Süddeutsche Zeitung - 27.03.2020

(ff) #1
Es sind ja doch die Rebellen, die neuen
Zeiten undFormen zum Durchbruch
verhelfen, und ein solcher war Stuart
Gordon von Anfang an. Mit dem Orga-
nic Theatre in Chicago, wo er 1947 gebo-
ren wurde, sorgte er als erstes für Auf-
sehen, mit Stücken gegen das Esta-
blishment und der Uraufführung von
David Mamets „Sexual Perversity in
Chicago“. Zum Kultfilmer für eine ver-
schworene Weltgemeinschaft aber
wurde er 1985 mit dem Low-Budget-
Film „Re-Animator“, in dem er den Hor-
rormeister H. P. Lovecraft für sich ent-
deckte und zugleich den Frankenstein-
Mythos wörtlicher nahm als je zuvor:
er schälte Hirne aus dem Schädel, ließ
Knochen krachen und Gedärme sich
wie Riesenschlangen winden, aber das
war nicht nur schrecklich, sondern
lustig. Damit wurde er zum Pionier des
Splatterfilms, der dann mit ihm lang-
sam in den Mainstream wanderte. Gor-
don blieb Lovecraft in drei weiteren Fil-
men treu, aber er machte auch Science
fiction und sogar Disneyfilme. Am
Dienstag ist er in Van Nuys, Kalifornien
gestorben. Er wurde 72 Jahre alt. kni

Die aus Mali stammende Sängerin Rokia
Traoré ist aus dem französischen Gefäng-
nis entlassen worden und soll nach Belgien
ausgeliefert werden. Das ist insofern selt-
sam, als sie dorthin sowieso unterwegs
war, als sie am 10. März auf dem Pariser
Flughafen festgenommen wurde (SZ vom


  1. März) Sie steht mit ihrem ehemaligen
    Lebenspartner, dem belgischen Kulturma-
    nager Jan Goossens, wegen des Sorge-
    rechts für die gemeinsame Tochter in ei-
    nem Rechtsstreit. Ein belgisches Gericht
    hatte sie dem Vater zuerkannt. Die mit ih-
    rer Tochter in Bamako lebende Sängerin
    weigert sich, dem nachzukommen, und er-
    hob Gegenklage wegen sexueller Übergrif-
    fe auf die Tochter. In Belgien wurde das Ver-
    fahren als gegenstandslos eingestellt, in
    Frankreich und in Mali läuft es noch.
    Im Januar hatte das belgische Gericht
    Traoré eine letzte Frist gesetzt, mit ihrer
    Tochter zur Beilegung des Streits zu er-
    scheinen, und zugleich einen europawei-
    ten Haftbefehl erlassen. Nach ihrer Fest-
    nahme in Paris trat Traoré in einen Hunger-
    streik.
    Das Pariser Appellationsgericht ent-
    schied nun, dass sie entlassen und nach
    Belgien ausgeliefert werden solle. Da dies
    wegen der Corona-Epidemie derzeit nicht
    möglich ist, soll sie unter gerichtlicher Auf-
    sicht bleiben und darf Frankreich nicht ver-
    lassen. Traorés Anwalt erklärte, der Kampf
    vor dem belgischen Gericht gehe weiter
    und werde, wenn nötig, bis zum Europäi-
    schen Gerichtshof für Menschenrechte
    fortgesetzt. Gegen die Festnahme der Sän-
    gerin hatten Persönlichkeiten wie Judith
    Butler, Annie Ernaux, Achille Mbembe,
    Thomas Oberender, Felwine Sarr und Béné-
    dicte Savoy protestiert.
    Jan Goossens, der seit fünf Jahren das
    Kulturfestival Marseille leitet, ließ über sei-
    ne Anwälte verlauten, alle seine bisherigen
    Angebote für eine Einigung bezüglich des
    Sorgerechts seien von Traoré abgelehnt
    worden. jhan


