Süddeutsche Zeitung - 27.03.2020

(ff) #1
von helmut martin-jung

B


ereit für ein kleines Gedankenex-
periment? Angenommen, die Coro-
na-Pandemie hätte die Welt nicht
im Jahr 2020, sondern schon 1990 getrof-
fen. Wie hätte sich das auf die Arbeitswelt
ausgewirkt, auf die Kommunikation?
Das Internet war damals noch etwas für
wenige Technikfreaks und Wissenschaft-
ler. Und heute? Heute steigt zu Beginn
der Büroarbeitszeit der Datenverkehr un-
gewöhnlich stark an. Weil viele wegen
des Virus nicht ins Büro können, schalten
sie sich per Videokonferenz zusammen.
Sogar die Kanzlerin arbeitet über das
Netz von zu Hause aus.
Vor 30 Jahren hätte man sich höchs-
tens Faxe schicken können und natürlich
telefonieren. Aber wie mühsam wäre das
gewesen! Klar gibt es gute Gründe, in Bü-
ros zur Arbeit zusammenzukommen. Der
Jäger und Sammler, der noch immer in
uns steckt, lebte in Horden. Nicht nur die
Meetings, die Konferenzen, auch und vor
allem der kleine Plausch an der Kaffeema-
schine oder in der Kantine, die kurze Un-
terhaltung auf dem Flur – sie sind es, die
dieses archaische Bedürfnis nach Kon-
takt zu anderen Menschen stillen.


In Zeiten der Pandemie aber sind viele
auf sich selbst oder ihren engsten Fami-
lienkreis zurückgeworfen. Was für ein
Segen, dass das Internet und die vielen
Dienste darin es jetzt in einer Situation
wie dieser möglich machen, besser Kon-
takt zu halten, als das früher jemals mög-
lich war. Was für ein Glück, dass nicht
alle, aber doch viele Unternehmen weiter-
arbeiten können, obwohl alle oder nahe-
zu alle ihre Mitarbeiter nicht in einem
Bürogebäude zusammensitzen, sondern
ein jeder und eine jede in seiner oder ih-
rer Wohnung.
Gut also, dass es das Netz gibt, aber es
hätte auch noch besser laufen können.
Viele Unternehmen waren nicht oder
kaum vorbereitet auf eine Situation wie
diese. Wer erst jetzt beginnen muss, Lap-
tops für die Mitarbeiter zu besorgen und
sichere Zugänge ins Firmennetz zu orga-
nisieren, tut sich schwer, weil viele ande-
re gerade in derselben Situation sind.
Oder das Schulwesen: Gelähmt von einer
schwerfälligen Bürokratie, vom Gezerre,
das die Bildungskleinstaaterei mit sich
bringt, hinken die Schulen weit hinter
dem her, was möglich wäre. Es fehlt an
beinahe allem: An der technischen Aus-
stattung, aber auch an didaktischen Kon-
zepten. Jetzt muss improvisiert werden,
und die Hoffnung ist, dass unter dem
Druck der Ereignisse Ideen geboren wer-
den, die über die Virus-Zwangspause hin-
ausreichen.
Woran es natürlich nicht nur in den
Schulen mangelt, ist die Versorgung mit
Breitbandanschlüssen. Mit Zugängen al-
so, die schnell genug sind für die Anforde-
rungen von heute. Das ist schon in man-
chen Vierteln großer Städte ein Problem,
besonders aber auf dem Land. Dabei ver-
band sich mit dem Internet einmal die
Hoffnung, es könne dabei helfen, den Ge-
gensatz zwischen Stadt und Land aufzulö-
sen. Weil man eben nicht mehr (immer)
in der Stadt sein muss, um zu arbeiten.
Es hapert aber nicht nur bei der Tech-
nik. Wenn es jetzt in manchen Organisa-
tionen nicht recht klappt mit dem Um-
stieg aufs verteilte Arbeiten, dann liegt
das auch daran, dass es keine gelernten
Strukturen gibt, wer wie mit welchen
Hilfsmitteln kommuniziert. Dabei sind
die nicht bloß für eine globale Krise wie
die jetzige wichtig, sondern auch, um den
Mitarbeitern Flexibilität zu bieten. Nicht
jeder arbeitet gerne zu Hause, viele aber
zumindest zeitweise schon, nur haben
sich manche Unternehmen dagegen ge-
sträubt. Dass vielerorts Ämter und Behör-
den für den Publikumsverkehr geschlos-
sen sind, wäre weniger schlimm, wenn es
bessere Möglichkeiten gäbe, die dort er-
brachten Dienstleistungen übers Netz in
Anspruch zu nehmen.
Gut also, dass wir wenigstens das ha-
ben, was schon läuft, und das ist ja nicht
wenig. Gut übrigens auch, dass die letz-
tens viel gescholtenen großen US-Inter-
netkonzerne sich bemühen, verlässliche
Informationen zur Pandemie immer
ganz oben einzublenden, wenn Nutzer da-
nach suchen. Auch die Wissenschaftler,
die jetzt nach Medikamenten und einer
Impfung gegen Covid-19 suchen, profitie-
ren von der Vernetzung.
Gut, dass nicht mehr 1990 ist.


