Süddeutsche Zeitung - 27.03.2020

(ff) #1

Sitzen. Atmen. Schauen: Leere Bühne.
Schwarze Wände. Schwarze Türen. Ein Wä-
gelchen mit Eimer und Kelle. Von draußen
weht das ferne Klingeln einer Straßen-
bahn herein, dann herrscht wieder Stille.
Es sind vielleicht sechzig Minuten vergan-
gen, man merkt doch schon deutlich Län-
gen, als plötzlich aus dem Schnürboden
ein strahlend weißer Fussel herabflattert.
Langsam, lautlos, stetig. Großer Auftritt
auf weiter Bühne, der hilflose Fall des Ein-
zelnen. Oder doch nur ein Fussel?


13 Uhr im großen Saal der Münchner
Kammerspiele. Samstags war das in den
letzten zwei Jahren der Moment, an dem
hier ein Gemeinschaftserlebnis seinen An-
fang nahm, wie man es nur selten erleben
darf. „Dionysos Stadt“, ein ganzer Tag The-
ater, ein Fest, das von Stunde zu Stunde in-
tensiver wird. Nils Kahnwald tritt anfangs,
um eins, an die Bühne und erklärt dem Pu-
blikum, dass heute alles ganz anders ist.
Mittlerweile ist auch alles ganz anders.
Die Theater in Deutschland haben dichtge-
macht. Vorhang runter, Türen zu und Dun-
kel. Wie ist das jetzt da drinnen? Theatersä-
le sind Gemeinschaftsräume. Man kommt
zusammen, um mit anderen, dicht an dicht
sitzend, den Schauspielern auf der Bühne
zuzusehen. Ein Selbstversuch: Wie fühlt
sich das an, alleine im verwaisten Saal?
Katrin Dod, die Pressesprecherin der
Kammerspiele, holt den Probanden am
Bühneneingang ab und bringt ihn in den
gähnend leeren Saal. Sie hat Pressemateri-


al dabei: An diesem Abend wäre „Genesis“
von Yael Ronen aufgeführt worden, ein
Stück über unsere Weltanfangsmythen,
das Tohuwabohu, aus dem Gott die Welt
schuf, die er dann, großer Fehler, den Men-
schen übertrug. „Genesis“ ist zwei Stun-
den lang, also müssen die Stille und das
Nichts jetzt auch zwei Stunden ausgeses-
sen werden. Dod wünscht „gute Unterhal-
tung“, dann schließt sich die Tür.
Erstmal gibt es eigentlich nur Vorteile:
Lauter sehr gute Plätze. 690, um genau zu
sein. Von allen aus hat man freie Sicht. Und
im Saal ist es angenehm still, kein Husten,
kein Programmheftgeblätter. Also einfach
mitten rein, Reihe 6, Platz 10.
Die Bühne: Selbst für eine Beckett-Insze-
nierung wär das hier doch relativ streng.
Kahle Wände, keine Kulissen. Und das Ar-
beitswägelchen ein Symbol für gar nix. An-
sonsten Luft und Licht und Stille. Es riecht
nach Staub und Holz. Drüben im Residenz-
theater wird jetzt dasselbe Stück gegeben.
Genauso wie im Nationaltheater. Cuvillies.
Marstall. 142 Stadt- und Staatstheater gibt
es in Deutschland, mit 807 Spielstätten,
von nationaltheatergroßen Opernsälen bis
zur werkraumkleinen Studiobühne.
252490 Sitze sind auf unbestimmte Zeit
hochgeklappt und schauen mit ihren belei-
digten Froschmäulern ans Deckendunkel.
Sitzen. Atmen. Schauen. In den Psalmen
gibt es eine wunderschöne Luther-Überset-
zung: „Sei stille dem Herrn.“ Was bedeutet,
dass man aktiv still sein kann. In eine Rich-
tung. So was wie inneres Lauschen. Also:
Sei doch mal stille dem Stück, das die Stille
hier gibt. Wie heißt es eigentlich? Kein
Lärm um nichts? Der Rest ist Schweigen?
Im Inneren leider keine Stille. Im Gegen-
teil, sofort geht die innere Plaudertasche