Stuart Gordon,
Jahrgang 1947,
wurde mit dem
Splatterfilm „Re-
Animator“ be-
rühmt, den er in
späteren Jahren
auch in ein Musi-
cal verwandelt hat.
FOTO: GETTY IMAGES

Eigentlich sagt der Titel schon alles:
ARCH+nennt sich die Zeitschrift für Archi-
tektur und Urbanismus. Die Versalien ma-
chen sofort klar, wie ernst man hier seine
Themen nimmt. Der Beginn des Wortes Ar-
chitektur gibt an, wo diese ihren Anfang
nehmen, und das Plus, wie konsequent sie
hier weitergedacht werden. Vom Städte-
bau und dem Design bis hin zur Frage, wel-
che Räume unsere veränderte Arbeitswelt
heute braucht.
Es dürfte kaum eine Architekturzeit-
schrift geben, die damit dem Wesen der öf-
fentlichsten aller Künste derart gerecht
wird. Denn tatsächlich ist das Bauen ja im-
mer sehr viel mehr als das Gebäude. In der
Architektur manifestiert sich der Zustand
einer Gesellschaft. Wer finanziert das
Haus und mit welchem Zweck? Wie be-
gründet sich der Entwurf und welche Aus-
wirkung hat er auf die Menschen, die darin
arbeiten oder wohnen? Was bedeute er für
das Viertel ringsum? Und welche Vorstel-
lung von Zukunft spiegelt sich darin?

WieARCH+zu ihrem Anspruch kam,
das beschreibt der wunderbare Nikolaus
Kuhnert, Gründer und bis heute Mit-Her-
ausgeber der Zeitschrift, in seiner unver-
gleichlichen Art in „Wir waren Dilettanten
unserer eigenen Geschichte“. Es ist ein
Heft als „architektonische Selbstbiogra-
fie“ und gleichzeitig ist es ein Gang durch
all die zentralen Kreuzungspunkte der mo-

dernen Architektur in Deutschland, weswe-
gen es sich unbedingt zu lesen lohnt. Egal,
ob es sich um den Designer Otl Aicher, den
Architekten Oswald Mathias Ungers oder
einen gewissen Rem Koolhaas handelte,
der – zusammen mit Hans Kollhoff – für
Ungers eine Zeitlang arbeitete: Nikolaus
Kuhnert kannte sie alle und analysierte
ihre Arbeit. Und zwar mit dem Wissen,
dass „die moderne Architektur keine Ge-
schichte der großen alten Männer war, son-
dern eine Geschichte der Reform“.
Die Zeitschrift, die ihren Sitz in Berlin
hat, erscheint vierteljährlich und widmet
sich in jeder Ausgabe einem Thema. Anh-
Linh Ngo ist als Chefredakteur und Heraus-

geber Nikolaus Kuhnert gefolgt, der An-
spruch ist der gleiche geblieben. Egal ob es
sich um Orte der Gemeinschaft handelt,
um die Bautypologien, die eine Stadt wie
Tokio hervorbringt, den Umgang mit der
Bodenfrage oder um die rechten Räume,
die in jüngster Vergangenheit in Europa
entstanden sind: Akribisch, fast wissen-
schaftlich fächert jedes Heft ein Thema in
seiner Bandbreite auf. Meist begleitet von
einem Fotoessay, oft mit Infografiken so
gut aufbereitet, dass man selbst hochkom-
plexe Aspekte auf einem Blick nachvollzie-
hen kann, und immer mit einem zusätzli-
chen „feature“, das in der Regel ein junges
spannendes Architekturbüro vorstellt.

