Süddeutsche Zeitung - 27.03.2020

(ff) #1

Viele schreiben jetzt eifrig Tagebuch, viele
filmen, sprechen, streamen jetzt ihr Tage-
buch. Ich denke an meine Urgroßmutter,
die, wie sehr viele Menschen damals, am
ersten Tag des Ersten Weltkriegs ein Tage-
buch zu schreiben begann, sehr gewissen-
haft, sehr ausführlich, sehr verbohrt aus
heutiger Sicht, und bis Anfang 1919 durch-
hielt, die Generalleutnantsgattin (ihr Gene-
ral überlebte, ihr Sohn nicht). Nein, ich wer-
de kein Tagebuch schreiben. Nur ein paar
Notizen aus der Intensivstation.
Eine Arbeitspause, ich schaue in die Fer-
ne auf die oberen Hochhäuser der Berliner
City West, bin aufgestanden von meiner In-
tensivstation am Schreibtisch. Das hört
sich kokett an, wenn ich das hier so hin-
schreibe oder in Gesprächen so nenne,
aber für drei, vier Stunden am Vormittag
stimmt das.


Im Dezember, als Corona nichts als eine
blasse Biermarke war, hatte ich entschie-
den, etwa ab März einen Erzähltext über
meine drei Wochen auf der Intensivstation
im Jahr 2008 zu beginnen. Die Erfahrung
mit dem erzwungenen Schweigen durch
den Ausfall der Stimme, des Bewusstseins,
die Albträume des stimmlosen, verständ-
nislosen, endlosen Erwachens aus langem
Koma.
Damals hatte ein unbekannter Virus
oder eine teuflische Virus-Bakterien-Kom-
bination, wahrscheinlich im Flugzeug ein-
gefangen, mir eine schwere Lungenentzün-
dung verpasst, sodass man mich im letzten
Moment ins Koma schickte, aus dem ich,
überdies durch einen Arztfehler fast umge-
bracht, nach zweieinhalb Wochen qualvoll
und traumvoll erwachte. Es wurde als Wun-
der betrachtet, dass ich allmählich wieder
unter die Lebenden kam und mich relativ


schnell erholte. Die Endlosträume auf der
Intensivstation, von den Medizinern Delir
genannt, konnte ich noch drei, vier Wo-
chen danach bis ins Detail erinnern und no-
tieren.
Nein, es ist nicht lustig auf der Intensiv-
station, auch nicht auf meiner von 2008,
auch nicht die sprachliche Annäherung.
Aber jetzt, da ein anderes Virus die Welt er-
obert, will ich nicht kneifen. Vielleicht ge-
lingt es ja, anderen etwas von diesen Erfah-
rungen mitzuteilen.
Nun bin ich bereits mittendrin, wo doch
eigentlich Abstand halten auch eine litera-
rische Devise ist. Es ist nicht leicht heraus-
zufinden, ob ich das Gleiten ins wortlose,
bildreiche Nichts und diese Träume und
die Erfahrung der Stimmlosigkeit sprach-
lich zu fassen kriege. Gerade bin ich auf Sei-
te 16 angekommen. Kleine Pause, ein biss-
chen Gymnastik wäre fällig.
Wegen der diversen Erkrankungen und
des Alters gehöre ich nicht zur Risikogrup-
pe, sondern zur Hochrisikogruppe. Das
schärft, hoffe ich, den Blick (und das ist nur
einer der schönen Vorteile des Alters). Das
Aufblättern der zwölf Jahre alten Erfahrun-
gen wird nicht ganz umsonst sein, möchte
ich mir einbilden, vielleicht stärkt es ja das
Immunsystem.
Eins ist sicher, das wird ein Epochen-
bruch, denke ich, wenn ich hinübersehe in
die Ferne zu den Spitzen der Hochhäuser
der City West, zu den hell strahlenden Ge-
schwistertürmen am Bahnhof Zoo. In ei-
nem, dem eckigen, viele Büroetagen und
das Hotel Waldorf Astoria, im andern, dem
runden, viele Büroetagen und das Hotel
Motel One. Beide, die Luxusklasse und die
Holzklasse voll mit leeren Schreibtischen
und mit leeren Betten. Stolze Fassaden
und innen wahrscheinlich ziemlich men-
schenleer.
Es gab eine Zeit, da fürchtete man die
Neutronenbombe, jetzt sind es die Explosi-
onen eines Virus, die für gesellschaftliche
und wirtschaftliche Implosionen sorgen.
Nicht nur der Flachsinn des extensiven Rei-
sens und der Vielfliegerei wird nachlassen,
auch der Stumpfsinn der Hotelkapazitäten-
wachstumspolitik wird schrumpfen.
Aber ich mag solche Gedanken nicht,
mag nicht mitspielen bei dem bald inflatio-
nären Wettstreit der Soziologen und der
Vielschreiber, sich die Welt von übermor-

