Neue Zürcher Zeitung - 27.03.2020

(Jeff_L) #1

28 FEUILLETON Freitag, 27. März 2020


Wandlungen eines autoritären Staatsmanns

Philip p Ette r ist einer der umstrittensten Bundesräte der Schweizer Geschichte. Eine neue Biografie z eichnet ein differenziertes Bild


GEORG KREIS


Nicht alle der über hundert Bundes-
räte sind mit einer ausführlichen Bio-
grafie gewürdigt worden.Das Ausblei-
ben solcherWürdigungen wird nicht in
jedemFall gleich stark vermisst. ImFall
von Philipp Etter, derin denJahren 1934
bis1959 alsLandesvater gewirkt hat,ist
eine eingehendeAuseinandersetzung
mit seiner politischen Tätigkeit aber seit
langem ein Desiderat.Warum?
Das liegt nicht an derDauer sei-
ner Amtszeit, die ihm den Übernamen
«der Etternelle» eingetragen hat. Und
es liegtauch nichtan derTatsache, dass
er in aussergewöhnlich schwierigenJah-
ren Bundesrat war. Das besondere In-
teresse an Bundesrat Etter rührtdaher,
dass er sich um1933/34 für den Umbau
der liberalen in eine autoritäre Demo-
kratie aussprach und um1940 den Er-
wartungen des «DrittenReichs» «anpas-
serisch» entgegenkommen wollte. Dies
stiess bereits in der Zeit selber und in
höherem Mass nach Kriegsende auf Kri-
tik undwurde in den1990erJahren auch
in historischen Studien erörtert.
Thomas Zaugg greift nun in seiner
akribischen, über 700-seitigen Disser-
tation die «nie geklärten»Kontrover-
sen um Etters Haltung auf und möchte
«Missverständnisse und einseitige Les-
arten»korrigieren. Zaugg hat als Erster
Etters Privatnachlass ausgewertet, der
seit 20 14 zukonsultieren ist, der aber
auch, wie derAutor einräumt, von ver-
traulichenPapieren gereinigt wurde.
Aufgrund einerreichhaltigenKorre-
spondenzundeiniger um1962 verfass-
ter MemoirenfragmentekannZauggun-
bekannte, wenig beachtete Seiten dieses
Zuger Katholisch-Konservativen aufzei-
gen.Dabei bringt er auchRetuschen an
bisherigen Einschätzungen an (unter
anderem auch an meinen eigenen). Be-
sonders überzeugend ist die Wider-
legung desVorwurfs, Etter habe euge-
nische Massnahmen gegen«ungesun-
des» Leben befürwortet.


In dubioproEtter


Die bisher an Etter geübte Kritik er-
scheint in dieserDarstellung als über-
trieben oder unberechtigt: Etter habe
keinen Ständestaat propagiert,sondern
nur eine von nichtstaatlichen Kräften
organisierteKorporationsordnung, die
organisch in einen «neuen Staat» ein-
gebaut werden sollte. Bei ihm seikein
unchristlicher Antisemitismus, sondern
einzig ein von kirchlicher Seite «erlaub-
ter» Antijudaismus zu finden.
Etter sei im Übrigen1933 der Ge-
fahr, von denFrontistenrechts überholt
zu werden, nur taktisch und rhetorisch
begegnet, ohne die frontistischenPostu-
late zu übernehmen. Er habe1935 mit
der Befürwortung einerTotalrevision


der Bundesverfassungkeinen Abbau
der Demokratie, sondern deren Stär-
kung angestrebt.
Er habe auch nicht auf eineRekatho-
lisierung der Schweiz hingewirkt, son-
dern bloss auf eine Stärkung des christ-
lichen Glaubens. Er habekeineRück-
kehr ins AncienRégime (also in die Zeit
vor1798) gewünscht, jedoch in «1848»
zusammen mit anderen, auch freisin-
nigen Zeitgenossen ein ungenügendes
Identifikationsdatum gesehen, wenn
nicht zugleich ältere «Keime» mitbe-
dacht würden.
Etter selber sowie sein Biograf
räumen durchaus ein, dassFehler be-
gangen worden seien. Zaugg spricht
auch von Schwächen:Manche öffent-
lichenÄusserungen Etters seien wegen
ständigerRelativierungen ambivalent
gewesen. Diese Unbestimmtheiten

nutzt Zaugg in derRegel für entpro-
blematisierende Deutungen.
So heisstes etwa, Etter «schien»
kaum zu den am stärksten anpassungs-
bereitenKöpfen zu zählen, er «schien»
in den1930erJahren dem Sozialismus
und dem Liberalismus denTod ge-
wünscht zu haben, er «schien» voller
Widersprüche zu stecken. Deutlich und
sehr zutreffend wird dagegen Etters
Haltung im schwierigen Sommer 1940
beschrieben als «Entschlossenheit, hin-
ter der zugleich Überforderung, Plan-
losigkeit und viel Rhetorik aufschien».
Zaugg empfiehlt, neben den verba-
len Interventionen des «Laienapostels»
auch die praktischePolitik Etters zu be-
achten, die mehrVerständigung ange-
st rebt habe, als es seineReden taten.
Etters schnell wieder aufgegebenenVer-
such, 1940 ein Mini-Presseamt einzufüh-