Es ist erstaunlich, wie wenig Ausgaben
vonARCH+altern. Man blättert darin und
ist sofort wieder gefangen, liest sich fest –
und zwar für Stunden, weswegen man bis-
lang meist nicht ansatzweise einem jeden
Heft die Aufmerksamkeit schenken konn-
te, die es verdient hat.
Das dürfte sich im Augenblick geändert
haben. Und deswegen hier nun unver-
blümt der Ratschlag, zügig die Website von
ARCH+ anzusteuern (www.archplus.net)
und ausgiebig zu bestellen. Der Kopf wird
es einem danken. Bis zum 19. April wird Ih-
nen das Verständnis für die gebauten Welt
sogar versandkostenfrei nach Hause gelie-
fert. laura weissmüller

Die Bezirksregierung Düsseldorf hat
nach eigenenAngaben bereits 282 000 Eu-
ro als Soforthilfe für Künstlerinnen und
Künstler bewilligt, um deren pandemiebe-
dingte Einnahmeausfälle auszugleichen.
Pro Tag werden in Düsseldorf demnach
rund 400 neue Anträge auf Soforthilfe ein-
gereicht; insgesamt waren es bisher rund


  1. Dies sind die Zahlen aus einem einzi-
    gen nordrhein-westfälischen Regierungs-
    bezirk. Offenbar gibt es also großen Bedarf
    an dem Angebot, das das Kultusministeri-
    um in NRW für Kultur- und Weiterbil-
    dungseinrichtungen in der Corona-Krise
    macht.
    Es ist eines der bisher wenigen Länder-
    programme, das besonders auf die akuten
    Bedürfnisse Kulturschaffender zuge-
    schnitten sind. So will man Künstler unter-
    stützen, die „durch die Absage von Engage-
    ments in finanzielle Engpässe geraten“. Sie
    werden eine „existenzsichernde Einmal-
    zahlung“ von bis zu 2000 Euro erhalten.
    Der Topf, den Kultusministerin Isabel
    Pfeiffer-Poensgen bereitstellt, nimmt sich
    im Verhältnis zum am Dienstag von der
    Landesregierung verabschiedeten 25-Mil-
    liarden-Notprogramm aber trotzdem be-
    scheiden aus: Mit einem vorläufigen Ge-
    samtbetrag von fünf Millionen Euro fügt
    es diesem Paket lediglich 0,02 Prozent hin-
    zu. Immerhin verspricht man, die Soforthil-
    fe werde, im Gegensatz zu der vom Bund in
    Aussicht gestellten Unterstützung für Frei-
    berufler und Solo-Selbständige unbüro-
    kratisch fließen. Man könne sie mittels ei-
    nes „einfachen Formulars“ bei den zustän-
    digen Bezirksregierungen beantragen und
    müsse sie nicht zurückzahlen, so Pfeiffer-
    Poensgen. Bereits bewilligte oder noch in
    Prüfung befindliche Förderungen in Höhe
    von über 120 Millionen Euro werden zu-
    dem ausgezahlt – auch dann, wenn die Ver-
    anstaltungen und Projekte wegen der Kri-
    se abgesagt oder verschoben wurden.
    Einzelne Gemeinden in NRW bieten zu-
    sätzlich kommunale Soforthilfen. So rich-
    tet etwa die Stadt Köln einen Notfallfonds
    zur Struktursicherung von freien Kulturin-
    stitutionen bei coronabedingten Krisensi-
    tuationen ein. Dieser soll greifen, wenn die
    sonstigen Unterstützungsleistungen zur
    Stabilisierung der freien Kultur nicht aus-
    reichen sollten. In den Fonds fließen städti-
    sche Mittel in Höhe von drei Millionen Eu-
    ro. alexander menden


