Süddeutsche Zeitung - 27.03.2020

(ff) #1
Sie waren auch vorher schon Menschen
mit Namen und Biografien und nicht
nur Arbeitskräfte, Pflegepersonal,
Dienstleister. Vieles hat sich pulveri-
siert in den vergangenen Wochen, einer
der wenigen guten Effekte ist, dass sich
die Definition dessen, wer die „Leis-
tungsträger“ einer Gesellschaft sind,
verschoben hat. Die, die das Land gera-
de am Laufen halten, befüllen unermüd-
lich Regale, hetzen über Klinikflure,
sitzen in fensterlosen Laboren.
Und die, die für den Zusammenhalt
einer Gesellschaft, für den sozialen Kitt
auch so wichtig sind, drohen nun den
Boden unter den Füßen zu verlieren:
der Friseur, der den Kindern immer so
liebevoll durch die Haare wuschelt. Die
Buchhändlerin, die einem auch mal
freundlich von einem Bestseller abrät
und stattdessen ein weniger bekanntes
Werk in die Hand drückt: „Ich glaube,
das gefällt Ihnen eher.“ Der Dönerladen-
Besitzer, der in unfassbar flinken Bewe-
gungen in unfassbar kurzer Zeit den
schnellen Hunger stillen kann.
Gutscheine waren noch vor wenigen
Monaten eher ein Zeichen von Hilflosig-
keit: Ich mag keinen Aufwand betrei-
ben, hier ein Stück Pappe mit geschwun-
gener Schrift und einem noch einzulö-
senden Versprechen, irgendwann eine
Stunde massiert zu werden/bei einem
Onlinehändler irgendwas kaufen zu
können/in einem schicken Restaurant
zu essen. Jedes zweite Geschenk war
vergangenes Weihnachten nach Schät-
zungen ein Gutschein, geschätzter Ge-
samtwert: 1,7 Milliarden Euro.
Jetzt aber sind Gutscheine ein Mittel
echter Hilfe. Schon in den ersten Tagen
der Krise las man Aufforderungen auf
Twitter: Unterstützt eure Lieblingsbar,
eure Stammpizzeria, euren Friseursa-
lon, kauft Gutscheine für die nächsten
Monate! Aber nun sind die Läden ge-
schlossen. Wie geht das jetzt noch?
In Berlin kann man auf der Plattform
„Helfen.Berlin“ Gutscheine für Clubs,
Restaurants, private Museen erstehen,
etwa 100 Einrichtungen sind gelistet,
für andere Städte sind ähnliche Seiten
geplant. Man wolle „Lieblingsorte vor
der Insolvenz retten, indem wir ihnen
jetzt das Geld zur Verfügung stellen, das
wir sowieso in den nächsten Monaten
bei ihnen ausgeben werden“, heißt es
auf der Homepage. Aber auch ohne
größere Plattform: Viele Buchläden,
Cafés, Nagelstudios haben eigene Inter-
netseiten, auf denen man Gutscheine
erstehen kann. Manchmal sieht man
auch Zettel an Ladentüren: Wer helfen
wolle, könne unter folgender E-Mail-
Adresse Geld über Paypal überweisen
und bekomme dann einen Gutschein
über den Wert zugeschickt.
Der Gutschein ist das wahre Wertpa-
pier in der Corona-Krise. Er ist nicht nur
eine direkte Unterstützung – sondern
auch eine indirekte Geste: Wir denken
an euch. Nicht auch jetzt, sondern: be-
sonders jetzt. mareen linnartz

In jeder Krise passiert auch Gutes, selbst wenn
man es nicht immer auf den ersten Blick erken-
nen kann.In dieser Kolumne schreiben SZ-Re-
dakteure täglich über die schönen, tröstlichen
oder auch kuriosen kleinen Geschichten in
diesen vom Coronavirus geplagten Zeiten.

