Neue Zürcher Zeitung - 27.03.2020

(Jeff_L) #1

Freitag, 27. März 2020 SCHWEIZ 11


Ein 20-jähriger Spitalsoldat berichtet über seinen Einsatz


in Baden – der erste Teil einer Serie SEITE 12


Die Leserzahlen steigen, doch die Werbeeinnahmen


brechen weg: Nun will der Bund den Medien helfen SEITE 13


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Manche Menschen brauchen eineBehandlung, nehmen diese aber derzeit nichtin Anspruch – dies befürchten Ärzte. CH. RUCKSTUHL / NZZ

Kommen die anderen Patienten zu kurz?


Ärzte warnen vor gravie renden Folgen für die Gesundheit, wenn nötige Behandlungen aufgeschoben werden


SIMON HEHLI, ERICHASCHWANDEN


Bei einem jungen Mann besteht akuter
Verdacht auf Hodenkrebs. Der Hausarzt
schickt ihn zur weiteren Untersuchung
ins Basler Unispital (USB), doch da
taucht derPatient trotzTermin am Don-
nerstag nicht auf – obwohl bei dieser
Krankheit jederTag zählt. Ebenfalls in
dieserWoche kommt ein Kind auf den
Notfall, das sich wegen einerTyp-1-Dia-
betes in lebensbedrohlichem Zustand
befindet.Unter«normalen» Umständen
hätten die Eltern nie so lange zugewar-
tet, davon ist Marc Donath überzeugt.
Der Professor und Chefarzt für Endo-
krinologie, Diabetologie und Metabolis-
mus am USB führt diese aktuellen Bei-
spiele an, um seine Besorgnis zu unter-
streichen. Besorgnis darüber, dass die
völligeFokussierung der Öffentlichkeit
auf die Corona-Pandemie zu immen-
sen gesundheitlichenKollateralschäden
führenkönnte. Die Folgen könnten weit
gravierender sein als der Schaden, den
man nun mit den Anti-Corona-Mass-
nahmen abzuwehren versucht.


Angst vor einer Ansteckung


Es geht Donathkeinesfalls darum, die
Pandemie zu verharmlosen oder die bun-
desrätliche Eindämmungspolitik zu kriti-
sieren. Er will einfach die Nebeneffekte
möglichst geringhalten, zumales zu die-
sen gar nicht zwingendkommen müsse.
Denn es istkeineswegs so, dass das Ge-
sundheitswesen generell am Anschlag
und nur noch auf Corona ausgerichtet
ist. Genau dies sei aber der Eindruck,
den viele Menschen derzeit hätten,
glaubt Donath – auch wegen der geball-
ten Ladung an behördlichen Mitteilun-
gen und Medienberichten über dasVirus.
So gibt es zwei Effekte, die auch eine
Zürcher Hausärztin,die anonym bleiben
will,beschreibt.Patientinnen undPatien-
ten scheuen derzeit davor zurück, zum
Hausarzt oder in den Spitalnotfall zu
gehen, weil sie diese für überlastet hal-
ten. Das haben mehrere Leut e gegen-
über USB-Arzt Donath zumAusdruck
gebracht. Oder sie haben Angst,sich in
der Arztpraxis anzustecken. Bei älteren
Leutenkommt noch der Umstand dazu,
dass sie angehalten sind, die eigeneWoh-
nung nicht zu verlassen.
Laut Donath ist es völlig richtig, wenn
nun nicht alle wegen eines Bienenstichs


zumArztrennen.AberderMedizinerbe-
fürchtet,dassgarvieleMenschen,dieeine
Behandlung nötig hätten,diese nun nicht
in Anspruch nähmen. Er weist darauf
hin, dass Diabetes das Gesundheitspro-
blemNummer 1 in der Schweiz sei,rund
500 000 Menschen sind davon betrof-
fen. «Wenn wirsie nun über eine längere
Zeit vernachlässigen, kann es zu irrever-
siblen Schädigungen der Nieren oder der
Augen kommen – und dieskönnte sich in
der durchschnittlichen Lebenserwartung
niederschlagen.»Wenighilfreichisteben-
falls, dass die Menschen derzeit nicht ins
Fitnessstudio dürfen und sich wohl auch
sonst weniger bewegen als üblich.
Andere Mediziner sehen die Situa-
tion weit weniger dramat isch,etwa
Severin Lüscher, Hausarzt in Schöftland
und grünerAargauer Kantonsparlamen-
tarier. Es zeige sich nun, dass sowohl
Ärzte wie auchPatienten im «Normal-
betrieb» zu viel machten. «Es gibt zahl-