von thomas steinfeld

D


ie Helden der populären Musik spie-
len gern elektrische Gitarre. Der
Körper dieses Instruments besitzt
etwas Weibliches und etwas Phallisches zu-
gleich. Daran kann man sich offenbar zum
Sieger bilden. Die Helden der populären
Musik spielen auch gern Klavier. Ein Or-
chester liegt dann unter ihren Händen, das
sie in ekstatischen Momenten mit ausge-
streckten Armen und zurückgeworfenem
Kopf bedienen. Die Helden der populären
Musik benutzen schließlich gern ein Mikro-
fon, um ihre Seelenzustände in die Welt
hinauszurufen, sodass man noch in den
entferntesten Gegenden von ihrem
Schmerz und ihrem Glück erfährt. Hinge-
gen spielen die Helden der populären Mu-
sik weder Harfe noch Spinett noch Fagott,
obwohl, musikalisch betrachtet, nichts ge-
gen diese Instrumente einzuwenden ist.
Zu den Instrumenten, die für das Büh-
nenheldentum ähnlich ungeeignet wirken,
gehört die Posaune: ein mehrfach gewun-
dener Rüssel, dem Töne nur mit muskulö-
sen Backen zu entlocken sind. Doch gibt es
gelegentlich einen Posaunisten, der mit ei-
nem solchen Schiebeschlauch zu einem
Helden der populären Musik aufsteigt, mit
den entsprechenden Folgen. Von Nils Land-
gren, den die Schweden Nisse nennen, gibt
es Bilder, die ihn in der Pose eines agilen
Tanzbärs zeigen, die Posaune in die Luft ge-
reckt wie einen Tambourstab. Auf einer äl-
teren Fotografie trägt er sein Instrument
über die Schulter gelegt wie ein Gewehr, in
der Pose, in der John Wayne im Film „Der
schwarze Falke“ auftritt. Es gibt Szenen,
vor allem nach Soli, in denen er die Posau-
ne plötzlich mit der linken Hand nach hin-
ten schleudert, beinahe so, als wäre er
Prince, wie er die Gitarre von sich wirft. Es
hilft aber wenig: Die „Sequenza V“ (1988),
eine Komposition für Soloposaune des itali-
enischen Komponisten Luciano Berio, ist
keineswegs zufällig Grock, dem „König
der Clowns“, gewidmet. Nils Landgren hat
das Stück auch gespielt. Aber es scheint,
als liebte das deutsche Publikum diesen Po-
saunisten auch deshalb so sehr, weil sein
Instrument etwas Eigenwilliges, gar Skur-
riles an sich hat: Auch in Verkaufszahlen ge-
messen, war Nils Landgren im vergange-
nen Jahr in Deutschland der erfolgreichste
Jazzmusiker überhaupt.


Nils Landgren, 64, stammt aus Deger-
fors im Osten der schwedischen Provinz
Värmland. Die kleine Stadt liegt auf halber
Strecke zwischen Göteborg und Stock-
holm, mitten in den schwedischen Wäl-
dern und nicht weit entfernt von einem gro-
ßen See namens Vänern. Der Bahnhof
gleicht einer Garage, der Fußball sorgt für
die Attraktionen, und die ehemaligen Kom-
munisten („Vänsterpartiet“) bilden immer
noch die größte Fraktion im Gemeinderat.
Es gibt diese Stadt nur aus einem Grund:
weil hier im 17. Jahrhundert eine Eisenhüt-
te entstand, die mit der Industrialisierung
Schwedens zur Fabrik wurde. Diese lebt,
den vielen Stahlkrisen zum Trotz, bis heu-
te als Walzwerk für Langprodukte fort.
Nils Landgrens Vater, ein Schmied in eben
dieser Fabrik, spielte Kornett in der dazu-
gehörigen proletarischen Blaskapelle. Er
bewunderte Bix Beiderbecke und scheint
überhaupt ein Agent der Moderne in der


schwedischen Provinz gewesen zu sein:
Das junge Volk wollte Jitterbug tanzen, als
Karl-Erik Landgren in den frühen Vierzi-
gern das silberne Jackett anlegte und eine
Combo ins Leben rief, mit der er den Swing
in die Turnhallen der Region trug. Alle drei
Söhne gingen durch die Schule dieses Ka-
pellmeisters.