gen schon heute auszumalen. Bei den Sand-
kastenspielen, ob der Neoliberalismus
demnächst schwindet oder doch trium-
phiert.
Das ist schon deshalb unappetitlich,
weil noch gar nicht auszudenken ist, wie
die armen Länder, wie die Afrikaner, die In-
der, die Lateinamerikaner durch diese Ka-
tastrophe kommen werden. Im Übrigen
halte ich mich an die Details und bin mit
dem Staunen über die menschenleeren Ge-
schwistertürme noch nicht fertig, denen

man so gar nichts Schlimmes ansieht. Und
doch sind sie ein besserer Anblick als die in
Staub gestürzten Zwillingstürme vor acht-
zehneinhalb Jahren.
Epochenbruch ist ein großes, angebe-
risch tönendes Wort, aber ich weiß noch
kein treffenderes für die Augenblicke die-
ser Tage, in denen, buchstäblich von heute
auf morgen, die menschliche Existenz ein-
mal wieder existenziell betrachtet werden
muss und wird. Eine Zeit, in der die Toten
gezählt werden. Eine Zeit, in der die Ster-

benden allein sterben. In Mitteleuropa
zum ersten Mal wieder seit dem Zweiten
Weltkrieg, nach ungewöhnlich friedlichen
und sorgenschwachen fünfundsiebzig Jah-
ren, steht nach zwei, drei Generationen die-
se Erfahrung wieder vor der Tür: Jederzeit
kann es jeden treffen. Die eine Gruppe
mehr, die andere weniger, wie in jedem
Krieg und wie bei jeder Pest.
Das Virus diktiert uns ein Wir, überlege
ich beim Blick auf die Türme der City. Das
neue Virus ist gnädiger als die alten Kriege,
es trifft eher die Alten als die Jungen. Die
Gesellschaften werden sich, auch das
scheint sicher, verjüngen. Doch auch wir Äl-
teren haben es besser, zumindest in unse-
ren Breiten. Anders als unsere Vorfahren
können wir uns rund um die Uhr informie-
ren und mit den Nächsten austauschen, ha-
ben Telefon und Internet, Lieferketten und
verantwortungsvolle Regierungen, Aufklä-
rung und Ablenkung, Post und Mail, Sky-
pe, Video und Facetime, Facebook und halt-
bare Bücher. Und, ganz wichtig, wir sind
nicht dazu verdonnert, uns militärisch ver-
biegen zu lassen und unsere Nachbarlän-
der als Feinde zu hassen und zu vernich-
ten. Im Gegenteil, der Sinn für Nachbar-
schaft und Gemeinsinn wächst.

Ich gehe wieder an den Schreibtisch,
muss die Seiten 15 und 16 noch einmal
Wort für Wort durchgehen. Lieber wäre ich
jetzt in Stralsund oder Sassnitz, wo ich in
diesen Tagen aus meinem Roman „Wenn
die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an
mich“ hätte lesen sollen, nah an einem der
Orte der Handlung, den Kreidefelsen am
Königstuhl. Der Protagonist des Buches
fragt sich hin und wieder, ob wir schon
oder demnächst in der „prächinesischen
Epoche“ leben. Das Virus hat diese Frage
frivol gemacht. Und für ein paar Wochen
vertagt.
Aber nun ist zu lesen, dass China für Ita-
lien und andere Länder die letzte Hoffnung
beim Kampf gegen das Virus zu werden be-
ginnt. Vorsicht, Abstand halten, es ist zu
viel bittere Ironie in der klaren Frühlings-
luft!