München – Wer als Verbraucher sein
Recht einklagt, braucht viel Geduld. An-
dreas Poß weiß das. Vier Jahre schon strei-
tet der 42-Jährige Diplomingenieur mit
seiner Sparkasse um den Widerruf seines
Immobilienvertrags. Dieser enthält nach
Ansicht von Poß und dessen Anwalt rechts-
widrige Klauseln. Die Sparkasse ist ande-
rer Meinung. Der Fall ging vor das Land-
gericht Saarbrücken. Das verwies ihn an
den Europäischen Gerichtshof (EuGH) –
und dort bekam der Diplomingenieur aus
dem saarländischen Eppelborn jetzt recht.
Der EuGH erklärte die sogenannte Wider-
rufsinformation in dem Vertrag für unver-
einbar mit europäischem Recht.

Das Urteil dürfte „Signalwirkung“ ha-
ben, meint Poß’ Anwalt Thomas Röske von
der Berliner Kanzlei Gansel Rechtsanwäl-
te: „Die Klausel findet sich in nahezu allen
Verbraucherkreditverträgen, die seit Juni
2010 abgeschlossen wurden“ – und das
dürften einige Millionen sein. Verbraucher

könnten diese Verträge nun im Prinzip wi-
derrufen „und so Tausende Euro sparen“.
Mit diesem sogenannten „Widerrufsjoker“
sei etwa bei Autokredit- und Leasingverträ-
gen die Rückgabe des Fahrzeugs gegen
Erstattung aller bereits gezahlten Raten
möglich, meint der Anwalt. Interessant
könnte das bei Fahrzeugen sein, die vom
Dieselskandal betroffen sind. Bei Immobi-
liendarlehen könnten Betroffene unter Um-
ständen das Darlehen auf einen Vertrag
mit günstigeren Zinsen umschulden oder
ihn vorzeitig ablösen – ohne eine Vorfällig-
keitsentschädigung, also ohne die Straf-
gebühr, die Banken dann meist verlangen.
Die Klausel, um die es geht, findet sich
in der Widerrufsinformation der Verträge.
Dort wird für den Beginn der Widerrufs-
frist auf „§ 492 Absatz 2“ des Bürgerlichen
Gesetzbuches verwiesen. Der verweist sei-
nerseits wieder auf etliche andere Paragra-
fen. Juristen nennen das einen „Kaskaden-
verweis“. Im vorliegenden Fall umfasse die
Verweiskette „sieben bis acht Seiten Geset-
zestext“, sagt Anwalt Röske: „Da müssen
Sie Jurist sein, um das zu verstehen.“
Die europäischen Richter sahen es ge-
nauso: Wegen des Kaskadenverweises kön-
ne ein Verbraucher „weder den Umfang sei-