auf, die Sorge hält einen ihrer flatterigen
Monologe, was soll nur werden mit dem Vi-
rus und der Welt. Die Langeweile sagt, was
sie immer sagt, alles öde. Doch dann stei-
gen all die Erinnerungen hoch und schwe-
ben auf die leere Bühne: Gerhard Polt, der
hier mit den Biermösl Blosn den ganzen
Saal zum Singen bringt und den Münch-
nern ihren obszönen Reichtum vorhält:
„Scampi in Aspik!“ Szenen aus „Dionysos
Stadt“. Wie Nils Kahnwald anfangs vorrech-
net, dass in einem Jahr zehn von uns Zu-
schauern vermutlich tot sein werden und
in drei Jahren vielleicht schon fünfzig. Ex-
ponentielle Totenzählung, weit vor Coro-
na. Im dritten Akt dann die „Orestie“-Feier
mit den Zuschauern auf der Bühne, alle
miteinander so unvorstellbar dicht ge-
drängt wie Viren in der Petrischale. Stefan
Puchers „Sturm“-Inszenierung, die Bühne
als Welt, die ganze Welt nur Bühne und am

Ende ließ Hildegard Schmahls Prospero
das Stück einfach wieder in sich selbst ver-
schwinden: „Unsere Schauspieler waren al-
le Geister, und zerflossen in Luft. Und, wie
das haltlose Gebilde dieser Vision, sollen
sich die wolkenbedeckten Türme, die Pa-
läste und der große Globus selbst, ja, und
alles was er in sich trägt, auflösen. Und wie
dieses dürftige Schauspiel verschwand, las-
sen sie nicht einen Fetzen zurück.“
Sitzen. Atmen. Schauen: Die Zeit dehnt
sich zäh, wenn so gar nichts los ist. Nach
40 Minuten ist der Neugierglanz des Expe-
riments relativ verblasst. Drückende Ein-
samkeit kriecht durch den Saal. Wie lang
der jetzt wohl leer steht? Und gab es das
schon mal? Solche eine Zwangspause?
„Zahlreiche Erkrankungen im Personal
der Städtischen Bühnen haben zu einem
Zusammenbruch des schon lange gefähr-
deten Spielplans geführt.“ Eine Zeitungs-
meldung vom April 1948. „Die Kammer-
spiele sind gezwungen, zunächst am 28.
und 29. April geschlossen zu bleiben. Der
Theaterarzt stellte bei den meisten Mitglie-
dern starke Unterernährung fest.“ Damals
schrieb die Intendanz einen Brief an den
Oberbürgermeister. Die Theaterarbeit wer-
de ohne Lebensmittelzulagen völlig zum
Erliegen kommen., „Keines der Repertoire-
stücke der Kammerspiele könne infolge
der Erkrankung unentbehrlicher Haupt-
darsteller gegeben werden.“ Es gab Zula-
gen, sie konnten bald weiterspielen.
Und dann plötzlich Auftritt weißer Fus-
sel, lautlos schwebend durch die Stille. Der
Fussel macht das sehr, sehr gut, der freie,
einsame Fall aus dem Schnürboden, das
hilflose Trudeln, das so natürlich wirkt.
„Nun ja. Da bin ich. Ein kleines Staubkorn
in einem kleinen Winkel, das ein aus dem

verlorenen Draußen kommender Hauch
hochhebt und das der nächste wieder nie-
derschlägt.“ Samuel Beckett in einem sei-
ner späten „Texte um Nichts“.
14.45 Uhr: In „Dionysos Stadt“ gibt es
um diese Zeit herum diesen feierlichen Ge-
meinschaftsmoment: Nils Kahnwald und
Wiebke Mollenhauer machen Stage Di-
ving, lassen sich vom Publikum einmal
durch den Raum reichen, vertrauen dar-
auf, getragen zu werden, eine Art gemein-
same Kommunion. Stattdessen sind jetzt
leise Schritte zu hören, hinter der Bühne.

