Neue Zürcher Zeitung - 27.03.2020

(Jeff_L) #1

Freitag, 27. März 2020 MEINUNG & DEBATTE 9


Videokonferenz der EU-Staats- und -Regierungschefs


Corona-Bonds sind keine gute Lösung

Das Letzte, was Europa in Ergänzung zurPande-
mie und zur Corona-Rezession brauchen kann,
ist eine neue Staatsschuldenkrise.Doch auf die
Frage, wie eine solche zu verhindern ist, haben die
Staats- undRegierungschefs bei ihrerVideokon-
ferenz am Donnerstagabend nochkeine Antwort
gefunden. Stattdessen liess dieFrage, ob und wie
Mitgliedstaaten finanziell unterstützt werden sol-
len, alte Grabenkämpfe neu aufflackern. Nach lan-
ger Debatte haben dieTeilnehmer dieFrage an die
Euro-Finanzminister zurückgereicht.
Nunrächt sich, dass manch ein Staat die vergan-
genen gutenJahre nicht ausreichend zum Schul-
denabbau genutzt hat.Wie oft ist Deutschland da-
für kritisiert worden, dass es stur an der «schwar-
zen Null» festgehalten hat. Und wie froh sind nun
nicht nur die Deutschen, dass sich Berlin damit
finanziellen Spielraum erarbeitet hat. Der soeben
verabschiedete Nachtragshaushalt zur Bekämp-
fung der Corona-Krise und ihrer wirtschaftlichen
Folgen sieht ein Staatsdefizit von 4,5 Prozent des


Bruttoinlandprodukts (BIP) vor. Doch dasLand
kann dies verkraften, weil es die Staatsverschul-
dung zuvor auf rund 60 Prozent des BIPreduziert
hat. Andere EU-Staaten, darunter das vomVirus
stark betroffene Italien, haben diesen finanzpoliti-
schen Spielraum nicht.Sie haben dies zueinem er-
heblichenTeil selbst zu verantworten.Dass ihnen
imFalle derFälle dennoch unter die Arme gegrif-
fen wird, gebietet jedoch nicht nurdie Solidarität
in Notlagen, sondern auch das Eigeninteresse der
übrigen Staaten: Gerät ein grossesLand wie Italien
inFinanzierungsprobleme, könnte dies in der jetzi-
genLagerasch die ganze Euro-Zone erschüttern.
Dochauch in der Not gilt es, das Ziel mit
möglichst wenig Nebenwirkungen zu erreichen.
«Corona-Bonds», gemeinsame Anleihen der EU,
der EU-Mitglieder oder der Euro-Staaten, würden
diese Bedingung kaum erfüllen. Zwar sind dieVor-
schläge dazu noch wenig ausgereift, doch ohne eine
Form von gemeinsamer Haftung dürften solche
Bonds kaum auskommen. Solange dieFinanzpoli-
tik in nationalerKompetenz bleibt, steht das aber
quer in derLandschaft: Haften die Steuerzahler
allerMitgliedstaaten für Schulden aller anderen
Staaten, ist die Einheit von Haftung undKontrolle
durchbrochen. Und für die einzelnenRegierungen
sinkt der Anreiz, vernünftig zu haushalten. Nun
mag man einwenden, dass diePandemie ein aus-

sergewöhnliches Ereignis ist und alle Staaten ohne
eigenesVerschulden trifft.Auch manche Ökono-
men plädieren deshalb für eine einmalige, auf die
Corona-Krise begrenzte Nutzungvon Gemein-
schaftsanleihen. Doch dieWahrscheinlichkeit ist
gross, dass derartige Bonds zu einerDauereinrich-
tung würden.Auch der heutige Euro-Krisenfonds
ESM ist zu einem dauerhaftenInstrument gewor-
den, obwohl die Euro-Staaten 2010 zunächst nur
ein zeitlich befristetesVehikel vereinbarten. Zudem
denkenFrankreich und Italien,die imVorfeld ge-
meinsam mit sieben weiteren Staaten ein «gemein-
sames Schuldeninstrument» gefordert haben, kaum
nur an eine einmalige Aktion.Für sie verschafft die
Kriseeinem alten Anliegen neues Gewicht.
Naheliegender undrascher zurealisieren wäre
stattdessen der ebenfalls diskutierte Rückgriff
auf den bestehenden ESM (und eine ergänzende
Lösung für Nicht-Euro-Staaten). Er hat eine freie
Kreditvergabekapazität von 410 Milliarden Euro
und kann mit günstigen Krediten Staaten unter die
Arme greifen, deren Zugang zum Kapitalmarkt in
Gefahrgerät. Miterweitertenvorsorglichen Kredit-
linien hat er einInstrument, das sichrelativ leicht
an die jetzigeLage anpassen liesse. Die Gewährung
solcher Kreditlinien würde den Märkten frühzeitig
signalisieren, dass es sich nicht lohnt, gegen ein so
abgesichertesLand zu wetten.

