Handelsblatt - 06.04.2020

(Martin Jones) #1
Ingo Narat Frankfurt

Z

eitenwende, Einbruch, Kollaps: Viele
Worte beschreiben das, was sich an den
europäischen Fondsmärkten tut. Der
Coronaschock beschert der Anlagebran-
che historische Zahlen – im negativen
Sinn. „Wir erleben einen Erdrutsch, so viele Fonds
wie in den letzten Wochen haben Anleger noch nie
verkauft“, sagt Ali Masarwah. Der Analyst der Ra-
tingagentur Morningstar errechnete Zahlen, die
dem Handelsblatt exklusiv vorliegen. Nach dieser
Schätzung auf Basis von rund 90 Prozent aller in
Europa angebotenen Fonds verkauften Anleger im
Krisenmonat März Anteile für netto 202 Milliarden
Euro. Masarwah beschreibt den Ausnahmezu-
stand: „Der Rückzug ist noch größer als in der Fi-
nanzkrise, da herrscht die pure Angst.“
Die endgültigen Zahlen werden noch höher aus-
fallen. Nicht enthalten ist das institutionelle Ge-
schäft mit Großinvestoren. Doch auch die grobe
Annäherung an das Geschehen auf dem Markt für
Privatanlegerfonds mit einem Volumen von rund
9,4 Billionen Euro spiegelt bereits eine dramatische
Stimmungswende wider. Noch im Februar inves-
tierten die Anleger in Europa für netto 40 Milliar-
den Euro. Die jähe Wende im Folgemonat kam bei
allen großen Anlageklassen: bei Aktien, Anleihen
und Mischfonds. In allen Segmenten gaben die In-
vestoren Anteile zurück. „Die Anleger reagierten
durchweg panisch, es schien nur noch einen siche-
ren Hafen zu geben, und das war Cash“, sagt Mau-
ro Baratta, Fondsexperte beim Finanzdienstleister
Broadridge in London.
Gunther Westen erklärt die Dramaturgie der
Krisenwochen. Der Leiter Vermögensstrukturie-
rung bei Oddo BHF Asset Management erkennt
ein Wellenmuster mit Abwärtsspirale. Erst seien
Aktien verkauft worden, dann riskantere Anlei-
hen, anschließend Bonds mit gutem Rating, zu-
letzt sogar die als sicher geltenden Bundesanlei-
hen und Gold. „Am Ende wollten Anleger nur
noch Liquidität schaffen, sie haben deshalb um fast
jeden Preis alles verkauft“, sagt Westen. Die Inves-
toren seien extrem verunsichert gewesen. Und das
habe Gründe: „Die Finanzkrise erschien vielen Pri-
vatanlegern noch abstrakt und fern, aber jetzt geht
es um die eigene Gesundheit, und das Thema Co-
rona begegnet uns überall im Alltag.“

Größte Panik bei Anleihen
Besonders extrem fallen die Absatzzahlen bei den
Anleihefonds aus. Den Februar-Zuflüssen von
26 Milliarden Euro folgten März-Abflüsse von 106
Milliarden Euro. „Auf den Verkaufslisten stand al-
les, was irgendwie mit höheren Risiken verbun-
den war“, sagt Sascha Specketer, Deutschland-
Vertriebschef des Vermögensverwalters Invesco.
Das deckt sich mit den Schätzungen von Mor-
ningstar. Die größten Anteilsrückgaben gab es bei
Produkten, die vor allem in Bonds aus Schwellen-
ländern und von Unternehmen mit schlechtem
Rating investieren. Genau dort hatten Investoren
in den letzten Jahren nach Mehrrendite gesucht,
weil in der Tiefzinswelt klassische Staatsanleihen
keine attraktiven Einnahmen mehr lieferten.
Diese Jagd nach Rendite erklärt die Rekordzu-
flüsse in Anleihefonds im vergangenen Jahr. „Vie-
le Kunden waren sehr hoch investiert“, erinnert
sich Invesco-Mann Specketer. Dabei verloren die
Anleger laut Experten ihr Gespür für das echte
Risiko, denn die Zinsvorsprünge gegenüber risi-
kolosen Staatstiteln waren im Zuge des Kaufan-
sturms extrem geschrumpft. Das rächte sich jetzt.
„Die Emerging-Markets-Titel haben in der Krise
im Vergleich zu anderen Bondsegmenten am
stärksten im Kurs verloren“, sagt Specketer. Laut
Experte Westen fielen die Kurse hochverzinster
Schwellenländer-Anleihen in diesem Jahr im
Schnitt um fast ein Fünftel. Das ist für Bonds eine
extreme Veränderung.
Ähnlich deutlich waren die Rückschläge bei Un-
ternehmensemissionen aus den Industrielän-
dern, sofern diese ein schlechtes Rating hatten

Massiver

Rückzug

Anleger haben im März aus Furcht vor weiteren Verlusten


Fondsanteile in Rekordhöhe verkauft. Manche Experten glauben,


dass sie nach der Coronakrise allenfalls zögernd wieder einsteigen.


