Neue Zürcher Zeitung - 27.03.2020

(Jeff_L) #1

16 PANORAMA Freitag, 27. März 2020


ZAHLENRÄTSEL NR. 73

SPIELREGELN«KAKURO»:Die Zahlen 1
bis 9 müssen in einer Reihe die Gesamt-
summe ergeben. Diese ist in den schwar-
zen Kästchen linksdavon bz w. darüber vor-
gegeben. Jede Zahl darf innerhalb einer
Summenur einmal vorkommen.

Auflösung:
Zahlenrätsel Nr. 72

Fingerübung am PC löst Corona-Kontroverse aus

Ein Doktorand tr ägt die Zahlen der an Covid-19 Erkrankten zusammen – ist das Ergebnis besser als die offizielle Statistik des Bundes?


STEFAN HÄBERLI, MOOSSEEDORF


Daniel Probst hat dieAufmerksamkeit
nicht gesucht. Er sei eher introvertiert,
sagt der34-jährige Chem-Informati-
ker im Gespräch.Dass der Doktorand
der Universität Bern derzeit ein gefrag-
ter Gesprächspartner ist, liegt an seiner
Website corona-data.ch.Auf dieser stellt
Probst die neusten Corona-Fallzahlen in
der Schweiz übersichtlich und aktueller
dar als das Bundesamt für Gesundheit
(BAG). Einige Schweizer halten denn
auch die Zahlen auf seiner Plattform für
aussagekräftiger als die offiziellen.
Wie kann es sein, dass ein Doktorand
in seinerFreizeit einen besseren Service
public erbringt als dasBAGmit seinen
rund 600 Mitarbeitern?Das liege sicher
nicht daran, dass beim Bundkeine fähi-
gen Informatiker arbeiteten, sagt Probst.
Man habe in der Bundesverwaltung der-
zeit wohl andere Prioritäten.Dass die
offiziellenBAG-Zahlen dennoch jenen


auf corona-data.ch hinterherhinken,
liegt an der unheilvollenKombination
zweierFaktoren: erstens an der kanto-
nalen Hoheit über das Gesundheits-
wesen. Zweitens daran, dass sich Bund
und Kantone in vielerlei Hinsicht noch
in der digitalen Steinzeit befinden.
In der Schweiz führen die Spitä-
ler, Ärzte undLabors die Corona-Tests
durch.Fällt bei einerPerson das Ergeb-
nis positiv aus, muss dies demBAGso-
wie dem Kantonsarzt gemeldet wer-
den.Wie das Online-Magazin «Repu-


blik»recherchiert hat, werden die da-
für benötigtenFormulare teilweise per
Post oderFax übermittelt. Erst seit weni-
genTagenkönnen sie auch über eine
gesicherte E-Mail-Adresse versendet
werden.Allerdings muss dasFormu-
lar zuvor ausgedruckt, handschriftlich
ausgefüllt und gescannt werden. Am
Grundproblem hat sich deshalb kaum
etwas geändert:BAG-Mitarbeiter müs-
sen einenPapierberg abarbeiten und
dieDaten manuell ins zentrale Melde-
system eingeben.

Wieder«wirklich arbeiten»


Genau dies ist der«Wettbewerbsvor-
teil» vonDaniel Probst. Er entdeckte
ihn zufällig. An einem Sonntag habe
er das Bedürfnis verspürt, «wieder ein-
mal in dieTastatur zu hauen». AmFrei-
tag zuvor hatte er seine fertige Disser-
tation eingereicht. «Ich habe fast einen
Monat nur noch geschrieben – und nicht
mehr wirklich gearbeitet», lacht Probst,
der vor seiner akademischen Karriere
eine Berufslehre als Informatiker ab-
geschlossen hat. Deshalb sei er auf die
Idee gekommen, dieDaten desBAGin
eine Statistik-Software einzulesen.
Zunächst habe er dieDaten nur
visualisiert und das Ergebnis ins Inter-
net gestellt.Dann sei ihm aufgefallen,
dass Medien andere Zahlen aus den
KantonenTessin, Genf undWaadt ge-
meldet hätten. Allein die Corona-Todes-
fälle in diesen Kantonenseien zusam-
men höher ausgefallen als jene, die das
BAG landesweit ausgewiesen habe.
Probst wollte wissen, warum. Er ent-
deckte, dass die Kantone dieFallzahlen
im Internet veröffentlichen.Teils in
Medienmitteilungen, teils inTabellen–
noch bevor sie den langenWeg auf die
Website desBAGfinden. Man muss sie
nur zusammentragen, um ein genaueres
Bild der jeweils neusten Situation zu
zeichnen als dasBAG.Und «man» ist
er, Daniel Probst.