Ein Arbeiter tritt von links auf. Sein Kollege
lässt aus dem Schnürboden schwarze Stan-
gen heruntergleiten. „Hier steht: ,Ausrich-
ten der Zugstange auf ein Meter 20‘“, sagt
der auf der Bühne. „Hää?“ ruft der aus dem
Schnürboden, während die Stangen weiter
sinken. Der Arbeiter geht von links einmal
quer über die Bühne und tritt dabei auf den
Beckett-Fussel. „Ab Zug 11 müssen wir wei-
termachen“, brummelt er. Die Stangen
schweben in einem Meter Höhe. Wie Sper-
ren oder Sichtbarrieren. Das Spiel ist aus.
Fußnote: Das Experiment hat in einer
sehr fernen Vergangenheit stattgefunden,
am Mittwoch vergangener Woche. Ganz
München wirkte auf dem Heimweg wie ein
befremdliches Ferienfreiluftidyll, streichel-
milde Frühlingsluft, volle Straßencafés, an
der Isar ließ eine Gruppe die Bierflasche
kreisen. Der Tod war noch weit weg, in Itali-
en. Seltsam, wie wenig wir Menschen uns
immer vorstellen können. alex rühle

von christine dössel

D


as Theater ist Krisen eigentlich ge-
wohnt, es kokettiert auch oft damit.
„Theater ist Krise“, lautet ein be-
kanntes Bonmot des ostdeutschen Pro-
blemwälzers Heiner Müller. Und als Mar-
tin Kušej 2011 das Münchner Residenzthea-
ter übernahm, flirtete er mit dem Desas-
ter: „Krise heißt Höhepunkt“, stand auf sei-
nen schwarz-roten Signalplakaten, und:
„Neue Kraft für Katastrophen“.
Nun, da wirklich eine Katastrophe her-
einbricht und die Corona-Krise ganze Län-
der lahmlegt, vernimmt man von Kušej,
der inzwischen das Wiener Burgtheater
leitet, ganz andere Töne, Ausdruck echter
„Fassungslosigkeit und Leere“. Er sei sich
sicher, „dass es kein Leben ohne Kunst ge-
ben kann“, sagte er der Wiener Wochenzei-
tungFalterangesichts des systemischen
Shutdowns, der nicht nur die Wirtschaft,
sondern extrem hart auch die Theater, die
Kunst und Kultur trifft. Man werde „ir-
gendwann abwägen müssen, ob die Krank-
heit, die die Menschen ohne Kunst befallen
würde, nicht noch schlimmer wäre“.
An diesem Freitag ist Welttheatertag, ei-
gentlich ein Aktions- und Feiertag zur Wür-
digung der Theaterkunst, dieser lebendigs-
ten aller Künste, und ihrer Bedeutung.
Nun ein Schließtag, ein Tag des Stillstands,
der Leere und Besorgnis. Die Theater sind
dicht. Der Vorhang zu und so viele Existenz-
fragen offen. Die meisten Bühnen haben
wegen der Viruskrisenlage ihre Schlie-
ßung jetzt erst einmal bis zum 19. April ver-
kündet. Aber dass sie am 20. April den
Spielbetrieb wieder aufnehmen können,
daran glaubt, wenn man sich umhört, nie-
mand. Die laufende Spielzeit muss vermut-
lich abgehakt werden. Die wichtigen Festi-
vals im Frühsommer – Berliner Theater-
treffen, Mülheimer „Stücke“, Ruhrfestspie-
le, „Theater der Welt“ – wurden bereits ab-
gesagt, Oberammergau ebenfalls.
Bittere Zeiten. Wo den Theatern von der
Politik normalerweise jeder Schließtag,
jeder nicht verkaufte Platz um die Ohren
gehauen wird, sind sie nun just dazu ver-
dammt. „Die Einnahmeverluste sind gi-
gantisch“, sagt Ulrich Khuon, der Präsi-