ren, um dieJournalisten zu grösserer
Zurückhaltung gegenüber NS-Deutsch-
land zu bewegen, wird Zaugg kaum ge-
meint haben.
Dass Zaugg Etters Selbstverständ-
nis übernimmt und ihn als «Hüter der
Mitte» präsentiert, kann einleuchten,
hängt aber davon ab, auf welches Ganze
sich diese Mitte bezieht:In den1950er
Jahren ist es tatsächlich eine Mitte zwi-
schen dem linken und demrechtenLa-
ger. In den1930erJahren situierte sich
Etter indessen bloss in der Mitte des
konservativenLagers, das amrechten
Rand, wie Zaugg auch zeigt, extreme
Kräfte umfasste, Jean-Marie Musy oder
Gonzague deReynold zum Beispiel.
Ein interessantes Kapitel ist die 1938
institutionalisierte «GeistigeLandesver-
teidigung», die Etter je nachPerspek-
tive gutgeschrieben oder zurLast gelegt

wird. Zaugg erinnert daran, dass dieFor-
derung nach staatlicherKulturförderung
von der Linken ausging und Etter nur
widerwillig darauf eingegangen ist.
Aufschlussreich sind auch dieAus-
führungen zu Etters Befürwortung
der AHV, das Einstehen für dieETH,
dieAufgeschlossenheit gegenüber der
Kunst der klassischen Moderne und
1952 die Ernennung des liberalenJean
Rudolf von Salis zum Präsidenten der
Stiftung Pro Helvetia.

Absicht undWirkung


Einige bisher wenig bekannte Aspekte
werden in dieser «politischen Biogra-
fie» leider nur gestreift:etwa Etters
noch 19 56 erfolgte Ablehnung des
Frauenstimmrechts mit dem uner-
wähntgebliebenen Argument, dass es
eine «Zersetzungserscheinung» sei.
Oder die Frage, wie Innenminister
Etter, der stets möglichst wenig Zen-
tralstaat wollte, zumrasantenAusbau
seines Departements stand, von dem
übrigens sein Nachfolger, der Sozial-
demokrat Hans-Peter Tschudi, sagte,
dass er es in einem schwachen Zustand
vorgefunden habe.
Eine entscheidendeFrage wird gegen
Schluss der voluminösen Abhandlung
aufgeworfen: dieFrage, inwiefern Etter
der Gleiche geblieben sei oder ob er sich
in geändertenVerhältnissen gewandelt
habe. In der bisher vorherrschenden
Interpretation war Etter ein strammer
Rechtskonservativer, einewegweisende
Führungsgestalt. Die dank Zauggs Dis-
sertation zugänglichen Quellen vermit-
teln nun das BildeinesMannes, der zwar
einen festen Glauben besass, aber im
Laufe seiner politischen Karriere auch
erhebliche politischeVerständigungs-
bereitschaft zeigte.
Wer also war Philipp Etter eigent-
lich? Zu unterscheiden wären dabei
seine jeweiligen Absichten und die von
ihm hervorgerufenenWirkungen.Dass
sich das mitunter nicht deckte,musste
Etter zum Beispiel unsanfterfahren,als
er1942 in seiner Neujahrsansprache das
Land unter den Schutz nicht nur des All-
mächtigen, sondern auch «unseresLan-
desvaters Bruder Klaus» stellte und da-
mit in denVerdacht geriet, katholisch-
imperialistische Ziele zu verfolgen.
Thomas Zaugg hat mit einem dekla-
rierten Ansatz und mit bemerkenswer-
terSystematik seine Deutung des um-
strittenen Magistraten durchexerziert
und dabei inreicherFülle ausführlich
zitierte Originaltexte zurVerfügung ge-
stellt. Die Leserschaft kann nun selber
entscheiden, wie weit sie den angebote-
nenInterpretationen folgen will.

ThomasZaugg:BundesratPhilippEt ter(1891–
1977). Eine politische Biografie. NZZ Libro,
Basel 2020. 766S., Fr. 58.–.

In Sachen Klopapier ist die Lage ernst, aber nicht hoffnungslos


Für die derzeit grassierende Not des Westens hätte der Orient eine geniale Lösung parat


SUSANNA PETRIN, KAIRO


Oral fixierte Katholiken hortenWein,
anal fixierte Protestanten hamstern
WC-Papier. Muslime habenkeines von
beidem nötig. Alkohol und schmutzige
Hintern, beides ist haram – Sünde. Man
trinkt lieber Softdrinks und wäscht sich
weiter unten mitWasser. In Zeiten leer-
gefegter Hygieneartikel-Regaleistes
also höchste Zeit, dass die Schweize-
rinnen und Schweizer sich die genialste
ägyptische Erfindung seit den Pyra-
miden abschauen: die Shatafa. Auf
Deutsch: die WC- oder Gesässdusche.