Von allen Varianten der Musik ist der
Jazz, wie er seit den Fünfzigern gespielt
wird, das eine Genre, das einer Elite von
Instrumentalisten vorbehalten ist. Die
klassische Musik öffnet sich den Dilettan-
ten wie den Amateuren: Auch ein mittelmä-
ßig begabter Klavierschüler soll, so heißt
es, nach zwei Jahren Unterricht „Für Elise“
spielen können. Zugänglicher noch sind
Blues und Rock: Es gehören keine größe-
ren Fertigkeiten dazu, „Smells Like Teen
Spirit“ auf der Gitarre zu spielen. Mit wie
viel Einfühlung das geschieht, ist eine an-
dere Frage.
Und im Jazz? Der Dixieland kennt noch
den fröhlichen Amateur mit der jaulenden
Klarinette. Anders ist es mit den Klassi-
kern des Bebop oder, oft schlimmer noch,
mit den Kompositionen des Jazzrock: An
der Melodie von Charlie Parkers kleiner
Komposition „Ornithology“ (1946) können
nicht nur Saxofonisten nach mehreren Jah-
ren Schulung verzweifeln, um von kompli-
zierteren Dingen wie den drei Tonarten, in
denen John Coltranes „Giant Steps“ (1959)
steht, gar nicht anzufangen. Der avancier-
te Jazz ist eine Kunstmusik, die sich Dilet-
tanten nur öffnet, wenn diese sich außeror-
dentliche Mühe geben.
Nils Landgren ist ein Virtuose. Selbstver-
ständlich kann er alles spielen, was es zu
spielen gibt. Sein Ton ist meist weich und
leise, und wenn er gelegentlich auch
schmettert, so kennt er doch Wandlungen
und Feinheiten, die man einem solchen
Rohr kaum zugetraut hätte. Vermutlich wä-
re er in der Lage, „Giant Steps“ zu spielen,
während er seine Posaune auseinander-
nimmt und wieder zusammenbaut. Zu-
gleich aber ist die Blaskapelle aus Deger-
fors in ihm lebendig geblieben, die Combo
in ihren glänzenden Jacketts, mit der Karl-
Erik Landgren im Sommer von Turnhalle
zu Volkspark unterwegs war, und über-
haupt das pädagogische Ethos des Vaters,
der Generationen von kleinstädtischen Mu-
sikanten ausgebildet hatte.
„Versuch’s doch einmal mit einem Des“,
sagt Nils Landgren dem Dilettanten, der
sich zum zweiten Mal beim letzten Akkord
eines Schlagers verspielt, und er sagt es so
freundlich und aufmunternd, dass dann
tatsächlich ein Des kommt, zum richtigen
Zeitpunkt und mit der richtigen Intonati-
on. Nils Landgren scheint Musik zu ma-
chen, wie er atmet. So lassen sich vielleicht
die vielen Alben und Konzerte erklären,
oder die Vielzahl der Ensembles, in denen
er spielt. So erklärt sich aber auch das Ver-
trauen, das man zu ihm fasst, wenn man
ein viel schlechterer Musiker ist.
In Deutschland wurde Nils Landgren in
den Neunzigerjahren bekannt, als Kopf ei-
ner Gruppe, die Funk spielt, als wäre Mau-
rice White nie verstummt oder als würde
Marcus Miller noch immer die Melodien
und Riffs für Miles Davis liefern. Zu jener
Zeit war Nils Landgren nicht einmal drei-
ßig Jahre alt und hatte doch schon eine lan-
ge und vor allem bunte Karriere durchlau-