Der Deutsche Sachbuchpreis 2020 wird
nichtvergeben. Das habe, wie es in einer
Pressemitteilung vom Donnerstag heißt,
der Vorstand der Stiftung Buchkultur und
Leseförderung des Börsenvereins des Deut-
schen Buchhandels nach Beratung mit
dem Vorstand des Börsenvereins entschie-
den. Die Vorsteherin der Branchenorgani-
sation Karin Schmidt-Friderichs sagte zur
Begründung: „Mit der Eindämmung des
Coronavirus stehen wir aktuell vor einer ge-
samtgesellschaftlichen Herausforderung
immensen Ausmaßes. Die damit verbunde-
nen Unwägbarkeiten und die sich laufend
verändernde Lage verhindern eine zuver-
lässige Planung, sodass wir eine angemes-
sene Durchführung des Deutschen Sach-
buchpreises in diesem Jahr nicht gewähr-
leisten können.“ Der insgesamt mit 42500
Euro dotierte Preis sollte in diesem Jahr
zum ersten Mal verliehen werden. Die sie-
benköpfige Jury hatte bereits mit der Lek-
türe und der Diskussion über die einge-
reichten Titel begonnen. Nu n soll der Deut-
sche Sachbuchpreis zum ersten Mal im
Jahr 2021 vergeben werden. sz

von jörg magenau

E


ine Romanfigur, die mit 1,63 Meter
ein ausgesprochen kleiner Mann ist,
sollte vielleicht nicht unbedingt Jo-
sef Klein heißen. Würde man der Autorin
den sprechenden Namen ihres Helden
zum Vorwurf machen, würde sie aber wohl
antworten: So ist es halt gewesen. Ulla Len-
ze hat mit „Der Empfänger“ einen histori-
schen Roman geschrieben, dessen Perso-
nal sich googeln lässt. So ist im Internet
sogar ein Foto von diesem Josef Klein zu
finden. Er war eines von 33 verurteilten
Mitgliedern des sogenannten Duquesne-
Spionagerings, der vor und während des
Zweiten Weltkriegs in den USA Informatio-
nen für Hitler-Deutschland sammelte und
Sabotageakte plante.
Josef Klein ist außerdem der Großonkel
von Ulla Lenze. Er emigrierte 1924 in die
USA, nannte sich dort Joe und schlug sich
in New York als Gelegenheitsarbeiter und
Hobbyfunker durch. Er war ein Einzelgän-
ger und Abenteurer ohne besondere ideolo-
gische Prägungen, dessen technische Lei-
denschaft fürs Funken ihn jedoch zu
einem geeigneten Kandidaten für den
deutschen Geheimdienst werden ließ. Ei-
gentlich wollte er zusammen mit seinem
Bruder Carl auswandern, dem Großvater
von Ulla Lenze, doch der erlitt kurz vor der
geplanten Ausreise einen Arbeitsunfall,


bei dem er ein Auge verlor, und erhielt des-
halb keine Einreisegenehmigung. So blieb
Carl als Händler und Lieferant im heimatli-
chen Neuss, heiratete dort eine wie er im-
mer sagt „tüchtige Frau“, mit der er zwei
Kinder hat, und wird zu einem wackeren
Kleinbürger. Zwei Brüder, zwei divergie-
rende Lebensmöglichkeiten. Die Briefe,
die sie sich über all die Entfernung hinweg
schrieben, dienten Ulla Lenze nun neben
den Erinnerungen ihrer Mutter als Quelle
für ihren fünften Roman, der jedoch viel
mehr ist als bloß eine Familiengeschichte.
Der zeitliche Rahmen, in den Ulla Lenze
mehrere Erzählebenen einbaut, reicht von
1924 bis 1953. In der Vergangenheitsform
entwickelt sie die zentrale Spionage-Story,
mit der sie ein nur wenig bekanntes Kapi-
tel der NS-Geschichte beleuchtet. Es sind
ziemlich dubiose, aber auch dilettantische
Gestalten, die Josef Klein 1939 kennen-
lernt, und denen er als Funker dabei hilft,
Daten über den Atlantik nach Europa zu
senden, ohne dass er weiß, was er da eigent-
lich tut. Sie nehmen ihn auch mit zu einer
Kundgebung der „Amerikanischen Patrio-
ten“ im Madison Square Garden, einer fa-
schistischen Gruppierung, die sich unter
der Führerschaft des amerikanischen Na-
zis Fritz Julius Kuhn auf Hitlers Endsieg
und die Weltherrschaft vorbereitete, ohne
zur Kenntnis zu nehmen, dass Hitler die-
sem Kuhn misstraute, weil der sich allzu
hemmungslos als dessen kontinentaler
Stellvertreter gerierte.
Den deutschen Migranten schlug in die-
ser Zeit ein generelles Misstrauen entge-
gen, bis zur Parole „Kauft nicht bei Deut-
schen!“. Alle waren sie verdächtig und in ih-
rer tumben Sauerkrauthaftigkeit auch ein
wenig lächerlich. Das gilt auch für das zö-
gerliche Liebesverhältnis zwischen Josef


und der Amateurfunkerin Lauren, die sich
zunächst im Äther kennenlernen, bald
aber leibhaftig treffen. Lauren ist klar,
dass Josef ihr etwas verschweigt, spätes-
tens, nachdem sie zusammen im Kino den
Propagandafilm „Confessions Of A Nazi
Spy“ gesehen haben. Sein Geheimnis und
ihr Verdacht führen zu einem gegenseiti-
gen Belauern, in dem zwar Leidenschaft,
aber keine wirkliche Liebe entstehen kann.