ALLES GUTE


Die neuen


Wertpapiere


Die Lautsprecher sind zurück. Gespens-
tisch wirkende, orwellsche Durchsagen, in
Zeiten der Ausgangsbeschränkung besser
daheimzubleiben und den Mindestab-
stand zu wahren. Blechern tönende Stim-
men aus einer unheimlichen Welt. Neu für
viele. Aber längst nicht für alle.
76 fest installierte Lautsprecher haben
sie in Hügelheim, 40 Kilometer südlich
von Freiburg. Über sie erreicht Ortsvorste-
her Martin Bürgelin seine 1400 Bürger am
schnellsten, wenn es mal wieder was zu ver-
melden gibt. „Ich bin mit dem Knacken der
Verstärker aufgewachsen“, sagt Bürgelin.
„Für mich hat das nichts Bedrohliches.“
Seit mehr als 50 Jahren erklingen
Tschaikowskis Fanfaren aus dem „Capric-
cio Italien“ über Hügelheim. Danach wer-
den die Gemeindenachrichten verlesen,
derzeit auch Aktuelles wie der Hinweis auf
gesperrte Spielplätze in Corona-Zeiten
oder dass es Einkaufshelfer im Ort gibt.
Früher übernahm so etwas ein Bote, den
sie in Hügelheim den „Bott“ nannten.
Heute haben die regelmäßigen Durchsa-
gen für die Hügelheimer etwas sehr Ver-
trautes, auch das Neubaugebiet soll bald
feste Lautsprecher erhalten. Dagegen, fin-
det man in Hügelheim, wirken die mobilen
Corona-Durchsagen der Feuerwehr und
der Polizei irgendwie bedrohlicher.
Um etwas weniger furchteinflößend zu
klingen, haben Londoner Polizisten ihre An-
sagen jüngst mit dem Monty-Python-Song
„Always look on the bright side of life“ eröff-

net. Der klingt aufmunternder als das von
einer Schellack-Platte abgespielte „Philips-
Ankündigungssignal“, mit dem die Bewoh-
ner in Pösing im Bayerischen Wald zum Zu-
hören aufgefordert werden. Immer wo-
chentags um halb sechs und samstags um
zwölf Uhr. Durch mehr als 50 Lautspr-
echer und 3800 Meter Erdkabel sind die et-
wa 1000 Einwohner akustisch mit dem Rat-
haus verbunden. „Zuletzt waren bei uns we-
gen Corona über die Anlage auch viele Ab-
sagen von Vereinsveranstaltungen zu hö-
ren“, sagt Gisela Riederer, die den Ortsruf
betreut. Für Informationen zu Corona sei
derzeit aber auch die Dorf-Whatsapp-
Gruppe sehr gefragt.
Ortsrufanlagen geben kleineren Ge-
meinden eine akustische Struktur, ein Ge-
fühl von Gemeinschaft. So wie Kirchenglo-
cken oder woanders der Ruf des Muezzin.
So waren sie schon in der Nachkriegszeit
gedacht, in der die meisten der etwa zwei
Dutzend noch existierenden Anlagen in
Deutschland errichtet wurden.
Im Osten sind die Megafone bis heute be-
haftet mit der Erinnerung an den real exis-
tierenden Sozialismus, der von seinen Ge-
nossinnen und Genossen vor allem eines
verlangte: Gehorsam. Es gibt sie noch, zum
Beispiel in der thüringischen Gemeinde
Rhönblick, Ortsteil Wohlmuthausen.
Wenn auch die Durchsagen längst nicht
mehr lauten: „In allen gesellschaftlichen
Organisationen ist ein verstärkter Kampf
gegen den westlichen Einfluss zu führen!“

Heute wird eher der Termin für die Altpa-
piersammlung bekannt gegeben.
Längst verklungen sind die „Reichslaut-
sprechersäulen“ der Nazi-Zeit. Parteipro-
paganda via Lautsprecher, wie man sie
auch aus den Filmen mit „Don Camillo und
Peppone“ kennt, ist heute tabu. „Eine Orts-
anlage ist ja kein Volksempfänger“, meint
Gisela Riederer. Wer bei ihr in Pösing Priva-
tes verlesen lassen möchte, wirft die ge-
wünschte Mitteilung ganz analog in einen
Briefkasten.