reiche Behandlungen, die sich jetzt pro-
blemlos verschieben lassen.» Alskon-
krete Beispiele nennt erPatienten, die
ein Medikament langfristig einnehmen
müssten und die jeweils einbestellt wor-
den seien, um die Mittel neu einzustel-
len. «Den meisten dieser Leute kann
man kurzfristig problemlos einDauer-
rezept ausstellen», sagt Lüscher.
Auch Philippe Luchsinger, Präsi-
dent des Schweizer Hausärzteverban-
des, hat nichts davon gehört, dass nun in
grösseremAusmass nötige Behandlun-
gen ausbleiben würden. Er betont, die
Ärzte würden dieVorgaben des Bundes
umsetzen. Die entsprechendeVerord-
nung verbietet es, «nicht dringend ange-
zeigte» medizinische Untersuchungen,
Behandlungen undTherapien durchzu-
führen.Eine Behandlung darf allerdings
nur dann verschoben werden, wenn der
Patient keine Nachteile zu erwarten hat,
«die über geringe physische und psychi-

sche Beschwerden und Beeinträchtigun-
gen hinausgehen». Luchsingerschliesst
dennoch nicht aus, dass derzeit man-
che Leute auf eineneigentlich nötigen
Praxisbesuch verzichten – aus Angst
vor einer Covid-19-Ansteckung oder
weil sie die Mediziner entlasten möch-
ten. Beides sei nicht angebracht, betont
Luchsinger. Die Hausärzte träfenVor-
kehrungen, dass Patienten nicht in den
Praxisräumen infiziert werdenkönnten.
Und sie haben Zeit:«Weil wir bewusst
ausgedünnt haben, sind die Sprechstun-
den bei denmeisten meinerKolleginnen
und Kollegen nicht ausgebucht.»
Die erwähnte Hausärztin berichtet,
ihre Gruppenpraxis werde derzeit über-
rannt von echten und unechten Corona-
Fällen, die anderenPatienten hingegen
blieben zu Hause.Die s, obwohl auch klei-
nere Erkrankungen schwereAuswirkun-
gen habenkönnten, wenn man sie nicht
behandelt. So artet eine Blasenentzün-

dung unter Umständen zu einer lebens-
bedrohlichen Sepsisaus. Der Hausarzt
und SP-Nationalrat AngeloBarrile sieht
ebenfalls, dass der Graubereich, der sich
Medizinern eröffnet, gewisse Gefahren
birgt:«Wenn jemandRückenschmerzen
hat, die ins Bein ausstrahlen, schaue ich
mir denPatienten weiterhin in der Pra-
xis an, weil die Gefahr einerLähmung
besteht. Aber dieTriagierung muss ich
nun amTelefon vornehmen.»

Schmerzmittelsta tt Therapie


SeineKollegin hat zudem beobachtet,
dass es – trotz klarer Weisung des Bun-
des – schwieriger geworden sei,Patien-
ten für Operationen an die Spitäler
zu überweisen.Daniel Tapernoux von
der SPOPatientenorganisationrät den
Patienten, dass sie bei Unklarheiten im
Fall einer längerfristigenVerschiebung
einer geplanten Operation eine Zweit-
meinung einholen sollen,bevorzugt tele-
fonisch.So könne geklärtwerden, ob der
Eingriff wirklich nicht dringend sei.
Die Zürcher Hausärztin macht sich
allerdings nicht nur wegen der Situation
in Praxen und Spitälern Sorgen. Dass ein
Teil der Physiotherapeutenderzeit keine
Therapien durchführt, hält sie ebenfalls
für hochproblematisch. Die betroffenen
Patienten müssten stattdessen Schmerz-
mittelschlucken. Undangesichts der
derzeitigen Lieferengpässe bei manchen
Medikamentenkönnten viele gezwun-
gen sein, auf Opiate umzusteigen. Was
das für möglicheFolgen hat, zeigt die
Opioid- und Heroinkrise in den USA
mit vielen Süchtigen undToten.
Osman Besic, Geschäftsführer des
Berufsverbandes Physioswiss, ist indes
überzeugt, dass solcheAuswüchse mit
etwas Flexibilität zu verhindern seien.
SeinVerband hat beantragt, dass die
Krankenkassen während derDauer der
Corona-Krise dieKosten für dieTele-
physiotherapie übernehmen. «Durch
fachmännische Anleitung aus derFerne
können wirPatienten vor irreversiblen
Folgeschäden bewahren», erklärt Be-
sic. Als Beispiel nennter einen 70-jähri-
gen Mann, der unter Kraftverlust in den
Beinen leidet und deswegen bereits in
Therapie war. «Indem man mit ihm sein
Übungsprogrammrepetiert, kann man
den Kraftverlust aufhalten und seine
Beweglichkeit stärken, so dass es auch
nicht zu Stürzenkommt.»