Haften die Steuerzahler


aller Mitgliedstaaten


für Schulden aller anderen


Staaten, ist die Einheit


von Haftung und Kontrolle


durchbrochen.


Griechenland braucht europäische Hi lfe


Die Flüchtlingslager müssen evakuiert werden

DerAufrufkönnte inkeinem schlechteren Moment
kommen.Ausgerechnet jetzt, da sich in Europa die
Schlagbäume senken, die Bürger in ihren Häusern
verschwinden und die Spitäler sich auf Schlim-
mes vorbereiten.Ausgerechnet jetzt verlangt eine
europaweite Gruppe aus Ärzten und Gesundheits-
personal (keine NGO, es sind Privatpersonen)
in einem offenen Brief, dass die Elendslagerder
Migranten auf den griechischen Inseln evakuiert
werden. Es drohe dort eine gesundheitliche Ka-
tastrophe, für die wir uns später schämen würden,
schreiben sie. Der Appell sollte gehört werden.
Nicht trotz, sondern wegen der Corona-Krise ist die
Zeit gekommen,rasch und entschieden zu handeln.
Über dieLage auf den Ägäisinseln ist schon
lange alles gesagt worden. Es leben dort Zehntau-
sende von Migranten und Flüchtlingen seitJahren,
meist unter miserablen Bedingungen.Weil Europa
und Griechenland ausserstande sind, ein vernünf-
tiges Asylsystem aufzubauen, das Schutzbedürf-


tige schnellidentifiziert, haben sich auf den Inseln
Slums gebildet, in denen die Menschen zwar nicht
verhungern, von denen aber viele wegen der un-
hygienischen Zustände krank sind.
Das Auftauchen des Coronavirus macht dieLage
jetzt brandgefährlich.Aus der humanitären Krise
kann über Nacht ein dramatisches Gesundheitspro-
blem werden – und im nächsten Schritt durchPanik
und Gewalt auch ein Sicherheitsproblem.ImLager
Moria auf Lesbos befinden sich mehr als 20 000
Personen. Sie leben auf engstemRaum in Zelten
und Hütten.Social Distancinggibt es da nicht. Es
gibt auch zu wenigWasser (meist einen Hahn pro
1300 Bewohner), und es fehlt an Seife. Die zur
Virusbekämpfung empfohlenen Hygienemassnah-
men sind undurchführbar.
Viele Helfer von europäischen Nichtregierungs-
organisationen sindin den letztenWochen abge-
reist. Sie fürchten, krank zu werden.Das sollte
ihnen niemand vorwerfen. Helfer müssenkeine
Heldensein.Laut Medienberichten gibt es auf der
Insel drei Corona-infiziertePersonen. Es handelt
sich um einheimische Inselbewohner. Das Lager
wurde deshalb abgesperrt. Seine Bewohner befür-
worten das. Sie haben Angst vor einer Ansteckung,
die sich wie einLauffeuer verbreiten würde. Aus
dem Slum ist ein Ghetto geworden.

Was politisch nicht opportun erscheint, ist den-
noch zwingend: Zumindest eineTeilevakuierung
von besonders gefährdetenPersonen muss sofort in
Angriff genommen werden. Kranke,Geschwächte,
unbegleitete Kinder und Alte sollen aufsFestland
gebracht und dort in sicheren Unterkünften be-
herbergt werden.Wie soll Griechenland das schaf-
fen? Die Berliner Denkfabrik ESI schlägt vor, dass
eine Gruppe europäischer Staaten zur Entlastung
von den Griechen im Gegenzug 10 000 anerkannte
Flüchtlinge übernimmt.Das sindPersonen, zumeist
Syrer, deren Anspruch auf Schutz amtlich festgestellt
wurde. Das istkeineleichteAufgabe, dennsie müs-
sen nach ihrer Einreise in Quarantäne gehen, und ihr
Gesundheitszustand muss abgeklärt werden.
Gegen den Plan wird der Einwand erhoben, dass
es den anderthalb Millionen Kriegsvertriebenen in
Idlib noch viel schlechter gehe als den Zehntau-
senden in Griechenland.Auch werde die Seuche
in Nordsyrien wohl noch schlimmer wüten.Das
stimmt.Warum also nicht dort helfen?Weil Europa
das nicht kann.Auf dem syrischen Kriegsschauplatz
sind ihm die Hände weitgehend gebunden. Anders
in der Ägäis, das ist europäisches, das ist «unser»
Territorium.Was dort geschieht,geht uns alle an,
egal ob wir innerhalb oder ausserhalb der EU le-
ben. Die Zeit drängt.