Nur Papier? Pfui!


Die Shatafa ist eineWasserspritze. Ent-
weder hängt sie als Duschschlauch
neben demWC, oder sie ist alsDüse
direkt in dieToilettenschüssel eingebaut,
wo sie sich per Knopfdruck oder Dre-


hung betätigen lässt. Nur auf das letz-
tereAlles-in-einem-Modell erheben die
ÄgypterPatentanspruch, derweil das
nach einem ähnlichen Prinzip funktio-
nierende Bidet eine französische Erfin-
dung aus dem17. Jahrhundert ist.
Die nierenförmigeKeramikschüssel
soll gemäss Intimhygiene-Forschern ur-
sprünglich vor allem als – nicht sehr zu-
verlässiges –Verhütungsmittel fürFrauen
gedient haben. Unanständige Soldaten
trafen das Bidet in Kriegszeiten in jedem
anständigen Bordell an; entsprechend ge-
riet es imWesten inVerruf und setzte sich
dasPapier dagegen durch.Aus hygieni-
scher Sicht: zu Unrecht.
Für Orientalen sindWestler alsoWe-
sen, die mit unsauberemPoherumlaufen.
Ein Bekannter wurde in einem indischen
Dorf so lange gesellschaftlich geächtet,
bis herauskam, dass die Menschen Angst
hatten, erkönnte derart halbbatzig papie-
ren geputzt bei ihnen zum Abendessen

auftauchen. Er versprach, sich jeweils
vorher zu duschen. Sein Sozialleben ver-
besserte sich schlagartig.
Für Bewohner arabischerLänder so-
wie in weitenTeilen Asiens gibt eskeine
schlimmereVorstellung, als auf einer
Toilette nurPapier vorzufinden, egal ob
zwei-, vier- oder sechslagig. Auf einer
Amerika- oder Europa-Reise ist das
Nichtvorhandensein einer Shatafa der
allergrössteKulturschock.
«Als ich nach Deutschland kam,
konnte ich nichtglauben, dass dieses
saubere Europa, von dem wir imFern-
sehen und in der Schule gehört hatten,
eine so elementare Einrichtung wie die
Shatafa nichtkennt», schreibt ein Ägyp-
ter, der nach Berlin emigriert ist. Und
ein ägyptischerFreund sagt: «Ich kann
mir nicht vorstellen, wie jemand ohne
Shatafa leben kann.»
Vor einigenJahren ist dasReisen
für einen grossenTeil derWelt leich-

ter geworden: Es gibt jetzt die por-
table Shatafa. Eine flexible Silikonfla-
sche mit einem gewinkeltenDuschkopf
dran. Die Arabischlehrerin, diein Kairo
vieleAusländer unterrichtet, verlässt
das Haus nicht mehr ohne ihreReise-
Shatafa der Marke «Smart Buzz», sogar
wenn sie in der Stadt bleibt.Ägyptische
Freunde, die sich in Bern niedergelassen
haben, installierten derweilrecht bald
ihre eigene Shatafa fix in denBadezim-
mern. Die eineFamilie hat mit einem
günstigen Kaltwasser-Schlauch von der
Migros vorliebgenommen, die andere
hat sich eine vollautomatische De-luxe-
Version samtFöhn gegönnt. SolcheToi-
letten sind übrigens inJapan Standard.
Das Coronaviruskommt ebenso aus
China wie jede Art vonPapier. Globale
Probleme verlangen nach einer globa-
len Lösung.Der schlimmste Pande-
mie-Nebeneffekt, dieToilettenpapier-
Knappheit, liesse sich mit einer Shatafa

rasch in den Griff bekommen. Mit drei-
fachem Gewinn. Die Angst, dass der
Nachbar einem das letzte Blatt weg-
schnappt,erübrigt sich.Der Hygiene-
Index schnellt nach oben. Drittens: Die
Gesässdusche leistet einen aktiven Bei-
trag zur Senkung der CO 2 -Emissionen.

10 Millionen Bäume


Gemäss dem Buch «BumFodder. An
Absorbing History ofToiletPaper» spült
die Menschheit nämlich proTag 27 000
Bäume inForm vonToilettenpapier in
die Kanalisation. Eine weltweite Nut-
zung von Shatafas samtFöhn würde also
proJahr fast 10 MillionenBäumeretten.
Und ist die Shatafa einmal installiert,
können wir Schweizer unsere Zwangs-
neurosensympathischer ausleben. Etwa
indem wir Schokolade horten. Die tei-
len wir dann mitFreunden – vorerst halt
nicht mitmehr als vieren aufs Mal.

Wortgewaltig:PhilippEtter vor seiner Ansprache zur Eröffnung der Landesausstellung in Zürich (1939). PHOTOPRESS-ARCHIV / KEYSTONE

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