Neue Zürcher Zeitung - 27.03.2020

(Jeff_L) #1

8 MEINUNG & DEBATTE Freitag, 27. März 2020


CHLOÉ JAFÉ

FOTO-TABLEAU

Das geheime Leben der


japanischen Mafia-Frauen 5/


DieYakuza, die japanische Mafia, ist streng hierarchisch
organisiert;verschiedeneKodizesregeln das Zusammenleben.
Fährt ein Mafia-Boss vor, müssen sich dierangniederen
Mitglieder verbeugen. Im Kino sindFilme über dieYakuza
schon seit den frühen1960erJahren ein eigenes Genre. Damals
erreichten auch die Mitgliederzahlen ihren Höchststand: Etwa
184 000Mafiosiarbeiteten damals für dieYakuza. Heute
befindet sich die Gemeinschaft im Niedergang. Härteres
Durchgreifen derPolizei und schärfere Gesetze erschweren ihr
die Arbeit; zudem sind immer weniger japanische Bürger
bereit, dasTr eiben kriminellerBanden in ihrer Nachbarschaft
zu tolerieren. 2018 zählte die Mafia etwa 30 500 Mitglieder–
einTiefststand. Die französischeFotografin ChloéJa fé hat vor
allem den Alltag derFrauen in der Organisation dokumentiert.
Ihr Einfluss in derYakuza ist gering, ihreRolle beschränkt sich
imWesentlichen darauf, ihren Männern emotionalenRückhalt
zu geben und sie bei denFinanzen zu unterstützen.Für ihre
Beziehung mit einem Mafioso haben dieFrauen einen hohen
Preis gezahlt.Aus der Öffentlichkeit verschwunden, haben sie
ihreigenständiges Leben nahezu aufgegeben. ChloéJafé hat
ihnen mit ihrenFotos ein Gesicht gegeben.

Mit dieser Bildserie endet nachmehr als zehnJahrendie Reiheder Foto-
Tableaus, diejedeWocheeinneues Fenster auf dieWeltöffneten.Von
brandaktuellenThemenbis zuexquisitAbseitigem,von experimentellen
und ästhetischenAnsätzenbis zur mit Risikound unter Strapazenrealisier-
tenReportagezeigtesichhierFotografieauf der Höheder Zeitunddes
handwerklichenKönnens. DenLeserinnenundLesern,dieunsüberdie
lange Zeit begleiteten,dankenwir für ihrInteresse.
Mehr auf http://www.nzz.ch/foto-tableau.

Nachdem Notstand


Der Staat kommt meist,

um zu bleiben

Gastkommentar
von OLIVIER KESSLER

Politische Interventionen haben immer unge-
wollte Nebeneffekte, die letztlich zu noch mehr
Eingriffen verleiten, mit denen man die verur-
sachten Schäden bekämpfen will – was wiederum
weitereFolgeeffekte haben wird. Der Ökonom
Ludwig von Mises hat diesen Prozess als «Inter-
ventionsspirale» bezeichnet. Diese führe eine
Gesellschaft schrittweise in dieVerstaatlichung,
Zentralisierung und Knechtschaft. In der derzei-
tigenLage besteht diese Gefahr. In der Krise be-
finden sich viele Menschen in einem aufgereg-
ten Zustand,haben Angst und sind eher bereit,
Eingriffe in ihre individuellenFreiheitsrechte zu
erdulden. Historisch kann gut beobachtet wer-
den, wie Staaten insbesondere in solchen Zei-
ten ihre Macht zulasten der Bürgersouveränität
ausgebaut haben – etwa nach 9/11,als die staat-
lichen Überwachungsapparate massiv ausgebaut
wurden, oder im Zuge derFinanzkrise 2008, als
dieFinanzmärkte inregulatorischeFesseln ge-
legt wurden.
Krisen und die politischenReaktionen darauf
sind deshalb so problematisch, weil der Staat sich
kaum jemals wiedervollständig aus jenen Tätig-
keitsfeldern zurückzieht, in denen er sich einmal
festgesetzt hat. Die Kriegsabgabe etwa, die wäh-
rend des ErstenWeltkriegs als «vorübergehende
Notmassnahme» eingeführt wurde, besteht auch
noch über hundertJahre danach inForm der
direkten Bundessteuer. DerFehler vonJohn May-
nardKeynes’Theorie der antizyklischen Staats-
eingriffe zur Ankurblung derWirtschaft liegt im
Irrglauben, dass sich der Staat bei guterWirt-
schaftslage automatisch wieder zurückziehe.
Es gilt also ganz genau zu beobachten, wo sich
der Staat im Zuge der jetzigen Notlage überall in
die freieKoordination der Menschen einmischt–
um nach Beendigung der speziellen Situation un-
mittelbar wieder auf eineRückkehr zur Normali-
tät zu pochen. DiesesVorhaben dürfte jedochalles
andere als leicht sein. Bereits stehen diverse poli-
tischeForderungen imRaum mit weitreichenden
Konsequenzen, wie etwa jene nach einem bedin-
gungslosen Grundeinkommen oder der Abschaf-
fung des «unhygienischen»Bargelds. Neben Akti-
visten undParteien werden sich demnächst auch
diverse Gruppen mit Sonderinteressen organisie-
ren und von derPolitik Folgemassnahmen for-
dern, welche die freie Marktwirtschaft zusätzlich
auszuhöhlendrohen. So haben beispielsweise die
Notenbanken bereits gigantische Anleihekaufpro-
gramme beschlossen.Von einem solchen Quan-