Ob Lauren, die Josef schließlich dazu
bringt, sich zu stellen, selbst für das FBI ge-
arbeitet hat, bleibt offen. Doch er hat ihr zu
verdanken, dass er schließlich mit sieben
Jahren Haft davonkommt.
Für die Haftzeit interessiert Ulla Lenze
sich kaum. Erst 1949 wendet sie sich wie-
der ihren Figuren zu, als Josef, frisch ent-
lassen und sofort aus den USA ausgewie-
sen, zu seinem Bruder nach Neuss zurück-

kehrt. Obwohl er wahrlich Zeit genug ge-
habt hätte, über seine Rolle als Mitläufer
und Mittäter nachzudenken, inszeniert er
sich dort als einer, dem, wie allen Deut-
schen, Unrecht widerfahren ist, weil es
schon genügt habe, Deutscher zu sein, um
interniert zu werden.
Auch die Bedeutung des Spionagerings
changiert: Mal möchte Josef glauben, es ha-
be sich tatsächlich um Widerständler ge-

gen Hitler gehandelt, weil sie ihr Scheitern
einplanten und dem „Reich“ damit schade-
ten. Mal sieht er sich bloß als nützlichen Idi-
oten, der mit seiner eigentlich harmlosen
Funkerei von den wirklichen Aktionen, Sa-
botageakten und einem Sprengstoffan-
schlag in einer Munitionsfabrik ablenken
sollte. Doch zu solchen Anschlägen war die
Gruppe wohl gar nicht in der Lage gewe-
sen; bei der Explosion in einer Munitionsfa-

brik in New Jersey handelte es sich wohl
eher um einen Unfall.
Rechtfertigung für das, was man getan
hat oder auch nicht, vergiftet das Verhält-
nis der beiden Brüder, das Lenze im Prä-
sens und in eindrücklichen Szenen schil-
dert. Zwischen den beiden befindet sich
Carls Frau, in die Josef sich ein bisschen
verliebt, und der er zu verstehen geben
möchte, dass sie ein besseres Leben ver-
dient hätte, als bloß Hausfrau in der Pro-
vinz zu sein. Er ist der Welterfahrene, Weit-
gereiste und spielt diese Karte ohne zu zö-
gern aus.
Carl wirft Josef weniger dessen fragwür-
diges politisches Engagement vor, als die
Tatsache, das Land verlassen und deshalb
Bombennächte, Zerstörung und Hunger
nicht erlebt und geteilt zu haben. Josef hält
ihm entgegen, dass es nicht ausreicht, Ra-
dio London gehört zu haben, um sich jetzt
als Widerständler zu gerieren. So spiegelt
sich im Verhältnis der Brüder das generelle
Misstrauen zwischen Exilanten und Zuhau-
segebliebenen, wie es die deutsche Nach-
kriegsgesellschaft prägte.
Josef kann mit seiner Geschichte nicht
mehr heimisch werden im fremd geworde-
nen Land seiner Herkunft. Deshalb zieht es
ihn wieder weg. Mithilfe seiner Verbindun-
gen zu alten Nazis gelangt er nach Buenos
Aires und von dort schließlich nach Costa
Rica, der dritten, den Roman als Klammer
umschließenden Handlungsebene. Wenn
er dort am Ende ein Eichhörnchen aus ei-
nem Käfig befreit, dann ist das vielleicht
ein Zeichen dafür, dass auch er endlich sei-
nen Ort und seinen Frieden gefunden ha-
ben mag.