Kurstafel im Frankfurter
Handelssaal: Auch Fonds-
anleger sind aufgrund der
Turbulenzen an der Börse
stark verunsichert.

Marc-Steffen Unger

Private


Geldanlage


MONTAG, 6. APRIL 2020, NR. 68
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und daher zum Ausgleich mehr Rendite boten.
Bei den Titeln mit gutem Rating waren die Krisen-
verluste ebenfalls spürbar. Westen beziffert sie
auf sieben Prozent. Durch die spiegelbildlichen
Renditesteigerungen in der Krisenphase machen
solche Papiere jetzt zwar wieder einen attraktive-
ren Eindruck. Doch Detlef Glow, Fondsexperte
beim Finanzinformationsdienstleister Refinitiv,
warnt mit Blick auf die dramatische Konjunktur-
lage: „Wenn die Firmen keine Einnahmen mehr
haben, wird es schwierig mit der Bedienung der
Anleihen.“ In den Emissionen stecken seiner Mei-
nung nach daher deutliche Risiken. Broadridge-
Experte Baratta sagt: „Einige Anleihefonds haben
bereits deutliche Verluste, und das hat die An-
teilsbesitzer nervös gemacht.“
Fragezeichen stehen jetzt ebenfalls hinter den
klassischen Mischfonds. Noch im Februar
kauften Anleger solche Produkte für
netto sieben Milliarden Euro, da-
nach stiegen sie im März im
Umfang von 26 Milliarden
Euro aus. „Die Deutschen
sind die klassischen Misch-
fondsanleger“, sagt Glow.
Das Phänomen ist bekannt:
Der risikoscheue deutsche
Privatanleger näherte sich
damit auch der Aktie, denn
Mischfonds halten mehr oder
weniger hohe Anteile an Unter-
nehmensbeteiligungen. Doch
jetzt haben solche Produkte eben-
falls zweistellige prozentuale Verluste
hinnehmen müssen. Wie das längerfristig wirkt,
darüber gehen die Meinungen auseinander. Man-
che Beobachter erwarten ein verändertes Kauf-
verhalten in diesem Bereich. Die Fachleute von
Scope rechnen damit, dass sich die Anleger von
den großen Verlierern verabschieden und auf die
Produkte mit relativ guten Krisenergebnissen
konzentrieren.
Die Zukunftsfrage stellt sich verschärft bei rei-
nen Aktienfonds. Hier war die Unsicherheit der
Anleger am stärksten spürbar: Der Welt-Aktienin-
dex verlor in den Krisenwochen mehr als ein
Drittel an Wert. Es war der schnellste Einbruch
der Geschichte. Entsprechend fallen die Zahlen
für den Fondsmarkt aus. Hatten Anleger in
Europa im Februar noch für zwei Milliarden Euro
Anteilsscheine erworben, verkauften sie im März
für netto 47 Milliarden Euro.
Auch hier waren die auf Schwellenländer kon-
zentrierten Aktienfonds am härtesten betroffen.
Nach den immensen Börsenverlusten schöpft Ex-
perte Westen zumindest ansatzweise Hoffnung.
„Die totalen Abverkäufe an den Märkten sind
größtenteils durch, die ganz großen Verwerfun-
gen vorbei, Abschläge bei Aktienindizes von zehn
Prozent an einem Tag wie im März werden wir

nicht mehr sehen“, meint er. Die Unterstützungs-
maßnahmen der Regierungen und der Notenban-
ken wirkten positiv, fügt Westen hinzu. Es brau-
che aber jetzt erst einmal bessere Nachrichten
zur Eindämmung des Coronavirus. „Dann sehen
wir vielleicht schon im Mai wieder bessere Zu-
flusszahlen bei den Anleihefonds“, spekuliert
Westen. Die risikoreicheren Anlagegruppen könn-
ten später nachziehen. Ähnlich denkt Specketer
von Invesco, ohne sich auf eine Zeitperspektive
einzulassen. Auch er wartet auf eine Wende in
der Coronakrise: „Dann werden die Anleger auch
wieder Produkte für Aktien und gut bewertete
Anleihen kaufen.“
Insbesondere aus deutscher Sicht sind Spar-
pläne ein großes Thema. Solche regelmäßigen
Käufe von Aktienfonds oder Mischprodukten wa-
ren in den vergangenen Jahren sehr popu-
lär. Viele Sparer wollen so zusätzlich
Vermögen ansammeln und für
den Lebensabend vorsorgen.
„Die meisten Kunden werden
das durchhalten, das erwarte
ich jedenfalls“, sagt Specke-
ter. Darüber hinaus erkennt
er einen Trend zu individu-
ellerer Beratung, der das Ge-
schäft stütze. Nach seinen
Beobachtungen stellen im-
mer mehr Anleger ihr Depot
mit ausgewählten Aktien- und
Anleihefonds zusammen. „Das
machen sie in Eigenregie oder mit
Unterstützung durch den Berater“, sagt
der Invesco-Mann. Gerade bei jüngeren Sparern
komme das an. Deshalb sei für künftige Nachfra-
ge gesorgt.
Vorsichtiger beurteilen unabhängige Experten
die Perspektiven. Ihrer Meinung nach sind die Fol-
gen der Börsenrückschläge für die Aktienkultur
absehbar. Glow drückt es so aus: „Der risiko-
scheue Deutsche wird sagen: Ich habe doch recht
gehabt, keine Aktien zu kaufen.“ Große Börsen-
rückschläge habe es bereits in den Jahren 1987,
2000 und 2008 gegeben. „Jetzt haben wir die
nächste Krise mit hohen Verlusten – und wieder
ist eine Anlegergeneration raus“, sagt er. Für ihn
ist klar: „Auf Aktien brauche ich den typischen
Privatanleger in den nächsten Jahren nicht mehr
anzusprechen.“
Masarwah kann seinen skeptischen Ausblick
ebenfalls kaum verhehlen. „Man darf sich nichts
vormachen: Wenn es an den Märkten weiter run-
tergeht, dann gehen auch die Abflüsse weiter“, sagt
er. Und bei einer Börsenerholung dürften die Zu-
flüsse eher moderat ausfallen. Den aktuellen Ein-
bruch könne der Anleger nicht so einfach wegste-
cken. Das belaste die gerade in Ansätzen aufkei-
mende Aktienkultur in Deutschland: „Da ist viel
Porzellan zerschlagen worden.“