Swisscom liefert Handy-Standortdaten an den Bund


Das Bundesamt für Gesundheit will überprüfen, ob sich die Bevölkerung an das Verbot von Ansammlungen hält


JENNI THIER


Die Swisscomstell t dem Bundesamt für
Gesundheit (BAG) Standortdaten aus
ihrem Mobilfunknetz zurVerfügung. Im
Zusammenhang mit der Corona-Pande-
mie sei eine entsprechendeVerfügung
der Behörden erlassen worden, teilte
der Telekomkonzern auf Anfrage mit.
Mit diesenDaten will dasBAGüberprü-
fen, ob dasVerbot von Ansammlungen
von mehr als fünfPersonen auf öffent-
lichen Plätzen, aufSpazierwegen undin
Parkanlagen eingehalten wird. Zudem
möchte es Hinweise erhalten, ob die
ergriffenen Massnahmen zur Eindäm-
mung der Corona-Krise einen Einfluss
auf die Mobilität der Menschen haben.


Anonymisierte Daten


Eine erste Analyse hat das Amt bereits
er halten.Die Ergebnisse zeigen laut Ge-
sundheitsministerAlain Berset,dass sich
die Bevölkerung diszipliniert verhält und


die Empfehlungen undVorgaben einge-
halten werden. DieTelekomanbieter
Sunrise und Salt teilten mit,dass sie noch
keine entsprechende Anfrage vonseiten
des Bundes erhalten hätten.
Die Swisscom stellt demBAG 24
Stunden alte Standortdaten ihrerKun-
den bereit.Diese entstehen,wenn sich
Smartphones mit den Antennen verbin-
den. Die Daten werden lautSwisscom
unmittelbar nach ihrer Entstehung auto-
matisch anonymisiert und danach für die
Analysen in aggregierterForm aufberei-
tet. Das BAGerhalte Zugriff auf diese
Auswertungen sowie entsprechende
Grafiken auf einer Plattform desTele-
komanbieters. Sie sollen zeigen, in wel-
chen Gebieten mit einer Fläche von 1 00
mal 100 Metern zu einem bestimmten
Zeitpunkt mindestens 20 SIM-Karten
unterwegs waren und so Hinweise auf
Menschenansammlungen auf kleinem
Raum geben. Die Plattform weist laut
Swisscom zudem die ungefähre Mobili-
tät von allen SIM-Karten eines Gebiets,

zum Beispiel eines Kantons, innerhalb
einer bestimmten Zeitspanne aus.»
Die Daten seien vollständig anonymi-
siert und aggregiert und so lediglich als
Gruppenwert erkennbar, sagt einSwiss-
com-Sprecher. «Somit sindkeine Rück-
schlüsse auf Einzelpersonen und auch
keine Bewegungsprofile möglich.Zugriff
auf dieDaten haben zudem nur wenige
PersonenbeimBAG.»DieAngabendürf-
ten weder für andere Zwecke verwendet
noch mit weiterenDaten verknüpft wer-
den, auch nicht für Strafverfahren. Die
Vorgaben desDatenschutzgesetzes wür-
den eingehalten, dasSystem stütze sich
auf Artikel 45b desFernmeldegesetzes.

FreiwilligesGPS-Tracking?


Damit greift die Schweiz in der Bekämp-
fung der Corona-Krise zuMitteln,wie sie
andere europäischeLänder wie Öster-
reich und Deutschland ähnlich bereits
anwenden. Auch dort habenTelekom-
konzerneanonymisierte Standortdaten

ihrerKunden mit Behörden geteilt, um
zu überprüfen, ob sich die Bevölkerung
an dieVorgaben zur Eindämmung des
neuartigen Coronavirus (Sars-CoV-2)
hält – und die Massnahmen greifen.
Von datenschutzrechtlich kritischen
obligatorischenTracking-Apps, wie sie
in verschiedenen asiatischenLändern
zum Einsatzkommen, sieht der Bund
dagegen bisher offiziell ab. Über sol-
che Anwendungen kann der Standort
einerPerson via GPS verfolgt werden–
und zwar präziser als mit denDaten aus
Funkzellen derTelekomanbieter. Diese
GPS-Daten sind teilweise sogar öffent-
lich zugänglich und werden von Behör-
den genutzt, um etwa mit dem Corona-
virus infizierte Bürger zu überwachen.
Gesundheitsminister Berset sagte am
Mittwoch, dass darüber diskutiert wer-
den müsse, ob die Bevölkerung künftig
freiwill ig auch persönliche Informatio-
nen preisgeben wolle. Damit könnten
Behörden dieVerbreitung der Epide-
mie verfolgen.

Hans-Jakob Stahel
Leiter Unter-
nehmenskunden
zum selbstbestimmten
Leben

«Lebensfreude ist


keineAltersfrage.»


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