ner vertraglichen Verpflichtung bestim-
men, noch überprüfen, ob der von ihm ab-
geschlossene Vertrag alle erforderlichen
Angaben enthält“. Dies widerspreche der
europäischen Richtlinie für Verbraucher-
kreditverträge. Sie verlange, Verbraucher
„in klarer und prägnanter Form“ über die
Vertragsmodalitäten zu informieren.
Das Urteil habe eine „enorme Tragwei-
te“, heißt es bei Gansel Rechtsanwälte. So
seien potenziell fast 20 Millionen Auto-
kredit- und Leasing-Verträge mit einem
Volumen von 340 Milliarden Euro betrof-
fen. Bei den Baukrediten für private Haus-
halte gehe es um eine Darlehenssumme
von insgesamt 1,2 Billionen Euro.
Während sich jedoch bei Autokrediten
die vom EuGH beanstandete Klausel noch
heute in den Kreditverträgen findet, ist es
bei Immobiliendarlehen komplizierter.
Dort seien nur Verträge betroffen, die zwi-
schen Juni 2010 und März 2016 abgeschlos-
sen wurden. „Danach wurde in den Kredit-
verträgen eine andere Formulierung ver-
wendet“, sagt Rechtsanwalt Röske.
Gerade bei solchen älteren Baukredit-
Verträgen jedoch kann ein Widerruf mit an-
schließender Umschuldung lukrativ sein.
Andreas Poß etwa schloss den Darlehens-

vertrag für den Bau seines Einfamilienhau-
ses zu einem Kreditzins von 3,6 Prozent ab.
Heute kosten solche zehnjährigen Baukre-
dite im Schnitt weniger als 0,8 Prozent. Je
nach Kreditsumme macht das über die
Laufzeit eine Ersparnis von mehreren Tau-
send Euro an Zinsen aus.

Allerdings gibt es beim Widerruf der
Immobilienkredite einen Haken. Der Bun-
desgerichtshof (BGH) hatte 2016 die jetzt
vom EuGH beanstandete Formulierung
für rechtens erklärt. Ob er diese Ansicht we-
gen des EuGH-Urteils revidieren wird, sei
offen, meint Anwalt Röske: „Es kann daher
sein, dass sich die Banken weiterhin auf
die Entscheidung des BGH berufen und es
auf eine Klage ankommen lassen.“
Tatsächlich verweist die deutsche Kre-
ditwirtschaft darauf, dass der BGH „die
Rechtmäßigkeit der Widerrufsbelehrung“
bereits bestätigt habe. Diese, so heißt es
auf Anfrage, sei den Banken im Übrigen
per Gesetz als Muster verbindlich vorgege-

ben worden: „Die Kreditinstitute mussten
diese so verwenden“. Für die nun entstan-
dene Situation eine Lösung zu finden, sei
daher auch „Aufgabe des deutschen Ge-
setzgebers“. Der Staat soll den Instituten
nun also aus der Patsche helfen.
Anwalt Röske jedenfalls rät Betroffenen
zum Widerruf. Durch das EuGH-Urteil sei-
en die Chancen auf eine außergerichtliche
Einigung deutlich gestiegen. Auch bei der
Interessengemeinschaft Widerruf, die Ver-
braucher bei der Auseinandersetzung mit
den Banken unterstützt, heißt es: „Viele
große Immobilienfinanzierer könnten ihre
Blockadehaltung aufgeben und Kompro-
missangebote machen.“ Vor einem Wider-
ruf sollte man den eigenen Vertrag jedoch
von einem Fachmann prüfen lassen. Das
kann ein spezialisierter Anwalt sein. Auch
die Verbraucherzentrale Hamburg bietet
die Prüfung von Baukreditverträgen an.
Andreas Poß hofft nun, dass die Spar-
kasse im Streit um seinen Vertrag einlenkt.
Sollte das nicht passieren, sei er bereit, die
juristische Auseinandersetzung vor deut-
schen Gerichten weiterzuführen, sagt er:
„Schließlich geht es dabei auch um eine
Frage, die sehr viele Verbraucher betrifft.“
andreas jalsovec