Ulla Lenzes „Der Empfänger“ besticht
durch die Fülle an historischen Details und
durch eine präzise Recherche. Josef Klein
fungiert darin als die leere Mitte, als Mann
ohne Eigenschaften, ohne Meinung und
im Grunde auch ohne Ziel – egal wie weit er
auch herumgekommen ist. Seine Kleinheit
ist programmatisch. Ob Lenze mit dieser
Romanfigur das historische Vorbild getrof-
fen hat, ist schwer zu sagen, spielt aber
auch keine Rolle. Vielleicht ist sie auch ein
wenig den Familienlegenden auf den Leim
gegangen, indem sie den Großonkel als un-
ideologischen, ins Geschehen unwillent-
lich hineingezogenen Mitläufer schildert.
So ganz nimmt man ihm die Unschuld und
die Unwissenheit, in die er sich rettete,
nicht ab. Die auktoriale, immer ganz dicht
an ihrem Helden bleibende Erzählstimme
erlaubt es aber nicht, derlei Selbstfiktiona-
lisierungen, wie sie in vielen deutschen Fa-
milien nach dem Krieg betrieben wurden,
in den Blick zu bekommen. Die Stärke die-
ses beeindruckenden Romans besteht je-
doch gerade darin, dass all diese Fragen an-
klingen, ohne penetrant erörtert zu wer-
den. Lenze legt sich genauso wenig fest wie
ihr Held. Sie erzählt, anstatt zu bewerten
und zu moralisieren. So schafft sie den
Raum, in dem ihre Figuren lebendig wer-
den können und verwandelt dieses Stück
ihrer Familiengeschichte in Literatur.

Ulla Lenze: Der Empfänger. Roman. Verlag Klett-
Cotta, Stuttgart 2020, 302 Seiten, 22 Euro.

Friedrich Christian Delius,
Jahrgang1943, veröffent-
lichte im vergangenen
Jahr den Tagebuch-Ro-
man „Wenn die Chinesen
Rügen kaufen, dann
denkt an mich“.
FOTO: REGINA SCHMEKEN

Der prominente rumänische Dissident,
der 1935 geborene Schriftsteller Paul Go-
ma, ist tot. Er starb in der Nacht zum Mitt-
woch im Alter von 84 Jahren in Paris nach
einer Infektion mit dem Coronavirus, wie
seine Biografin Mariana Sipos der Deut-
schen Presse-Agentur mitteilte. Internatio-
nal bekannt wurde Goma 1977, als er sich
in einem offenen Brief mit der Charta 77 so-
lidarisierte – der regimekritischen Protest-
bewegung in der damaligen Tschechoslo-
wakei. Daraufhin wurde Goma am 1. April
1977 in Bukarest verhaftet. Einen Monat
später kam er nach Aufrufen des internati-
onalen PEN-Clubs frei und siedelte nach
Frankreich über. In Deutschland erschie-
nen Gomas Romane „Ostinato“ (1971) und
„Die Tür“ (1972). Goma bezeichnete die Be-
teiligung Rumäniens am Holocaust als „Lü-
ge“ und verklagte u.a. mehrere Zeitungen
sowie die Bukarester Präsidialkanzlei. Er
warf ihnen Verleumdung vor, weil sie ihn
des Antisemitismus und der Verharmlo-
sung des Holocaust bezichtigt hatten. Die-
sen Prozess verlor er 2013. dpa

Es ist nicht lustig auf der Intensivstation


Das Virus diktiert uns ein Wir. Gedanken beim Blick auf die Türme der Berliner City. Von Friedrich Christian Delius


Er hat nichts gewusst


Während des Zweiten Weltkriegs spionierte Ulla Lenzes Großonkel für die Nazis in den USA.


In ihrem Roman „Der Empfänger“ zeichnet sie ihn als eigenschaftslosen Mitläufer


In den USA misstraute man


deutschen Migranten, sie


waren generell verdächtig


Wir müssen uns nicht militärisch
verbiegen lassen, der Sinn für
Nachbarschaft wächst

Paul Goma


ist gestorben


Sachbuchpreis


wirdnicht vergeben


Der Roman erörtert die
Schuldfrage nicht, sondern
entfaltet sie erzählerisch

DEFGH Nr. 73, Freitag, 27. März 2020 (^) LITERATUR 13
Ihr Großonkel spionierte für die Nazis und gab sich nach dem Krieg unschuldig und unwissend. In ihrem Roman aber moralisiert sie nicht, sondern schafft einen
Raum, indem die Figuren lebendig werden können: die Schriftstellerin Ulla Lenze. FOTO: JULIEN MENAND/OPALE/LEEMAGE/LAIF
In der Ferne die Spitzen der Hochhäuser der City West,
die Geschwistertürme am Bahnhof Zoo, Berlin.
FOTO: FRIEDRICH CHRISTIAN DELIUS

Free download pdf