dent des Deutschen Bühnenvereins. Wäh-
rend des Telefonats sitzt er in seinem Büro
im Deutschen Theater Berlin, dessen Inten-
dant er ist. Einer muss ja am Steuer blei-
ben. Das Paradoxe sei, so Khuon, dass aus-
gerechnet die Theater, die doch normaler-
weise „die Unterbrecher seien“, also zustän-
dig für Schock, Störung, für ein Innehalten
und Nachdenken der Gesellschaft, „nun
selber unterbrochen werden“. Er stelle die
Tendenz fest, „diese Lücke nun gleich wie-
der mit tausend Aktionen füllen zu wol-
len“, Intendanten seien nun mal Aktions-
menschen. „Das ist, wie wenn man einen
Formel-1-Wagen in die Garage stellt.“
Khuon führt derzeit mehr Telefonate
mit Kollegen denn je: „Reden ist wichtig, es
dient der Selbstvergewisserung: Es gibt
uns noch!“ Als Bühnenvereinspräsident
gibt er keine Vorgaben, nur Empfehlun-
gen, angelehnt an die Auflagen der Politik


  • oberstes Gebot: die weitgehende Unter-
    bindung physischer Kontakte.


Persönlich findet er, dass die Zeit nun ge-
nutzt werden sollte für „Vertiefung und
Konzentration“. Ohnehin sieht Khuon für
die Zeit nach der Krise einen „Paradigmen-
wechsel“: „Wir werden nicht mehr so viel
in der Gegend herumjetten in der Mei-
nung, überall gleichzeitig sein und den neu-
esten Theatertrend aus China genauso wie
den aus Russland haben zu müssen.“ Er
wolle damit keinem „nationalistischen Re-
gionalismus“ das Wort reden, das zu unter-
streichen ist Khuon wichtig. „Aber statt in

die Breite wieder mehr in die Tiefe zu ge-
hen, ist sicher nicht nur ein Verlust.“
Peter Spuhler, der international umtrie-
bige Intendant des Staatstheaters Karlsru-
he, denkt in dieselbe Richtung, wenn er
von „Solidarität“ und „Entschleunigung“
spricht. „Es gibt auch ein Recht auf Nach-
denken und Sich-Sammeln in der Corona-
krise“, sagt ausgerechnet er, der Ruhelose.
Auch Spuhler sitzt tagsüber noch im Büro
und versucht, die Abläufe des Stillstands
zu koordinieren und Extrahilfe für die
freien Gastkünstler zu organisieren.
Spuhlers Haus ist ein Mehrspartenthea-
ter, 750 Mitarbeiter. Das künstlerische Per-
sonal wurde heimgeschickt, teils mit No-
ten für die Chorsänger und Textlernauf-
gaben für die Schauspieler, schon für die
nächste Spielzeit. In der Verwaltung, den
Werkstätten, der Bühnentechnik, der Mas-
ke wird aber noch gearbeitet: Wartungs-,
Dekorations-, Vorbereitungsarbeiten. In ei-
ner Hilfsaktion fertigt die Kostümabtei-
lung Mundschutzmasken für das Städti-
sche Klinikum an – eine Solidaritätsmaß-
nahme, wie sie momentan viele Theater er-
greifen, etwa Bremerhaven, Koblenz, Biele-
feld, Hagen und das Schauspielhaus Düs-
seldorf. Das scheint eine richtige Bewe-
gung zu werden. In Karlsruhe kam aus der
Tischlerei auch der Vorschlag, Plexiglas-
scheiben als Spuckschutz für Apotheken
und Supermarktkassen zu bauen.
So ist die Situation der geschlossenen
Bühnen einerseits verheerend, anderer-
seits voller neuer Ideen, Aktionen, Heraus-
forderungen. Ruhe geben und in der Ver-
senkung verschwinden die Theater jeden-
falls nicht. Seit der Lappen nicht mehr
hochgeht, überbieten sie sich gegenseitig
darin, Online-Bühnen zu bespielen. Insze-