Aus der humanitären Krise


kann über Nacht


ein dramatisches


Gesundheitsproblem werden–


und im nächsten Schritt auch


ein Sicherheitsproblem.


Kontroverse umCorona-Fallzahlen


Es ist Zeit für eine Daten-Glasnost

Der Bund befindet sich im Kampf gegen die
Corona-Pandemie gewissermassen im Nebel. Zum
einen ist dies unverschuldet. Denn ob die getroffe-
nen Massnahmen wirksam sind, zeigt sich erst in ei-
nigenWochen. Die Ungewissheit wird zum ande-
ren aber durch eigenes Unvermögen verstärkt.
Denn Bund und Kantone haben den digitalenWan-
del verschlafen. Im bestenFall führt dies «nur» zu
Bürokratie, Doppelspurigkeiten und unnötig lan-
genWartezeiten. In der gegenwärtigen Krisensitua-
tion hingegen gefährdet dies Menschenleben.
Ein Beispiel dafür sind die Meldungen der
Corona-Fallzahlen von Ärzten,Labors und Spi-
tälern an das Bundesamt für Gesundheit (BAG).
Es dauert eine halbe Ewigkeit, bis Zahlenzu den
positiv Getesteten und denTodesfällen aus den
Kantonen in Bundesberneintreffen. Formulare
werdenvon Hand ausgefüllt, teilweise perFax
übermittelt und vomBAGmanuell ins zentrale
System eingegeben.Auf die Schnelle lässt sich die-


ser anachronistische Prozess nicht wesentlich ver-
bessern. Und dasBAG hat derzeit ohnehin an-
dere Prioritäten.Auch ist jetzt nicht der richtige
Zeitpunkt für eine Manöverkritik. Im Moment
zählt nur, dass die Schweiz die Krise möglichst
unversehrt übersteht. Dazu muss sich der Bund
auf dasWesentlichekonzentrierenkönnen.Was
sich nichtändern lässt,lässt sich nichtändern, also
auch das absurde Meldewesen nicht. Derrenom-
mierte Epidemiologe Marcel Salathé schrieb
kürzlich, dass in diesenWochen seinVertrauen
in diePolitik erschüttert worden sei. «Nach der
Aufarbeitung – was alles falsch lief und wie to-
tal veraltet die Prozesse sind – wirdkein politi-
scher Stein auf dem anderen bleiben.» Dem gibt
es nichts hinzuzufügen.
Das BAGhat zum Glück einen besseren Über-
blick über dieLage, als es die «total veralteten Pro-
zesse» zuliessen.Das liegt an der Initiative von Pri-
vatpersonen und einigen Kantonen. So trägt etwa
ein Doktorand der Universität Bern in seinerFrei-
zeit die Corona-Fallzahlen aus den Kantonen zu-
sammen und stellt diese auf derWebsite corona-
data.ch ins Internet. Weil die Daten von den Kan-
tonen veröffentlicht werden, bevor sie den müh-
seligenWeg zum Bund zurückgelegt haben, sind
sie aktueller als jene desBAG.

Mit seiner Arbeit stilltDaniel Probst, so heisst
der Doktorand,nicht nur das Informationsbedürf-
nis der Bürger und erbringt einen Service public,
sondern er sorgt auch dafür, dass derRückstand
der Behörden bei der Digitalisierung weniger gra-
vierend ist.Auch beimBAGdürfte man dieWeb-
site im Blick haben. Denn obwohl die Zahlen mög-
licherweise weniger genau sind als die offiziellen,
haben sie einen entscheidendenVorteil:Aus ihnen
lässt sich zeitnah ablesen, ob die Neuansteckungen
undTodesfälle in der Schweiz abnehmen.Damit
lichtet sich der Nebel etwas. Es lässt sich besser be-
ur teilen, ob die getroffenen Massnahmen wirken
oder nicht – und entsprechend nachjustieren.
Das Beispiel zeigt, warum es wichtig ist, dass
der Staat möglichst vieleDaten ins Internet stellt.
Und zwar ineinerForm, die einen möglichst ein-
fachen maschinellen Zugriff erlaubt. Dies darf
natürlich nur geschehen, wenn aus Sicht des
Datenschutzes nichts dagegen spricht – was bei
aggregiertenDatenderRegelfall ist. Denn das
Staatswesen hat begrenzteRessourcen. Gerade
in einem Krisenfallkönnen Bürger oder Organi-
sationen mit einerKombination aus digitalenFer-
tigkeiten und Spezialwissen den Staat entlasten.
Die Behörden sollten diese Hilfe dankbar anneh-
men,statt pikiert zureagieren.

Bund und Kantone


haben den digitalenWandel


verschlafen.


In der aktuellen Krise


gefährdet dies


Menschenleben.


STEFAN HÄBERLI

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