titative Easing profitieren in erster Linie Gross-
firmen und der Staat aufKosten der Bürger und
der KMU, weil Letztere im Normalfallkeine Obli-
gationen am Markt platzieren und unter dem in-
flationsbedingtenWertverlust leiden. Aucher-
schallenbereitsRufe nach umfangreichenKon-
junkturprogrammen, welche dieWirtschaft nach
dem Notstand wieder in Schwung bringen sollen.
Dies ist verständlich, die negativen Effekte sol-
cher staatlichen Investitionen dürfen jedoch nicht
unterschätzt werden.
Es darf nicht vergessen werden, dass der Staat
mit seinen Investitionen keinen zusätzlichen
Wohlstand schaffen kann. Er muss dieses Geld ja
zuvor jemandem wegnehmen, der es anderweitig
verwendet und investiert hätte. Diese Umvertei-
lung führt dann wiederum zu zusätzlichen Eng-
pässen undAusfällen bei weiteren besteuerten
Firmen und Gruppierungen, die dann auch vom
Staat «gerettet» werden wollen, womit wir wieder
bei der Interventionsspirale wären.
Mit Staatsinterventionen werden stets auch an-
dereJobs und Einkommen entweder vernichtet,
weil sie durch die zusätzlichen Steuern, welche die
betroffenen Unternehmen leisten müssen, unren-
tabel werden. Oder aber siekönnen aufgrund der
von denKonsumenten via Steuern abgeschöpf-
ten Kaufkraft gar nicht erst entstehen, obwohl
diese neuen Arbeitsstellen prioritärereKunden-
bedürfnisse befriedigt oder dieAufgaben besser
erfüllt hätten als die staatlich geförderten Unter-
nehmungen.
Es bestehen bei denPolitikern und Behörden,
welche solcheKonjunkturprogramme aufsetzen,
keinerlei Anreize für einen sparsamen Umgang
mit den Mitteln der Bürger, weil sich hier die
Eigentümer nicht um ihre eigenen Investitionen
kümmern und niemand das Risiko einesVerlusts
persönlich tragen muss. Dies führt zu einer ver-
antwortungslosenRessourcenverschwendung und
einerAusweitung des Leids in der Krise.
Bedeutet dies, dass der Staat nun tatenlos zu-
schauen soll? Mitnichten.Schliesslich hat er die
Wirtschaftsfreiheit durch seinen Beschlussradikal
eingeschränkt und trägt nun dieVerantwortung
für dieFolgen. Es gilt nun – neben der Anwen-
dung vonKurzarbeitsentschädigungen und Bürg-
schaften–,kostentreibende und unnötigeRegu-
lierungen für KMU schnellstmöglich abzuschaf-
fen und mindestens vorerst auf Steuerforderun-
gen zu verzichten.Ferner gilt es, den aufgeblähten
Verwaltungsapparat aufs Nötigste herunterzufah-
ren und unnötigeAusgaben einzusparen.

OlivierKessleristVizedirektordes Liberalen Instituts.

Covid-19-Verordnung


Umstrittene Auslegung

Gastkommentar
von ARTHUR BRUNNER


Die Corona-Krise beschäftigt auch dieJuris-
ten: Mieter undVermieter von Gewerbeflächen
diskutieren darüber, ob die vom Bundesrat an-
geordnete Schliessung ihrer Lokale als Man-
gel im Sinne des Mietrechts qualifiziert; Arbeit-
geber und Arbeitnehmer streiten sich über die
Lohnfortzahlungspflicht; und im Sozialversiche-
rungsrecht beschäftigt dieFrage, wer Anspruch
aufKurzarbeit hat. In denletztenTagen hat sich
nun eine weitere umstritteneFrage herauskris-
tallisiert: Wer bestimmt über dieAuslegung der
bundesrätlichen Covid-19-Verordnung 2 vom