fen: Aus Värmland, wo er an der Musik-
hochschule von Arvika, einer weiteren klei-
nen Industriestadt in den Wäldern, Posau-
ne studiert hatte, war er nach Stockholm
gezogen. Er hatte in der Band des Entertai-
ners Björn Skifs „Hooked on a Feeling“
(„Ooga Chaka, Ooga Ooga Chaka“) ge-
spielt, er war Bläser in der Big Band des
amerikanischen, aber in Kopenhagen le-
benden Trompeters Thad Jones geworden,
fürAbbasorgte er bei „Voulez-vous“ für die
blechernen Signale der Dringlichkeit, und
er hatte eine Solokarriere als Popsänger
mit Posaune (siehe oben) begonnen.
Schmal war er damals und elegant, ein ero-
tisches Ausrufezeichen mit einem tiefen,
von unten kommenden Blick. Mit den
nach hinten gestrichenen Haaren hätte er
zu jener Zeit als jüngerer Bruder von Adam
Ant durchgehen können.
Schmal ist Nils Landgren schon lange
nicht mehr, der Schädel ist kahl geworden,
und mit der Selbstdressur hat er offensicht-
lich nicht mehr viel im Sinn. Auf dem Sport-
platz von Brantevik, einem Fischerdorf im
Südosten Schwedens, nicht weit von sei-
nem gegenwärtigen Wohnort gelegen, ver-
anstaltete er über viele Jahre hinweg ein
Festival, bei dem die Musiker auf der Lade-
fläche eines Anhängers standen. Dort spiel-
te er eine andere Musik als beim Rheingau-
festival oder beim Opernball in Wien. Der
Mensch aber war erkennbar derselbe Po-
saunist und Sänger (sein Gesang ist sei-
nem Posaunenton erstaunlich ähnlich, mit
etwas mehr Sandpapier und etwas geringe-
rem Register), der das Publikum liebt, der
sich von seinen Zuhörern leiten, ja beein-

drucken lässt und den das Publikum eben
dieser Lebendigkeit wegen schätzt.
Vielleicht ist Nils Landgren gutmütig. Je-
denfalls geht er lieber fort, als sich zu strei-
ten. Wichtiger aber ist etwas anderes: zum
einen eine offensichtliche Lust, seine Mu-
sik darzubieten, zum anderen eine Freude
daran, seinen Zuhörern etwas zu schen-
ken, von dem sie gar nicht wussten, dass
sie es sich wünschten. Die Musik von Leo-
nard Bernstein zum Beispiel, mit Gesangs-
partien, die er im Duett mit Janis Siegel vor-
trägt, einer der beiden Sängerinnen des Vo-
kalquartettsManhattan Transfer. Oder er
spielt Weihnachtslieder auf eine Art, dass
diese kleinen Werke schöner werden,
wenn man sie nicht als süße, klingelnde
Feier, sondern als womöglich vergebliche
Verheißung behandelt, was ein gewisses
Maß an Traurigkeit einschließt.

Zu den Seltsamkeiten Schwedens gehört
der Umstand, dass dieses Land mit seinen
zehn Millionen Einwohnern so viele gute
Musiker hervorbringt, in allen Genres,
stets aber in einigem Abstand von der
Avantgarde. Es sang Birgit Nilsson, und es
singt Malin Byström. Es gabAbbaundRo-
xette, es gibt Max Martin und Zara Lars-
son, und eines der schönsten Jazzalben,
die je eingespielt wurden, ist eine Aufnah-
me, in der die Sängerin Monica Zetterlund
mit dem Trio des amerikanischen Pianis-