In Kolitzheim-Zeilitzheim im Landkreis
Schweinfurt sind die Zeiten mittlerweile
vorbei, in denen zum Beispiel die Verkündi-
gung einer diamantenen Hochzeit durch
den 700-Einwohner-Ort schallte. „Unsere
Lautsprecher gingen ständig kaputt“, be-
richtet eine Gemeindemitarbeiterin. „Es
wurde zu teuer. Also haben wir die Anlage
abgeschaltet.“ Nun klingt hier keine
Marschmusik mehr, die im Todesfall
selbstverständlich durch ein Streichquar-
tett ersetzt wurde.

Im thüringischen Mehmels aber läuft
der Ortsfunk noch. „Sieben Fässer Wein“
als akustisches Schmankerl zum Winzer-
fest und „Es lebe der Sport“ für Leibes-
übungen – das musikalische Programm ist
breit gefächert. Aber auch Vorsicht bleibt
bei Ortsdurchsagen angebracht: Im be-
nachbarten Breitungen im Werratal sollen
einmal zwei Gemeindemitarbeiter über an-
dere gelästert haben, vor dem bereits einge-
schalteten Mikrofon.
„Erst am Sonntag habe ich zur Corona-
Ausgangsbeschränkung bei uns eine
Durchsage gemacht“, sagt Tobias Blesch,
Bürgermeister von Wipfeld am Main. „Wie
immer angekündigt mit unserer uralten
Marschmusik-Kassette.“ Nach einem Blitz-
einschlag hatte der Lautsprecheranlage
noch vor zwei Jahren das Aus gedroht.
„Aber dann entdeckten wir auf Ebay geeig-
nete Verstärker.“ Nun tönt gelegentlich
auch mal wieder Hochzeitsmusik durch
den 1200-Einwohner-Ort. „Zumindest,
wenn am Standesamt gerade was los ist.“
Die Akzeptanz sei auch 70 Jahre nach
der Inbetriebnahme noch groß, auch und
besonders in Corona-Zeiten. So eine fest in-
stallierte örtliche Stimme habe ja auch was
Beruhigendes, meint Bürgermeister
Blesch. „Nur die Touristen am Camping-
platz schreckten immer etwas auf, sobald
sie den Lautsprecher knacken hörten. Aber
wenn sie in diesem Sommer wiederkom-
men, dürften sie den Klang ja auch aus ih-
ren Gemeinden kennen.“ martin zips