  1. März 2020?Während sich das Bundesamt
    für Gesundheit (BAG) und die Zürcher Ge-
    sundheitsdirektion in einer ersten Phase auf
    den Standpunkt stellten, eine Sitzung des Zür-
    cher Kantonsrats stelle eine verbotene «öffent-
    licheVeranstaltung» dar, vertrat der Kantonsrat
    selber dieAuffassung, er dürfe tagen, wenn das
    vorgeschriebene Social Distancinggewährleis-
    tet werdenkönne. Weiter stellte sich imVerhält-
    nis zwischen Bund und Kantonen dieFrage, wo
    dieVerordnungabschliessendeRegelungen trifft
    und wo die Kantone Handlungsspielraum haben.
    Mankönnte dieseFragen unterRückgriff auf
    die allgemeinenAuslegungsgrundsätze klären,
    die das Bundesgericht für massgeblich erklärt.
    Neben demWortlaut desVerordnungstexts sind
    derWille des historischen Gesetzgebers, Sinn und
    Zweck des Normtexts sowie der systematische
    Zusammenhang der auszulegenden Norm zu be-
    rücksichtigen.Damit würde der Gehalt der Co-
    vid-19-Verordnung gewissermassen vomWillen
    des Bundesrats als Urhebers abgekoppelt. Diese
    Herangehensweise erscheint für die gegenwärti-
    genVerhältnisse dysfunktional: Die effiziente Be-
    kämpfung des neuen Coronavirus verlangt von
    den involvierten Stellen fast täglich strategische
    Anpassungen. Mittels seiner verfassungsrechtlich
    vorgesehenenKompetenzen trägt der Bundesrat
    diesen AnforderungenRechnung, indem er – der-
    zeit imWochenrhythmus – im Kleide von Not-
    verordnungsrecht neue Massnahmen erlässt.Teils
    stützt er sich dabei direkt auf dieVerfassung, teils
    ruft er als Grundlage das Epidemienrecht an. Es
    erscheint unausweichlich, dass der dabeiresultie-
    rende Normtext teilweise unausgegoren ist: Es
    gibtkeineVernehmlassung, keine vorberatenden
    parlamentarischenKommissionen undkeine Be-
    ratungen in denRäten, die Unklarheiten beseiti-
    genkönnten.Vielmehr sind es der Bundesrat und
    seine Stabsstellen – insbesondere dasBAGund
    das Bundesamt fürJustiz (BJ) –, welche die be-
    schlossenen Massnahmen innertKürze in Norm-
    texte giessen und diesein dieverschiedenenLan-
    dessprachen übersetzen müssen. Dem Normtext


der Covid-19-Verordnungkann deshalb nicht die
sonst übliche Bedeutung zugemessenwerden. So
ist es etwa nicht zielführend, sich darüber zu strei-
ten, was der Begriff der «öffentlichenVeranstal-
tung» («manifestation publique», «manifestazioni
pubbliche») eigentlich meint und ob eineParla-
mentssitzung unter diesen Begriff zu subsumie-
ren ist oder nicht.Wenn der Bundesrat bzw. die
in dieAusarbeitungdes Normtexts eng involvier-
ten Bundesbehörden (BAGund BJ) bei Streit-
fragen eine bestimmteAuslegung vorgeben, muss
dies im Sinne einer verstärkt authentischenAus-
legungsmethode verbindlich sein. Nur so kann
kantonsübergreifend die geboteneKohärenz ge-
rade auch imVerhältnis zu Privatpersonen und
Unternehmengewährleistet werden undkönnen
die von Expertenausgearbeiteten Massnahmen
ihre volleWirkung entfalten. Dem Bundesrat ein
Vorrecht bei derAuslegung zuzuweisen,rechtfer-
tigt sich auch deshalb, weil es ihm verfassungs-
rechtlich unbenommen ist, den Normtext innert
Kürze anzupassen.
Selbstredend bedeutet dies nicht, dass der Bun-
desrat einfach freie Hand hat. Ebenso ist unbe-
stritten, dass die demokratische Legitimation
staatlichen Handelns gerade in Zeiten wie diesen
von grösster Bedeutung ist; es besteht ein eminen-
tes öffentliches Interesse daran, dass die Legisla-
tive auf allen Staatsebenen ihre Steuerungs- und
Kontrollfunktion wahrnimmt. Die Covid-19-Ver-
ordnung belässt den Kantonen insoweit durch-
aus Spielraum: Die KantonekönnenAusnah-
men von denVerboten bewilligen. Gerade mit
Blick auf den Bedarf demokratischerLegitima-
tion undregionalspezifisch möglichst angemes-
sener Lösungen dürfte diese Anwendung dieser
Ausnahmebestimmung für Sitzungen kantonaler
Parlamente gerechtfertigt sein,v. a. wenn kurzfris-
tig eine digitaleDurchführung nicht bewerkstel-
ligt werden kann.
Soweit dieVerordnung nachAuslegung des
Bundesrats jedoch abschliessendeRegelungen
trifft, muss dies – gerade aus Gründen derVer-
lässlichkeit und BeständigkeitdesRechtsund sei-
nerschweizweitrechtsgleichen Anwendung und
Durchsetzung – verbindlich sein. Im Nachgang zu
den gegenwärtigenVerwerfungen wird insoweit
genug Zeit bleiben, um dasVorgehen des Bundes-
rates und seiner Stabsstellen juristisch und poli-
tisch zu überprüfen.Dabei wird nicht nur gefragt
werden müssen, wie die Gesundheitskrise bewäl-
tigt worden ist, und ob dieWirtschaft hinreichen-
den Schutz erfahren hat.Vor allem wird zu prüfen
sein, ob die Massnahmen des Bundesrates unser
imKern föderales und demokratisches Staats-
gefüge hinreichend geschont haben.

Arthur BrunneristLehrbeauftragterfüröffentliches
Recht ander Universität Zürich.

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