Handelsblatt - 06.04.2020

(Martin Jones) #1

Die Luftfahrt


hat es nicht


nur als Erste


erwischt,


sie wird auch


am längsten


unter der Krise


leiden.


Gerald Wissel
Berater Airborne
Consulting

Jens Koenen Frankfurt

E

s ist für Carsten Spohr eine extrem
schwierige Situation. Der Lufthansa-
Chef hat wieder und wieder gegen Air-
lines im Staatsbesitz gewettert. Etwa
gegen die Rivalen am Persischen Golf.
Oder gegen die Dauerstütze für die seit drei Jahren
insolvente Alitalia. Nun muss sich der oberste Luft-
hanseat langsam mit dem Gedanken anfreunden,
bald selbst den Staat als Aktionär begrüßen zu kön-
nen. Weil es nicht anders geht.
„Die Luftfahrt hat es nicht nur als eine der ersten
Branchen erwischt und das auch noch mit am hef-
tigsten. Die Industrie wird sicherlich auch am
längsten unter der Krise leiden“, prognostiziert Ge-
rald Wissel vom Beratungsunternehmen Airborne
Consulting.
Die Szenarien häufen sich, die wie Wissel davon
ausgehen, dass es bis mindestens Ende des Jahres
oder gar bis Ostern 2021 dauert, bis die Branche
halbwegs zur Normalität zurückgekehrt sein wird.
Der Weltairlinesverband IATA geht davon aus, dass
bei einem dreimonatigen Shutdown die angebote-
ne Kapazität selbst im vierten Quartal dieses Jahres
weltweit immer noch rund zehn Prozent niedriger
sein wird als vor der Krise geplant.

Erholung erst Ostern 2021
Ähnlich beurteilt die Arbeitsgemeinschaft Deut-
scher Verkehrsflughäfen (ADV) die Aussichten. In
einer ersten Abschätzung – für den besten und den
schlechtesten Fall – haben deren Experten die
Nachfrageentwicklung beleuchtet. Im schlimmsten
Fall könnte die Zahl der 2020 an den deutschen
Flughäfen abgefertigten Passagiere von rund 248
Millionen auf nur noch 131,5 Millionen einbrechen.
Im besten Fall können es Ende des Jahres 154,9 Mil-
lionen Fluggäste sein.
Das hat mehrere Gründe: Viele Arbeitnehmer
müssten während der Coronakrise große Teile ih-
res Urlaubs nehmen, um sich zum Beispiel um die
Betreuung der Kinder zu kümmern, sagt Berater
Wissel. Sie hätten kaum noch Urlaubstage für Rei-
sen. Zudem werde überall Kurzarbeit angemeldet.

„Selbst wenn die Reisebeschränkungen wieder auf-
gehoben werden, werden viele Kunden erst einmal
nicht bereit sein, in den Urlaub zu investieren.“
Auch im Geschäftsreiseverkehr werde die Erho-
lung erst dann wieder einsetzen, „wenn es einen
Impfstoff gegen das Coronavirus gibt“, so der Ex-
perte. Auch würden viele Unternehmen aus der Er-
fahrung in der aktuellen Krise stärker auf Video-
konferenzen umstellen. Angesichts der wirtschaft-
lichen Folgen von Corona kämen die Budgets –
dazu gehören Dienstreisen – auf den Prüfstand.
Viele Unternehmen in der Luftfahrt haben nicht
genug Reserven, um diesen langen Zeitraum zu
überbrücken. Die IATA geht davon aus, dass die
Fluggesellschaften allein im zweiten Quartal welt-
weit in Summe 61 Milliarden US-Dollar „verbren-
nen“ werden. In der ersten Abschätzung der ADV
ist davon die Rede, dass im schlimmsten Fall viele
Airlines und touristische Dienstleister Insolvenz an-
melden müssten.
Die Folge wird eine massive Veränderung des ge-

samten Marktes sein. Immer mehr Länder greifen
den Fluggesellschaften unter die Arme – auch über
den Einstieg des Staates. Bei Lufthansa etwa zeich-
net sich das mittlerweile ab. Das Unternehmen
schweigt zu Einzelheiten, wie Staatshilfen und ein
mögliches Engagement des Bundes aussehen
könnten. Noch gibt es keine Entscheidung, erst soll
alles andere versucht werden, um die Liquidität zu
sichern.
Unter anderem soll der Konzern schrumpfen. So
wird die Tochter Germanwings, die früher oder
später auf Eurowings hätte verschmolzen werden
sollen, nun wohl schneller geschlossen. Doch ange-
sichts des massiven Mittelabflusses muss die Situa-
tion jeden Tag neu bewertet werden. Es könne
beim Thema Staatsbeteiligung jetzt sehr schnell ge-
hen, heißt es.
Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann
(SPD) hat sogar eine vorübergehende Verstaatli-
chung der „Hansa“ gefordert. Das gilt allerdings als
unwahrscheinlich. Spohr hat darauf hingewiesen,

Überlebenskampf

am Himmel

Die Luftfahrt in Europa wird wohl noch ein


Jahr unter dem Coronavirus leiden. Der Staat


muss bei Airlines einsteigen. Der Branche


drohen Wettbewerbsverzerrungen.