von kai strittmatter

D


ies ist die Geschichte von Anne
Smidt und Franz Posch, die ein dä-
nischer Journalist „eine Geschichte
über das Leben in Zeiten des Coronavirus“
nannte. Aber eigentlich ist sie vor allem: ei-
ne Liebesgeschichte.
Die beiden leben in einem kleinen Haus
in Højbjerg in der Nähe von Aarhus, ge-
meinsam mit einem Hamster, einem Ka-
ninchen und einem Hund. Franz Posch ist
27 Jahre alt, er spielt Gitarre in der Death-
Metal-BandLivløs. „Die Musik hat mir im-
mer erlaubt, mich auszuleben, meinen
Frust herauszuschreien in dunklen Zei-
ten“, schreibt er der SZ in einem E-Mail-
Austausch. „Sie bewahrt mich davor, nach
außen zu explodieren.“ Anne Smidt hört
mehr Techno und die Klassiker der 1960er-
Jahre. Sie liebt Reisen und Sport, ihre Insta-
gram-Bilder zeigen sie beim Mountainbi-
ken, Reiten, Klettern. Anne ist am Samstag
29 geworden, sie selbst sagt, es sei wahr-
scheinlich ihr letzter Geburtstag gewesen.
Annes Schwester hatte die beiden vor
zwei Jahren verkuppelt. Franz hatte sich
zuerst nicht getraut, es war Anne, die die In-
itiative ergriff. Franz machte ihr einen Hei-
ratsantrag während einer kurzen London-
Reise im vergangenen August. „Es gibt
nichts, was ich Anne nicht erzählen könn-
te“, sagt Franz. „Ich wusste, so jemanden
würde ich nicht so leicht wieder finden.“
Eine Sommerhochzeit sollte es werden,
in diesem Jahr. Dann aber benachrichtig-
ten sie alle 99 Verwandte und Freunde auf
ihrer Gästeliste und verlegten den Termin
vor auf den 21. März, Annes Geburtstag.
Der Arzt hatte gesagt: Bis zum Sommer ist
noch lange, heiratet lieber früher.
Die Hochzeit von Anne und Franz kann
nicht warten. Denn Anne stirbt.
Sie mieteten einen Raum, zwei Bands
und das Catering, schrieben die Tischkar-
ten und packten Geschenktütchen für die
Gäste. Anne, die ohne Vater aufgewachsen
war, hatte ihren Großvater gebeten, sie
zum Altar zu führen, und ihm eine Krawat-
tennadel gravieren lassen: „Großvater der
Braut“. „Es war das erste Mal in meinem Le-
ben, dass ich ihn weinen sah“, schrieb Anne

auf Instagram. „Und ich habe auch ge-
weint.“ Der Post ist vom 9. Februar und en-
det mit dem Hashtag #halleluja.
Keine drei Wochen später geben die Be-
hörden den ersten Corona-Fall in Däne-
mark bekannt. Neun Tage vor der Hochzeit
erlaubte die Regierung nur noch Veranstal-
tungen von weniger als 100 Menschen, ein
paar Tage später waren nur weniger als
zehn gestattet. Am 15. März lädt Anne bei
Instagram ein Foto von sich als „Bride to
be“ hoch. „Wir haben die herzzerreißende
Entscheidung getroffen, unser Hochzeits-
fest abzusagen“, schreibt sie.
Das tun in diesen Tagen auch andere
Paare: sagen die Säle und den Bands ab, pa-
cken das Brautkleid weg und hoffen auf
Nach-Corona-Zeiten, in denen sie die Feier
nachholen können. Für Anne und Franz
war das keine Option. „Ich bin ein wenig
zornig“, schrieb Anne, „Wir können uns
nicht einfach ein neues Datum aussuchen.“

Anne hatte schon länger über Schmerzen
im Rücken geklagt. In den Weihnachtsferi-
en 2018 dann – Anne und Franz waren ein
halbes Jahr zusammen – entdeckten die
Ärzte einen Tumor an ihrem Rückgrat, der
sich in Knochen und Gewebe frisst. „Ver-
dammt unfair und noch immer verdammt
unwirklich“, schrieb sie im Januar 2019
nach der Operation, bei der ihr der Tumor
und Teile von Wirbeln und Rippen entfernt
worden waren. „Aber hey, wer kann schon
von sich sagen, denselben Chirurgen zu ha-
ben wie Königin Margrethe?“
Anne entschließt sich, auf Instagram
über den Krebs und ihren Kampf zu schrei-
ben. Man sieht sie viel lachen auf den Bil-
dern, man sieht auch Franz viel lachen. Ab
und zu ein Bild, wie sie sich erschöpft dem
Schlaf ergeben. Im Sommer 2019 begann
die Chemotherapie, die Anne ihre langen
dunkelblonden Haare nahm und die Au-
genbrauen. Das war der Sommer, in dem
Franz um ihre Hand anhielt. An Weihnach-
ten dann die Nachricht: Der Tumor ist zu-