nierungsaufzeichnungen, Live-Kamera-
Experimente, Homevideos – nahezu jedes
Theater streamt und sendet. Es scheint ei-
nen regelrechten Wettbewerb zu geben,
wer den originellsten, coolsten, hippsten
Internetauftritt hinlegt. So verständlich
und kreativ das Ausweichen ins Internet
ist – es ist zum Teil auch problematisch. Ne-
ben einigen Luxusformaten großer Büh-
nen kursieren so viele halbprofessionelle
und fade Theaterersatzformen, dass man
nur hoffen kann, die Menschen werden da-
durch nicht vom Theater abgeschreckt.

André Bücker, Intendant am Staatsthea-
ter Augsburg, findet den „Streaming-
Wahn“ fragwürdig. Wenn nun alle ihre In-
szenierungen „umsonst ins Netz hauen“,
sei das weder urheberrechtlich geklärt
noch eine Hilfe für die Künstler. Ihm feh-
len da auch die Themen, die „inhaltliche
Notwendigkeit“: „Mit Theater als Ort der
Versammlung, mit politisch-freiheitlicher
Reflexion des Geschehens hat das nichts
zu tun.“ An seinem Haus sei man auf der Su-
che nach Formen, „die die Einzigartigkeit
und Unmittelbarkeit des Theaters“ aufgrei-
fen. „Da forschen wir gerade“, sagt Bücker
fast ein bisschen geheimnisvoll, das gehe
in Richtung Virtual Reality.
Neue Online-Formate für das Theater
zu (er)finden, ist vielleicht wirklich die Auf-
gabe und Chance der Stunde. Auch wenn
es irgendwie absurd ist. Machen nicht so-
gar die Digital Natives gerade deshalb The-
ater, weil es leibhaftig ist und nicht im Netz

stattfindet? Annemie Vanackere, Intendan-
tin des Berliner Produktionshauses HAU,
ist hin und hergerissen. „Ich gucke ungern
Theater online“, sagt die Belgierin, „aber
wir müssen auch gerüstet sein, daher brau-
chen wir schnell neue Formate.“ Formate,
die eine junge Zielgruppe auch nach der
Krise ansprechen. Formate aber auch, mit
denen die Künstler Geld verdienen.
Freie Künstler und Kollektive, wie sie
am HAU unter Vertrag stehen, haben der-
zeit das größte Nachsehen. Zu oft gilt: Tre-
ten sie nicht auf, gibt es kein Geld. Da geht
es ans Eingemachte. Einer Choreografin
wie Isabelle Schad, die mit ihrer Gruppe im
Juni am HAU hätte spielen sollen, ist mit ei-
ner Verschiebung auf Oktober nicht gehol-
fen. Die braucht das Geld für ihre Tänzerin-
nen im Juni. Jenseits der politischen Hilfs-
pakete nun Möglichkeiten zu finden, sol-
chen Künstlern dennoch etwas zu zahlen
(etwa Recherchemittel) und Gelder umzu-
verteilen, hält Vanackere für wichtiger, als
in der nächsten Spielzeit „gleich wieder
30 Produktionen rauszuhauen“. Ihr Rat:
„Nehmen wir jetzt mal ein bisschen die
Luft und den Produktionsdruck raus!“
Die Zuschauer können die Theater un-
terstützen, finanziell wie psychologisch. Et-
wa indem sie Gutscheine oder, noch bes-
ser, Abos kaufen und verschenken, „bevor-
zugt an Menschen, die das Theater noch
nicht für sich entdeckt haben“, rät Peter
Spuhler. Ein wichtiges Signal gibt, wer auf
die finanzielle Rückerstattung bereits ge-
kaufter Karten verzichtet, wie das die
Abonnenten der Komödie am Ku’damm
Berlin bei der ausgefallenen Premiere von
Katharina Thalbach getan haben. „Für die
Privattheater ist so etwas von einer exorbi-
tanten mentalen Bedeutung“, sagt Ulrich
Khuon, das dürfe man nicht unterschät-
zen. „Auch dass die Politik die Theater
nicht infrage stellt, gibt uns Kraft.“
Was der Einzelne sonst noch tun kann?
Die Treue halten. Mitglied in einem Förder-
verein werden. Sich an Crowdfunding-
und Spendenaufrufen beteiligen, siehe
zum Beispiel ensemble-netzwerk.de. Und
dann, wenn wieder gespielt wird, mit der
ganzen Familie hingehen und den Theater-
besuch feiern: als kulturelles Fest.