Die größten Fluggesellschaften 2019
Zahl der Flugzeuge und beförderte Passagiere in Millionen

HANDELSBLATT *2018 • Quelle: Unternehmen

1 547215,
200,
1 340
162,

747

162,

1 372

145,

783

139,
840

139,

455

118,

598

109,
684 104,
554

American Airlines
Delta

Southwest
United Continental

Lufthansa
China Southern*

Ryanair
IAG

Air China*
Air France-KLM

Titelthema


Luftfahrt in der Krise


MONTAG, 6. APRIL 2020, NR. 68
4

action press,

Unsere


Bilanz ist


stärker, die


Eigenkapital -


quote ist höher


als bei fast allen


unseren


Wettbe werbern.


Carsten Spohr
CEO Lufthansa, bei
der Bilanzvorlage am


  1. März


Flugzeugindustrie


Airbus kürzt die


Produktionsrate


E


s hatte sich abgezeichnet: Der europäische
Luftfahrtkonzern Airbus reduziert seine
Produktionsrate offensichtlich deutlich.
Das berichten mehrere Nachrichtenagenturen
und Zeitungen. Unternehmenskenner bestätigten
entsprechende Überlegungen. Airbus selbst de-
mentiert die Informationen nicht, will sie aber
auch nicht bestätigen. Man beobachte die Situati-
on weltweit und stehe in einem kontinuierlichen
Dialog mit Kunden, Lieferanten und institutionel-
len Partnern, heißt es.
Betroffen ist vor allem die Fertigung der belieb-
ten Kurz- und Mittelstreckenfamilie A 320, die et-
wa in Hamburg-Finkenwerder produziert wird.
Den Informationen zufolge soll die aktuelle Rate
von 60 Jets pro Monat auf etwas mehr als 30 fast
halbiert werden. Die des Langstreckenflugzeugs
A 350 könnte ebenfalls um die Hälfte auf dann bis
zu fünf Maschinen monatlich fallen. Noch keine
klaren Informationen liegen zur A 330 neo vor.
Mit der drastischen Maßnahme will Airbus ver-
meiden, dass man Flugzeuge auf Halde fertigt.
Denn in der aktuellen Situation – weltweit haben
Airlines große Teile ihrer Flotte wegen der Reise-
beschränkungen zur Eindämmung des Coronavi-
rus geparkt – nimmt kaum eine Fluggesellschaft
neue Jets ab. Liefertermine werden verschoben
oder Bestellungen gar ganz storniert.
Dem Management dürfte die Entscheidung
nicht leichtgefallen sein. Denn gerade in der Luft-
fahrt sind die Lieferketten äußerst sensibel. Ziel
des Unternehmens muss es also sein, die „Sup-
ply-Chain“ möglichst intakt zu halten.
Michael Santo von der Unternehmensberatung
H&Z analysiert seit Jahren rund 2 000 Zulieferer.
Deren Finanzkraft habe im Schnitt nachgelassen,
sagt er: „Viele sind der Neuausrichtung durch
Airbus gefolgt und finanzieren das Working-Capi-
tal selbst, kaufen die Teile selbst ein. Gleichzeitig
ist der Preisdruck gewachsen. Zusammen drückt
das die relativen Margen und treibt den Verschul-
dungsgrad nach oben.“
Santo schätzt, dass ab einer Krisendauer von
zwei Monaten mit erheblichen Produktionsaus-
fällen wohl 15 bis 20 Prozent der Komponenten-
zulieferer (Tier-2-Zulieferer) Insolvenz anmelden
müssten.
In einer aktuellen Präsentation des Bundesver-
bands der Deutschen Luft- und Raumfahrtindus-
trie (BDLI), die dem Handelsblatt vorliegt, heißt
es: „Die deutsche Luftfahrtzulieferindustrie wird
sich in frühestens fünf Jahren erholen.“ Laut
BDLI gibt es in Deutschland rund 2 300 Zuliefer-
betriebe mit rund 115 000 Beschäftigten. 90 Pro-
zent dieser Firmen haben weniger als 100 Millio-
nen Euro Umsatz pro Jahr.
Gerade diese kleinen Firmen dürften beson-
ders gefährdet sein. Die bisher verabschiedeten
Hilfsprogramme würden kaum helfen, heißt es in
der Präsentation. „Es ist Zeit für einen deutschen
Luftfahrt-Fonds“, fordert der BDLI. J. Koenen

Airbus-Techniker
in Hamburg:
Das Unternehmen fährt
die Kapazitäten in der
Produktion deutlich
zurück. dpa

dass die unternehmerische Entscheidungs- und
Handlungsfähigkeit bei der „Hansa“ bleiben müsse.
Doch möglich wäre ein Einstieg des Bundes etwa
über die Konstruktion einer stillen Beteiligung, bei
der der betreffende Anteilseigener keine Stimm-
rechte hat. Auch in den anderen europäischen Län-
dern, in denen der Konzern Tochter-Airlines be-
treibt, gibt es solche Gespräche. So wird in belgi-
schen Medien über eine „Renationalisierung“ von
Brussels Airlines spekuliert. In der Schweiz gibt es in
der rechtsnationalen Partei SVP Stimmen, die for-
dern, Swiss zurückzukaufen, was von deren Spitze
aber zurückgewiesen wurde.