rück, aggressiv, hat gestreut. Die Ärzte sa-
gen, sie könnten nichts mehr für Anne tun.
„Das hält uns nicht davon ab, Pläne zu ma-
chen“, schreibt Anne auf Instagram.
Wie andere Leute auch hatte Anne
schon vor ihrer Krankheit für sich im Geis-
te eine Bucket List erstellt, eine Liste mit
Dingen, die einer tun oder sehen möchte,
bevor er stirbt. Anne wusste, dass sie viele
der Dinge auf ihrer Liste nicht mehr tun
würde, Norwegen durchwandern zum Bei-
spiel. Ganz oben aber stand: heiraten. Ein
Hochzeitsfest feiern. Den Brautwalzer tan-
zen, solange die eigenen Beine noch mitma-
chen. Und nun sollte ihr das Virus auch die-
sen sehnlichsten Wunsch nehmen?
Es sind ja nicht nur die neuen Regeln, die
eine Feier unmöglich machten. Es ist die
Seuche selbst: eine Ansteckung bei einem
infizierten Gast hieße für Anne, dass das Vi-
rus sie noch vor dem Krebs töten könnte.
„Es ist fast unerträglich“, schrieb Anne. Sie
klagt fast nie in ihren Posts, aber jetzt blitz-
ten Zorn und Verzweiflung durch.
Franz’ Mutter hatte die Idee: Warum
nicht ein virtuelles Fest feiern? Zuerst zö-
gerten die beiden, dann sagten sie Ja. Die
Mutter stürzte sich in die Arbeit, verschick-
te Tischkarten, Luftballone und Goodie
Bags an die Eingeladenen in Kopenhagen,
Vallensbæk und in Neuseeland.
Am Samstag, um Punkt 15 Uhr, war es so
weit. 93 Gäste, alle zu Hause in Corona-
Selbstisolation, hatten sich eingeloggt zu
einer Videokonferenz. Und sie alle trugen
die festliche Kleidung, die sie vorbereitet
hatten. In ihrem Haus in Højbjerg saßen
Franz in Anzug und Fliege und Anna ganz
in Weiß vor dem katholischen Priester, der
die beiden in ihrem Wohnzimmer traute.
Außer dem Priester waren lediglich die bei-

den Mütter und zwei Trauzeugen persön-
lich zugegen, in gebührendem Abstand.
„Ich konnte kaum atmen vor Aufregung“,
sagte Franz nach der Zeremonie dem däni-
schen Rundfunk DR. „Die Freude hat mich
übermannt.“ Auf Videoaufnahmen sieht
man, wie Anne kurz vor dem Ja-Wort beina-
he die Beine versagen, Franz hält sie.
Bevor später die Party begann, gingen
die Gäste überall im Land in ihre Küchen,
um das Entree, den Caesar Salad und die
Thunfischmousse anzurichten, die sie zu-
vor bei Caterern in Aarhus und Kopenha-
gen abgeholt hatten. Alle schalteten wie-
der ein, um gemeinsam zu essen, zu scher-
zen und sich zuzuprosten. Manche Gäste
hatten Einspieler auf Video vorbereitet:
ein Stück am Klavier, ein gesungenes Lied.
Anne war zuletzt mit einer Gehhilfe ge-
laufen, aber nun tanzten sie und Franz ih-
ren Hochzeitstanz zu dem Song „Be My Ba-
by“ von denRonettes. Franz hielt eine Re-
de, in der er Anne sagte, dass in all den
schweren Monaten sie seine größte Stütze
gewesen sei. „Anne macht es einem ein-
fach, Anne zu lieben.“ Dann nahm er seine
Gitarre und spielte „If I Should Fall Be-
hind“ von Bruce Springsteen:
„If as we’re walking / a hand should slip
free / I’ll wait for you / And should I fall be-
hind / Wait for me“.
Sie weinten und sie lachten, sie warfen
einen Brautstrauß und losten per Zufallsge-
nerator auf einer Smartphone-App aus,
welche der am Bildschirm versammelten
Freundinnen ihn fangen würde. Das Fest
dauerte bis drei Uhr morgens, dann logg-
ten sich die letzten Gäste aus.
„Mein Leben fühlt sich nun komplett
an“, sagte Anne zu DR. „Ich spüre eine Ru-
he in meinem Körper.“
Nun erleben sie einen „Quarantäne-
Honeymoon in der Ruhe und im Frieden un-
seres Hauses“, schreibt Franz. Anne hatte in
den vergangenen Tagen große Schmerzen,
sie verlässt kaum das Bett. „Die Hochzeit
war ein perfekter Tag“, schrieb sie am Don-
nerstag auf Instagram, „das gibt mir Kraft.“
„Wir sind glücklich“, schreibt Franz der SZ.
„Anne ist meine Frau, endlich.“
Seit Samstag ist dies die Liebesgeschich-
te von Anne und Franz Posch.