Bulle & Bär

Vorsicht vor


verfrühtem


Optimismus


N


ach nichts sehnen sich Aktien -
anleger in den Wochen nach dem
schnellsten Börsenabsturz aller
Zeiten so sehr wie nach Signalen für eine
Erholung an den Börsen. Als ein mögli-
ches Hoffnungszeichen wird derzeit oft die
Tatsache genannt, dass die großen Indizes
ihre jüngsten Tiefs hinter sich gelassen ha-
ben. Der Dax hat in den vergangenen Ta-
gen kurzzeitig sogar wieder die Marke von
10 000 Punkten überschritten. Damit lag
er mehr als 1 800 Zähler und somit rund
20 Prozent über dem vor gut zwei Wochen
erreichten Sechseinhalbjahrestief. Beim
amerikanischen S&P 500, der kurz nach
dem Dax ein Vierjahrestief markiert hatte,
ist die Entwicklung ähnlich.
Doch Zeichen für eine Stabilisierung
sind das leider noch nicht. Das zeigt ein
Blick in die Vergangenheit. Die Börsen be-
finden sich immer noch inmitten eines so-
genannten Bärenmarkts. Davon spricht
man, wenn Indizes im Vergleich zu ihren
Hochständen um mindestens 20 Prozent
gefallen sind. Das ist nach wie vor gegeben.
Der Dax liegt mit seinem Stand von derzeit
um die 9 500 Punkte mehr als 30 Prozent
unter seinem Allzeithoch von Mitte Febru-
ar. Beim S&P 500 beträgt die Entfernung
zum Rekordstand rund 25 Prozent.
In solchen Bärenmärkten sind Zwi-
schenerholungen üblich. Experten spre-
chen von „Bärenmarktrallys“, die sich im
Nachhinein oft als Falle entpuppt haben.
Am besten zeigt sich das anhand der größ-
ten Tagesrallys im S&P 500. Seit 1964 gab
es inmitten eines Bärenmarkts fünf Tage,
in denen der weltweit wichtigste Börsen-
index jeweils mehr als neun Prozent zuge-
legt hat. Nach vier dieser fünf massiven
Er holungstage fiel der S&P 500 aber in
den Folgemonaten erneut zwischen 13 bis
32 Prozent, bis es dann nachhaltig auf-
wärtsging. Zwei dieser fünf historischen
Tage mit Kursanstiegen um mehr als neun
Prozent gab es dabei in den vergangenen
Wochen, und zwar am 13. und am 24.
März. Der 13. März ist dabei schon jetzt als
Bärenmarkt-Falle enttarnt, nach der Zwi-
schenerholung verlor der S&P 500 bis
zum 23. März fast 18 Prozent. Seither mar-
kierte der Index zwar kein neues Tief,
doch jetzt ist die Gefahr groß, dass es er-
neut abwärtsgeht. Die Prognosen mit
Blick auf die Dauer und die Folgen der mit
nichts vergleichbaren Corona-Pandemie
sind einfach noch zu unsicher.

Der tägliche Kommentar
des Handelsblatts analysiert
die Entwicklung
an den Finanzmärkten.
Von Andrea Cünnen

Auf den Verkaufslisten


stand alles, was irgendwie


mit höheren Risiken


verbunden war.


Sascha Specketer
Invesco

Anleger verlieren das Vertrauen
Geschätzte Nettozu-/-verkäufe von Investmentfonds in Europa in Mrd. Euro

+40
Mrd. €

Februar
2020

März 2020

-202 Mrd. €

HANDELSBLATT März-Schätzung auf Basis von rund 90 Prozent aller Fonds • Quelle: Morningstar

Gesamtmarkt Anleihen Aktien Mischfonds Sonstige

-106

+26

+2 -47 -26
+7
+5 -23

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