US-Regierung will Airline-Anteile
Die US-Regierung wiederum will den Fluggesell-
schaften der Nation insgesamt 50 Milliarden US-Dol-
lar zur Verfügung stellen, dafür aber Anteile an den
Gesellschaften übernehmen. Das findet bei den Air-
line-Managern wenig Zustimmung. Die großen US-
Anbieter haben mittlerweile gefordert, dass es
Staatshilfen auch ohne Beteiligung geben müsse.
Tatsächlich gibt es durchaus Gründe für eine Be-
teiligung von Staaten an Fluggesellschaften. Die
Luftfahrt ist wichtig für einen Standort. Gleichzeitig
ist es fraglich, ob bloße Liquiditätshilfen helfen.
Denn das Geld muss zurückgezahlt werden.
Die Fluggesellschaften würden mit einer hohen
Schuldenlast aus der Krise kommen – und das in ei-
ner Branche mit traditionell niedrigen Margen. Das
könnte Billiganbieter wie Ryanair in eine noch bes-
sere Position bringen. Die irische Airline hat eine
der besten Bilanzen in der Branche und kann die
Kosten viel radikaler herunterfahren als komplexe
Netzwerkanbieter wie etwa Lufthansa. Nach dem
Ende der Krise dürfte Ryanair verstärkt mit Kampf-
preisen um Kunden werben, Rivalen mit hoher
Schuldenlast könnten kaum mithalten.
Wettbewerbsverzerrungen drohen auch an einer
anderen Front. Viele US-Airlines konnten sich be-
reits vor vielen Jahren durch das US-Gläubiger-
schutzverfahren Chapter 11 von Kreditlasten befrei-
en. Die nun zugesagten gewaltigen Staatshilfen

könnten ihre Wettbewerbsposition gegenüber der
Konkurrenz auch in Europa zusätzlich verbessern.
Zudem würden wohl wirtschaftlich schwache
Fluggesellschaften am Leben gehalten. Gerade in
Europa, wo die Konsolidierung der Branche längst
noch nicht so weit fortgeschritten ist wie etwa in
den USA, könnte die notwendige Marktbereinigung
weiter aufgeschoben werden. Gleichzeitig droht die
Gefahr, dass das Management bei einem Engage-
ment des Staates nicht so schalten und walten kann,
wie es notwendig ist: zum Beispiel interne Struktu-
ren bereinigen und dabei Stellen abbauen.
Sowieso ist es nicht gesagt, dass die „öffentliche
Hand“ als Aktionär ein Garant dafür ist, gut durch
die Krise zu kommen. Das erfahren gerade viele
Flughafen-Gesellschaften. Die Airports sind ange-
wiesen offen zu bleiben, auch wenn kaum Verkehr
ist, also die Einnahmen fehlen und die Kosten wei-
terlaufen. Die Flughäfen würden für den Notfall und
die Versorgung gebraucht, heißt es aus der Politik.
Selbst gegen die Schließung des Berliner Flughafens
Tegel opponierte der Bund, obwohl in Schönefeld
um die Ecke ein zweiter Airport liegt.
Dafür haben die Gesellschafter der Flughafenge-
sellschaft finanzielle Hilfen von bis zu 300 Millionen
Euro zugesagt. Andere Airports müssen dagegen
bangen. Je nach politischer Couleur ihrer jeweiligen
Gesellschafter dürfte es schwer werden, bei einer
Kommune oder einem Land Finanzhilfen zu be-
kommen. Luftfahrt wird von vielen Politikern eher
stiefmütterlich behandelt. Gleichzeitig ist der Weg
zu den Hilfsprogrammen der staatlichen KfW-Bank
bisher versperrt. Denn die stehen nur privatwirt-
schaftlichen Unternehmen offen.
Hier müsse die Politik dringend nachjustieren,
fordert Ralph Beisel, der Hauptgeschäftsführer der
ADV: „Flughäfen erfüllen in schwierigen Zeiten ihre
Funktion der Daseinsvorsorge im Interesse Deutsch-
lands und nehmen dafür hohe Kosten in Kauf “, so
Beisel: „Im Gegenzug benötigen die Flughäfen Un-
terstützung – bei der Liquiditätssicherung, bei der
Übernahme von Kosten oder direkten Zuwendung
des Staates.“

Luftfahrt in der Krise


MONTAG, 6. APRIL 2020, NR. 68
5
Free download pdf