In Wipfeld am Main ertönt Marschmusik, dann folgt die Durchsage. In Deutsch-
landexistierennoch etwa zwei Dutzend Ortsrufanlagen. FOTO: DAVID EBENER/DPA

Die Hochzeit, die


nicht warten kann


Franz und Anne haben es eilig


mit dem Heiraten, denn die Braut


ist todkrank. Dann kommt


Corona und verhindert das Fest.


Doch es gibt eine Lösung


Tim Kortüm, 36, Bäckermeister aus
Dortmund, backt Klopapier-Kuchen.
„Uns ist vieles weggebrochen: keine
Hochzeitstorten mehr, keine belegten
Brötchen für Veranstaltungen. Da kam
die Idee mit dem Klopapier-Kuchen“,
sagte er der Deutschen Presse-Agentur.
Der runde Marmorkuchen, der mit
weißem Fondant umwickelt ist, habe
sofort reißenden Absatz gefunden. Er
produziere 200 Rollen am Tag.


Marshmello, vermutlich 27, vermutlich
US-amerikanischer Musikproduzent,
bedauert angesichts von Ausgangsbe-
schränkungen und Abstandsregeln sein
früheres soziales Verhalten. „Ich bereue
all die Gelegenheiten, in denen ich so
getan habe, als würde ich schlafen, um
meine Freunde
abzuwimmeln, die
mit mir ausgehen
wollten“, schrieb er
auf Twitter. Hinter
Marshmello, der
stets eine Maske
trägt, steckt wahr-
scheinlich der DJ
Chris Comstock, die
Identität wurde aber
nie offiziell bestä-
tigt.FOTO: AFP


Udo Lindenberg, 73, Panikrocker, ist
ausgezogen. Nach 26 Jahren habe er das
Hamburger Hotel „Atlantic“ verlassen,
sagte sein Management derBild-Zei-
tung. Das Hotel habe wegen der Corona-
Krise schließen müssen, dem Musiker
sei dennoch angeboten worden, in sei-
nem Privatflügel mit eigenem Kino
bleiben zu können, allerdings ohne
Service. Lindenberg befinde sich nun
„an einem sicheren Ort“.


Cathy Hummels, 32, Influencerin,
macht Doktorspiele. Auf Instagram star-
tete sie unter dem Titel „Cathys Corona
Update“ eine Videokolumne. Darin fragt
sie, mit einem rosafarbenen Stethoskop
um den Hals und einem Kinderarztkof-
fer im Peppa-Wutz-Design neben sich,
einen per Video zugeschalteten „Dr. Juli-
an, der in der Hausarztpraxis von sei-
nem Papa arbeitet“, wie man Corona von
einer normalen Grippe unterscheiden
kann und ähnliche Dinge. Am Ende ruft
sie ihre Follower auf, weitere Fragen
einzuschicken.