Zu den Dingen, die man vor Tagen noch für
unerhörtgehalten hätte, gehört, wie bang
man jetzt das eigene Beziehungsleben mit
einem behördlichen Maßnahmenkatalog
abgleicht. Die bayerische Allgemeinverfü-
gung besagt etwa, dass die „Kontakte zu an-
deren Menschen außerhalb des eigenen
Hausstands auf ein absolut nötiges Mini-
mum zu reduzieren“ seien. In 54,4 Prozent
der Haushalte der Landeshauptstadt Mün-
chen und 42 Prozent der Haushalte repu-
blikweit blicken nun die Bewohner stumm
um einen leeren Tisch herum. In den letz-
ten Jahren ist der Anteil der Singlehaushal-
te stetig gestiegen.
Schon klar, dass die Kontaktbeschrän-
kungen kein moralisches Reglement dar-
stellen, sondern ein pragmatisches gegen
die Ansteckung mit dem Coronavirus. Ein
gesellschaftlicher Rückschritt entsteht
aber gezwungenermaßen auch, wenn die
Kategorie des „absolut nötigen“ Kontakts
der Kernfamilie wieder die Form der abge-
schlossenen Einheit gibt, von der Soziolo-
gen und Psychologen zuletzt aus guten
Gründen abgeraten haben. Die Fürsorge
für Kinder und andere Menschen auf viele
Schultern und mehrere Generationen zu
verteilen; Ressourcen, wie Autos zum Bei-
spiel, mit vielen Personen zu teilen und so-
wieso die intimsten Beziehungen nicht mit
der Erwartung zu überfrachten, alle mögli-
chen Lebensprobleme aufnehmen zu kön-
nen – all das ist zuletzt als fortschrittliche