DemBAGscheint das peinlich zu
sein. DanielKoch, der oberste Seu-
chenbekämpfer des Bundes, behaup-
tete an einer Pressekonferenz, dieWeb-
site corona-data.ch nicht zukennen. Und
sein StellvertreterPatrick Mathys vertei-
digte die eigene Statistik:«Wir kommen-
tieren diese Zahlen,weil das die einzigen
verlässlichen sind, die wir haben. Andere
Websites grasen Medienmitteilungen
ab.» Er habe niekontrolliert, ob die Zah-
len auch nurannähernd hinkämen.Das
BAGist derzeit daran, dies abzuklären.
Dass er die Corona-Fälle in der
Schweiz überschätzt, kann Probst nicht
ganz ausschliessen. «Es ist möglich, dass
beispielsweise der KantonWaadt auch
Genfer positiv testet und dieFälle von
beiden Kantonen ausgewiesen werden.»

Das hätte eine Mehrfacherfassung zur
Folge: EinFall würde je einmal imWohn-
kanton des Getesteten (Genf) und ein-
mal im Kanton, in dem derTest positiv
ausfiel (Waadt), gezählt. Wer die Öffent-
lichkeit tatsächlich besser informiert,
muss deshalb offen bleiben.

Eineschö ne Erfahrung


Sicher ist nur, dass corona-data.ch
aktueller ist. DieStatistiker des Kan-
tons Zürich scheinen der Methodik
von Probst jedenfalls zu trauen. Auch
sie addieren mittlerweile die Zahlen der
Kantone. Probst steht inKontakt mit
ihnen. Diese Zusammenarbeit sei eine
schöne Erfahrung. «Würden die Kan-
tone die Daten maschinenlesbar ins
Internet stellen, wäre es vielleicht gar
nicht nötig, dass eine Privatperson ein-
springt», sagt er.

Facebook und Co. profilieren sich als Helfer in der Not


Die Social-Media-Plattformen machen in der Coronavirus-Krise vieles richtig –warum erstjetzt?


RETO STAUFFACHER


DiePandemie hat uns fest im Griff. Und
als wäre dasVirus allein nicht schlimm
genug, sind wir auch nochkonfrontiert
mit einer «Infodemie»: Die sozialen
Netzwerke werden überflutet mit Ge-
rüchten, Halbwahrheiten,Falschinfor-
mationen und bewussten Lügen. Kaum
jemand kann noch richtig von falsch
und wichtig von unwichtig unterschie-
den.Das verunsichert viele Menschen
und gefährdet ihre Gesundheit.
Viele dieser Informationen sind
harmlos. In einemWhatsapp-Ketten-
brief etwa wird empfohlen, vielWasser
zu trinken, um dasVirus hinunterzuspü-
len.Das ist zwar Unsinn, schadet der
Gesundheit aber nicht.AndereFalsch-
informationen hingegen sind gefährlich:
In Amerika ging die Nachricht viral,
dunkelhäutige Menschen seien immun
gegen dasVirus. Wer so etwas streut und
weiterverbreitet, gefährdet Menschen-
leben. Was unternehmen Plattformen
wieFacebook dagegen?


Behörden bevorzugt


Lange haben die sozialen Netzwerke der
Flut von falschen Nachrichten nur wenig
entgegengesetzt. Zudem gibt es viel zu
viele Nutzerinnen und Nutzer, die ihre
Verantwortung nicht wahrnehmen und
solche Inhalte den Plattformen nicht
melden. Der beste Algorithmus nützt
nichts, wenn unbekümmertFalschinfor-
mationen geteilt undkommentiert wer-
den. In derPandemie zeigen die Social-
Media-Plattformen nun, dass es auch
anders geht: Facebook, Youtube, Twitter
oderTiktok haben zum ersten Mal ein
gemeinsamesVorgehen gegenFalsch-
in formationen beschlossen. Einerseits


sollen vertrauenswürdige Informationen
von Behörden auf der Plattform bevor-
zugt behandelt werden.Das führt bei-
spielsweise dazu, dass an prominenter
Stelle auf dieVerhaltensregeln des natio-
nalen Gesundheitsamts verwiesen wird.
Andererseits soll dieVerbreitung von
Falschinformationen und irreführenden
Inhalten proaktivreduziert werden. So
durchforsten unabhängigeFaktenprüfer
die Plattform nachFalschinformationen.
In Deutschland gehören diesem Prüfer-
gremium Mitglieder desRecherchekol-
lektivs correctiv.org sowie der Deut-
schen Presse-Agentur an.Auch in der
Schweiz sollenFaktenprüfer innerhalb
der nächsten Monate ihre Arbeit aufneh-
men. Unterstützt wird dasVorhaben von
künstlicher Intelligenz.

Jetzt wird auch gelöscht


«Es ist nicht so, dass wir früher nichts ge-
macht hätten», sagtTino Krause im Ge-
sp räch mit der NZZ. Er ist seit einem
Jahr beiFacebook für die Schweiz,
Deutschland und Österreich verant-
wortlich. «Doch wir haben in den letzten
Jahren viel darüber gelernt, wie dieVer-
breitung vonFalschinformationen funk-
tioniert, und haben nun die Chance, die-
ses erlernteWissen anzuwenden.» Zum
ersten Mal überhaupt lösche Face-
book Beiträge, wenn diese nachweis-
lich falsche Informationen rund um das
Coronavirus verbreiteten und von Ge-
sundheitsorganisationen gemeldet wür-
den. Bisher war es so, dassFacebook nur
Verstösse gegen die unternehmenseige-
nen Richtlinien durch Content-Mode-
ratoren entfernen liess. BeiFalschinfor-
mationen schränkte man bisher zwar die
Reichweite massiv ein oder zeigte eine
Warnung an, löschte aber nichts.