Axel Prahl, 60, Schauspieler, hat eine
Alternative für seinen geplatzten Ur-
laub gefunden. DerBild-Zeitung sagte
er: „Jetzt fahren wir zweimal mit dem
Wohnmobil um den Block.“


Elizabeth II., 93, Königin von England,
kommuniziert altmodisch. Die königli-
che Familie twitterte ein Foto, das die
Queen bei ihrer wöchentlichen Audienz
mit Premier Boris
Johnson zeigt –
wegen Corona nicht
von Angesicht zu
Angesicht, sondern
fernmündlich. Das
Telefon der Monar-
chin ist ein klobiger,
weißer Apparat mit
Schnur. Ob es auch
eine Wählscheibe
hat, ist nicht zu
sehen.FOTO: GETTY


Cem Özdemir, 54, Grünen-Politiker,
gehört nicht zur Jogginghosen-Fraktion.
„Mein Vater hat mir immer gesagt, ich
muss gut aussehen, wenn ich Deutsch-
land repräsentiere“, sagte der Bundes-
tagsabgeordnete derBadischen Zeitung.
Also habe er bei einer Telefonkonferenz
des Verkehrsausschusses „in Jackett und
Krawatte“ im Home-Office gesessen.
Özdemir wurde positiv auf Corona getes-
tet und befindet sich in Quarantäne.


Bergneustadt– In einem Supermarkt
im nordrhein-westfälischen Bergneu-
stadt hat eine Kundin aus Protest gegen
die Rationierung von Klopapier den
Betrieb lahmgelegt: Wie die Polizei am
Donnerstag mitteilte, wollte die 54-Jäh-
rige am Vortag mehrere Packungen
Klopapier kaufen: „Als sie aufgefordert
wurde, nur ein Paket zu kaufen und die
übrigen zur Seite zu legen, setzte sich
die Frau auf das Kassenband.“ Die her-
beigerufenen Polizeibeamten konnten
die Frau nicht beruhigen. Als sie ihr
Handschellen anlegten, wehrte sie sich
heftig. „Sie brüllte, ließ sich zu Boden
fallen und musste schließlich zum Strei-
fenwagen getragen werden“, heißt es im
Polizeibericht. Als sie aus dem Gewahr-
sam entlassen wurde, hatte sie immer
noch kein Toilettenpapier: „Zu einem
Kaufvorgang ist es infolge der Randale
nicht gekommen.“ dpa


Bochum– Nach dem Wurf eines E-Scoo-
ters auf die A40 in Bochum sind zwei
junge Männer wegen Mordversuchs
verurteilt worden. Das Landgericht ver-
hängte dreieinhalb Jahre Haft bezie-
hungsweise drei Jahre Jugendhaft. Die
18 und 22 Jahre alten Deutschen hatten
den 25 Kilo schweren Leih-Scooter unter
Alkoholeinfluss aus neun Metern Höhe
auf die Fahrbahn geworfen. Mehrere
Autos fuhren ineinander, schwer verletzt
wurde niemand. Die Angeklagten hätten
Riesenglück gehabt, dass nicht mehr
passiert sei, sagte der Richter. dpa


Blecherne Stimmen


Die Lautsprecherdurchsagen sind in den Alltag zurückgekehrt. Was sich für Städter fremd anfühlt, ist einigen Dorfbewohnern schon lange vertraut


Den Brautwalzer tanzen, solange
die Beine noch mitmachen –
ein Ziel in Annes Leben

10 HF2 (^) PANORAMA Freitag,27. März 2020, Nr. 73 DEFGH
Anne und Franz Posch
bei derTrauung in ihrem
Wohnzimmer – mit vier
leibhaftig anwesenden
Gästen und 93 per Video-
konferenz zugeschalteten.
Die virtuelle Party dauerte bis
drei Uhr nachts.
FOTOS: MADS DUE EGESLUND (2), FRANZ POSCH
LEUTE
Völlig von der Rolle
Haftstrafe nach Scooter-Wurf
KURZ GEMELDET

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