in der
Corona-Pandemie vollkommen abgemeldet ist. Die Kri-

se ist die Stunde der Exekutive – das zeigen die steigen-
den Umfragewerte von Boris Johnsons Konservativen.
Im Kampf gegen das Virus ist eine nationale Anstren-
gung gefragt, Kritik ist verpönt. Starmer tut daher gut
daran, sich zunächst zurückzuhalten.
Doch könnte die Coronakrise langfristig den Boden
für das Comeback der Labour-Partei bereiten. Erstens
gibt Johnson als Krisenmanager bislang kein gutes Bild
ab. Ihm wird vorgeworfen, zu spät gehandelt zu haben.
Als in Italien bereits die Ausgangssperre herrschte, tum-
melten sich in Großbritannien noch Zehntausende
beim Pferderennen. Den Tories wird obendrein ange-
lastet, das Gesundheitssystem NHS in ihren zehn Regie-
rungsjahren kaputtgespart zu haben. Labour hat als Er-
finderin des NHS auf dem Gebiet die größere Glaubwür-
digkeit.
Zweitens bauen die Tories in der Krise den Staat mas-
siv aus. Weitere Milliardenhilfen und Verstaatlichungen
werden erwartet, die Schuldenquote könnte schon bald
100 Prozent der Wirtschaftsleistung übersteigen. Die
Rückkehr des starken Staates sollte Labour in die Hän-
de spielen. Es wird den Konservativen künftig schwer-
fallen, den Genossen ihre Staatsgläubigkeit und eine zu
lose Haushaltspolitik vorzuhalten.
Zweifel hingegen sind angebracht, ob Starmer seine
Landsleute ausreichend begeistern kann. Der frühere
Staatsanwalt ist sehr eloquent, aber nicht charisma-
tisch. Neben Johnson wirkt er wie ein blasser Karriere-
politiker. Starmers Ernsthaftigkeit kann ihm in Krisen-
zeiten jedoch auch zum Vorteil gereichen – gerade ge-
genüber Leichtfuß Johnson.

Labour-Partei


Abschied vom Linkskurs


Mit der Wahl des neuen
Parteichefs zieht Labour endlich
einen Schlussstrich unter die Ära
Jeremy Corbyn, meint Carsten
Volkery.

Der Autor ist Korrespondent in London.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Wirtschaft & Politik


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