Ein SonderfallistWhatsapp:Auf der
Messaging-Plattformkönnen Unwahr-
heiten weiterhin unkontrolliert zirku-
lieren – und das wird auch so bleiben:
«Die Privatsphäre der Nutzer steht bei
Whatsapp über allem, wegen der En-
de-zu-Ende-Verschlüsselung haben wir
keinen Zugriff auf die Nachrichten der
Nutzer», betont Krause. Doch man habe
auch dort Massnahmen getroffen: Es sei
schon seit längerem nicht mehr möglich,
eine einzelne Nachricht an mehr als fünf
Nutzer gleichzeitig weiterzuleiten.
Zudem würden weitergeleitete In-
halte als solche gekennzeichnet.Auch
habe man in Zusammenarbeit mit der
Weltgesundheitsorganisation einen Be-
nachrichtigungsdienst sowie ein Infor-
mationscenter lanciert, an das sich Nut-
zer wendenkönnen, wenn sieFragen
haben oderFalschinformationen an-
prangern möchten.
Wieso klappt jetzt plötzlich, was vor-
her nicht funktionierte? «Beim Corona-
virus geht es um die Gesundheit der
Menschen, davon ist jeder betroffen, und
da gibt es auchkeine Grauzone», sagt
Krause. Bei politischenThemen hin-
gegen sei es nicht so einfach, eine klare
Linie zu ziehen. Er nennt zwei Beispiele,
bei denenFacebook in letzter Zeit aktiv
geworden sei: «Gewisse Akteure woll-
ten unsere Plattform missbrauchen, um
Panik zu verbreiten oder Atemschutz-
masken zu übertriebenen Preisen zu ver-
kaufen. Das haben wir gestoppt.»
Nicht nur derFacebook-Konzern, zu
dem auch Instagram undWhatsapp ge-
hören, auch die anderen Plattformen
haben ein Bündel an Massnahmen be-
schlossen undkommunizieren diese in
firmeneigenen Blogs sowie auf den eige-
nen Kanälen. Sie inszenieren sich als
Helfer in der Not und als Plattformen,

welche die Menschen auch in Zeiten des
Lockdowns zusammenbringen.
DochFacebook und Co. überschät-
zen ihreRolle: Es ist nicht so, dass sich
die Menschen in dieser Krise vernetzen,
weilFacebook so viele Massnahmen be-
schliesst. Sondern sie vernetzen sich,
um sich abzulenken, auf humoristische
Weise mit dem Coronavirusumzugehen
oder ihre Hilfe für andereMenschen an-
zubieten.Facebook lebt im Guten wie
im Schlechten davon, was seine Nutze-
rinnen und Nutzer auf der Plattform an-
stellen. Nicht umgekehrt.

Ein schmaler Grat zur Zensur


So löblich die Bemühungen vonFace-
book oderWhatsapp auch sind, der
Kampf gegen unliebsame Informatio-
nen findet auf einem schmalen Grat statt.
Wenn nur behördliche Informationen
als verlässlich gelten, dann werden die
anderen Inhalte per se abgewertet.Auch
Medienberichte oder privateInitiativen
können in der Krise wertvoll sein.
Ein Anschauungsbeispiel dafür, was
fürFolgen diese Praxis haben kann, lie-
ferte in der Schweiz geradeTwitter: Am
Dienstag war es plötzlich nicht mehr
möglich, auf dieWebsite corona-data.
ch zu verweisen.Twitter hatte dieVer-
linkung untersagt, weil es sich nicht um
eine offizielle Seite der Schweizer Be-
hörden handelt und diese damit unter
dem Verdacht steht, Falschinforma-
tionen zustreuen. Allerdings liefert
corona-data.ch, das von einem priva-
ten IT-Spezialisten programmiert wor-
den ist,derzeit verlässlichere Zahlen
zurVerbreitung des Coronavirus in der
Schweiz als die offiziellen Kanäle. Die
Blockade scheint am Donnerstag aufge-
hoben worden zu sein.

Das zeigt: Der KampfgegenFalsch-
informationen ist ein Kampf gegen
Windmühlen. Wenn die Plattformen zu
wenig gegen derenVerbreitung unter-
nehmen, dann folgt sogleich derVor-
wurf, sie würden das Problem zu we-
nig ernst nehmen.Wenn sie allerdings
zu aktivistisch ansWerk gehen, dann
besteht die Gefahr, dasskorrekte In-
formationen unterdrückt werden.Das
wäre dann Zensur und somit bedeu-
tend gefährlicher.

Der Abstrich einesPatienten mitCorona-Verdacht. CHRISTOPHRUCKSTUHL / NZZ

Daniel Probst
Gründer derWebsite
PD corona-data.ch

Es ist Zeit
für eine Daten-Glasnost
Kommentar auf Seite 9

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