von nikolaus piper

S


oll niemand sagen, es habe keine
Warnungen gegeben. Sechs Jahre ist
es her, da veröffentlichten Ian
Goldin, Professor in Oxford, und Mike Ma-
riathasan, heute Juniorprofessor in Leu-
ven, ein Buch unter dem Titel „The Butter-
fly Defect“ („Der Schmetterlings-Defekt“).
Das ist ein Wortspiel mit dem Begriff
„Schmetterlingseffekt“. Den verwenden
Wissenschaftler, wenn sie beschreiben
wollen, dass in komplexen Systemen klei-
ne Ursachen völlig unvorhersehbare Fol-
gen haben können: Der Flügelschlag eines
Schmetterlings in Brasilien kann einen
Tornado in Texas auslösen. Und das ist
nicht nur abstrakte Theorie. Die globali-
sierte Wirtschaft von heute, so schrieben
Goldin und Mariathasan, ist so ein kom-
plexes System geworden, in dem nicht vor-
hersagbare Dinge passieren, zum Beispiel
Finanzkrisen und eben Pandemien.

Darauf muss die Welt sich einstellen.
Heute sind Goldin und Mariathasan ge-
fragte Leute. Als Experten, die schon 2014
einen Zusammenhang zwischen der Aus-
breitung von Viren und der Globalisierung
gesehen haben. „Die Globalisierung hat im-
mens viel Gutes bewirkt“, sagt Goldin.
„Aber sie birgt systemische Risiken, mit de-
nen wir bisher nicht umgehen können.“
Ein Beispiel dafür war die Finanzkrise von
2008/2009, ein zweites ist jetzt die Corona-
Epidemie.
Bedeutet Corona das Ende der Globali-
sierung, wie wir sie kennen? Manche glau-
ben das. Man müsse sich fragen, „ob wir
die Globalisierung ein Stück überdreht ha-
ben“, sagte etwa die SPD-Vorsitzende Sas-
kia Esken demHandelsblatt. Und man müs-
se analysieren, „bei welchen strategisch
wichtigen Gütern und Dienstleistungen
wir so abhängig von internationalen Liefer-
beziehungen sind, dass es sich in Notsitua-
tionen schädlich für uns auswirkt.“ Die So-
zialdemokratin ist nicht allein mit Ihrer Po-
sition. In der Krise glauben viele, dass ein

wenigstens teilweiser Rückzug aus der Glo-
balisierung die Lösung ist. „Es ist absolut
möglich, dass Covid-19 das Schwinden der
Globalisierung auslöst,“ schreibt der Histo-
riker Harold James von der Universität
Princeton.
Das entspräche dem Geist der Zeit. Oh-
nehin führt die Krise dazu, dass sich die
ökonomischen Verflechtungen zwischen
den Staaten lockern. Die Exporterwartun-
gen der deutschen Unternehmen sind im
vorigen Monat so stark zurückgegangen
wie noch nie seit der Wiedervereinigung,
berichtete das Münchner Ifo-Institut am
Donnerstag. Die Welthandelsorganisation
WTO erwartet einen dramatischen Rück-
gang des weltweiten Austauschs von Wa-
ren und Dienstleistungen. Grenzen sind
plötzlich wieder geschlossen, auch inner-
halb der Europäischen Union. Die Schutz-
maßnahmen an Deutschlands Grenzen
führen dazu, dass Helfer für die Spargelern-
te aus Polen und anderen osteuropäischen
Ländern nicht mehr einreisen können. Zeit-
weise verbot die Bundesregierung den Ver-
kauf von Schutzmasken ins Ausland, um
die Versorgung zu sichern.
Tausende Menschen, Linke wie Rechte,
Sozialisten wie Nationalisten haben in den
vergangenen Jahren immer wieder gegen
die Globalisierung demonstriert. Mit Attac
gibt es sogar eine Organisation, die zum
Zwecke der Globalisierungskritik gegrün-
det wurde. Im Weißen Haus in Washington
sitzt mit dem Präsidentenberater Peter Na-
varro ein bekennender Globalisierungsgeg-
ner. Ökonomen mögen noch so viel darauf
hinweisen, dass die internationale Arbeits-
teilung in den vergangenen Jahrzehnten ei-
ne Quelle des Wohlstands auf der ganzen
Welt war. Jetzt besteht wirklich die Gefahr
eines großen Rückschlags. Dies sei „die ers-