Lebensweise gepriesen worden. Gerade
Menschen, die in Statistiken unter der Ru-
brik „Singlehaushalte“ auftauchen, haben
häufig ein lebendiges Wissen davon. Der
Alltag der meisten Menschen besteht in ei-
nem über Jahre geknüpften, mehr oder we-
niger informellen Netz von Beziehungen
verschiedenster Intensität, das jetzt – zu-
mindest was die anfassbare Welt jenseits
der Videochats und Telefonleitungen an-
geht – in winzige Knötchen zerfällt. Und
zerfallen muss, weil Netzwerke physischen
Kontakts sich heute in Ansteckungsketten
übersetzen.
Ein besonders großer Fortschritt war es
vor allem, dass sich der Staat zuletzt von
der Sanktionierung und Beurteilung priva-
ter Beziehungen zurückgezogen hat. Und
so kann man auch aus den verschiedenen
Bestimmungen der Bundesländer zu Kon-
taktbeschränkungen während der Corona-
Pandemie eine fast rührende Hilflosigkeit
herauslesen, etwas reglementieren zu sol-
len, was zum Glück aller nicht mehr Sache
von Polizei und Behörden ist. In Bayern ist
etwa von „Lebenspartnern“ die Rede, die
man besuchen dürfe. Was ist ein Partner?
Ist eine Liebesbeziehung intendiert? Mono-
gamie erwünscht? Andererseits muss man
nicht einmal den alten Montaigne für die
Binsenweisheit bemühen, dass manche
Freundschaft mehr Leben aushält als jede
Haus- und Bettgenossenschaft. In der Han-
sestadt Hamburg heißt es feiner, sehen las-
sen dürfe man sich in „Begleitung der Per-
sonen, die in derselben Wohnung“ leben,
sowie „einer weiteren Person, die nicht in
derselben Wohnung lebt“.
Das ist nun also das Spektrum der sozia-
len Möglichkeiten, aber man darf es sich
nicht zu Herzen gehen lassen. Es geschieht
nur für den Moment und aus gravierenden
Gründen. Trotzdem wirkt die Vorstellung,
man müsse einem Polizeibeamten erklä-
ren können, wie man zu der Figur steht,
neben der man die Straße entlanggeht, wie
aus einer merkwürdigen moralischen Fan-
tasie geboren. marie schmidt

Die Art Basel, die wichtigste Kunstmesse
der Welt, wird wie erwartet verschoben.
Statt wie üblich im Juni soll sie nun vom


  1. bis 20. September stattfinden, wie die
    Veranstalter am Donnerstag mitteilten.
    Die Art Basel wurde von der Corona-Krise
    besonders hart getroffen. Bereits im Febru-
    ar musste sie ihre Hongkonger Ausgabe ab-
    sagen, die in der vergangenen Woche statt-
    gefunden hätte.
    Die Krise kommt für die Messe zu einer
    ungünstigen Zeit. Zum einen, weil der glo-
    bale Kunstmarkt bereits 2019 leicht
    schrumpfte; zum anderen, weil die Mutter-
    gesellschaft der Art Basel, die Schweizer
    MCH Group, in wirtschaftlichen Schwierig-
    keiten steckt(SZ vom 21. März). sz


DEFGH Nr. 73, Freitag, 27. März 2020 HF2 11


Leerstück


Bühne frei, und zwar von allem. Wie ist das jetzt, ganz allein in einem Theater zu sitzen? Ein Selbstversuch


Immerhin: Man hat von allen Plätzen aus
freie Sicht auf die Bühne. FOTO: ALEX RÜHLE

„Es gibt uns noch!“


An diesem Freitag ist Welttheatertag. Doch die Theater sind zu.


Sie experimentieren im Internet – und brauchen ihr Publikum mehr denn je


Kostümabteilungen
stellen Mundschutzmasken
für Krankenhäuser her

Was man für die Bühnen tun
kann? Abos kaufen und
verschenken zum Beispiel!

Die Stille dehnt die Zeit. Die Krise
auch: neun Tage her,
das Ganze. Also eine Ewigkeit

Literatur
UllaLenzes Roman über ihren
Großonkel, der für die Nazis in
den USA spioniert hatte 13

Kinder- undJugendliteratur
Sylvie Neeman und die Illustratorin
Albertine inszenieren ein
Spiel mit der Angst 14

Wissen
Infektionen mit dem Coronavirus, die
ohne Symptome verlaufen, sind
wohl häufiger als gedacht 16

 http://www.sz.de/kultur

Wer ist mein


Lebenspartner?


Plötzlich regiert der Staat wieder
in die privatesten Belange hinein

Art Basel im Herbst


252 490 Sitze schauen momentan


mit ihren Froschmäulern


ans Deckendunkel der Theater


Man muss der Polizei erklären,
mit wem man da spazieren geht

FEUILLETON


GroßerAuftritt für die Stille: die Münchner Kammerspiele am Nachmittag des 18. März. FOTOS: RÜHLE


HEUTE

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