ten Bill Evans (1964) zu hören ist. Selten
hört man aus Schweden etwas wirklich
Neues, und doch kann man sich darauf ver-
lassen, sich auf der Höhe der Zeit zu befin-
den: Vielleicht ist es so, dass man sich im
Norden gern auf breiter Front in die Zu-
kunft bewegt, während man das Irrlich-
tern den Italienern oder den Engländern
überlässt. Zugleich ist da kein Zögern, je-
der Ton sitzt, und Selbstzweifel sind unbe-
kannt. Woher kommt diese traumwandle-
risch wirkende Sicherheit? Vermutlich ist
sie nicht ohne ein gewisses Maß an freund-
licher Verschwendung zu haben, und nicht
ohne eine Vorstellung von Individualität,
die um ihre Verschiedenheit weiß, ohne
sich deswegen abgrenzen zu müssen.
In diesen Tagen sitzt Nils Landgren in sei-
nem Haus, einer ehemaligen Fischerkate
an der Ostsee. Er übe, sagt er. Eine Tournee
durch Deutschland, die Ende März hätte
beginnen sollen, um durch ein gutes Dut-
zend großer Hallen zu führen, ist abgesagt.
Indessen gibt es ein neues Album mit dem
Titel „Kristallen“, das Landgren mit dem Pi-
anisten Jan Lundgren eingespielt hat. Dar-
auf ist eine Version der „Värmlandsvisan“
zu hören, des ersten schwedischen Volks-
lieds, das in den Jazz übertragen wurde,
von Stan Getz, im Jahr 1951. Es gibt diese
melancholische Melodie in unzähligen Fas-
sungen, mit Chet Baker, John Coltrane und
Miles Davis, von Quincy Jones und McCoy
Tyner. Die Herren Landgren und Lundgren
punktieren sie und legen einen rollenden
Bass darunter. Das Stück klingt, als wäre
es die Begleitung zum Gang eines Lebens,
mit gelegentlichen Hüpfern.

Welches Buch bietet Trost,
welcherFilm beruhigt
die Nerven, welches Kunstwerk
weitet den Blick?
Empfehlungen des Feuilletons
für beispiellose Zeiten.

Er singt auch. Dieser
Mann scheint Musik zu machen,
wie er atmet

Die Library of Congress hat soeben die 1978
veröffentlichte größte Jugendherbergshym-
ne aller Zeiten, „Y.M.C.A.“ vom New Yorker
MännergesangsvereinVillage People,in
die Liste der „kulturell, historisch oder äs-
thetisch herausragenden“ amerikanischen
Tonaufnahmen aufgenommen. Ach, das wa-
ren noch Zeiten, als die Jugendherberge
noch mehr war als ein potenzieller Corona-
Herd. Und jetzt alle auf dem Balkon:

„No man does it all by himself / I said,
young man, put your pride on the shelf /
And just go there, to the Y.M.C.A. / I’m sure
they can help you today / It’s fun to stay at
the Y.M.C.A. / It’s fun to stay at the Y.M.C.A.
/ They have everything for you men to en-
joy/ You can hang out with all the boys / It’s
fun to stay at the Y.M.C.A.“. sz

Akribisch, fast wissenschaftlich
fächert jedes Heft ein besonderes
Thema auf

Sängerin Rokia Traoré


wird ausgeliefert


Horror-Regisseur


Stuart Gordon ist tot


Von rechten Räumen bis zur Bodenfrage:
ARCH+erklärt die gebaute Welt.FOTOS: ARCH+

Der Kopf wird es danken


Eine dringende Empfehlung, alte Hefte der Architekturzeitschrift „ARCH+“ zu bestellen


Topf und Deckel


NRWgeht bei Hilfen für
Künstler voran

Sein Vater brachte


den Swing in die Turnhallen der


skandinavischen Provinz


Nisse mit der Tröte


Der Jazzkünstler Nils Landgren
und seine Posaune, das Instrument für alle Posen

Jeder Ton sitzt. Woher haben die
Schweden ihre traumwandlerisch
wirkende Sicherheit?

12 HF2 (^) FEUILLETON Freitag,27. März 2020, Nr. 73 DEFGH
ÜBERLEBENSKUNST
GEHÖRT, GELESEN,
ZITIERT
Mitden Jungs
Ein Virtuose, selbstverständlich: Vermutlich könnte Nils Landgren
sogar „Giant Steps“ spielen, während er seine Posaune auseinandernimmt
und wieder zusammenbaut.FOTO: ACT/SEBASTIAN SCHMIDT

Free download pdf