te Weltkrise, der nach den Maßgaben einer
nationalistischen Weltordnung begegnet
wird“, meint Thomas Kleine Brockhoff, Lei-
ter des Berliner Büros des German Mar-
shall Funds. Verantwortlich dafür sind, so
Kleine-Brockhoff, Männer wie der ameri-
kanische Präsident Donald Trump, Chinas
Staats- und Parteichef Xi Jinping oder
auch Russlands Machthaber Wladimir Pu-
tin.
Das neue Element bei Corona zeigt sich
klar im Vergleich zur Finanzkrise. Auch sie
begann, wie die Corona-Krise, mit einem
scheinbar lokalen Ereignis. Im einen Fall
war es eine Infektion in einer chinesischen
Provinz, im anderen waren es faule Haus-
kredite in den USA. Als im Herbst 2008 die
Investmentbank Lehman Brothers zusam-
menbrach und die Dimension der Finanz-
krise klar war, berief der damalige ameri-
kanische Präsident George W. Bush für
den 14. und 15. November einen Weltfi-
nanzgipfel der G20-Staaten nach Washing-
ton ein. Dessen Beschlüsse beruhigten die
Lage und trugen dazu sei, dass die westli-
che Welt nach Ende der Finanzkrise eine
der längsten Aufschwungphasen seit dem
Zweiten Weltkrieg erlebte.

Der jetzige Dienstherr im Weißen Haus
dagegen beschimpft Chinesen und Europä-
er als Schuldige an der Krise. Chinas Füh-
rung ihrerseits nährt Verschwörungstheo-
rien, nach denen amerikanische Agenten
den Virus nach China gebracht haben, um
der aufstrebenden Weltmacht zu schaden.
Das nationale Denken geht manchmal bis

ins Groteske. Nach unbestätigten Gerüch-
ten wollte Trump die junge Tübinger Fir-
ma Curevac erwerben, die an einem Impf-
stoff gegen das Coronavirus arbeitet. Sie
hätte exklusiv für den amerikanischen
Markt liefern sollen. Haupteigner Dietmar
Hopp legte sein Veto ein, andernfalls hätte
das wohl die Bundesregierung tun müs-
sen. Die globalen Institutionen, die für die
Krise eigentlich zuständig wären, die Welt-
gesundheitsorganisation WHO und die
WTO, sind geschwächt und können kaum
ihre Aufgaben wahrnehmen.
Kein Zweifel: Bis die Pandemie einmal
eingedämmt sein wird, müssen viele Men-
schen gezwungenermaßen viel lernen.
Zum Beispiel was die Versorgungssicher-
heit mit Medikamenten betrifft. Die errei-
che man aber nicht, indem man möglichst
alles in Deutschland produziert, sagt Gabri-
el Felbermayr, Präsident des Instituts für
Weltwirtschaft in Kiel. Der Gesundheits-
sektor brauche „Anreize, um nicht nur auf
die Kosten, sondern auch auf die sichere
Versorgung zu achten“. Das würde Mehr-
ausgaben in Krankenhäusern und Apothe-
ken bedeuten – und im Ergebnis auch hö-
here Versicherungsbeiträge für die Patien-
ten oder Mehrausgaben für den Staat. Ent-
scheidungen wie das Exportverbot für
Atemschutzmasken dürfe es nicht mehr ge-
ben. „Wir brauchen eine europäische Stra-
tegie“, glaubt Felbermayr.
Gerade der Arzneimittelsektor zeigt,
wie sehr sich Deutschland bei einem Aus-
stieg aus der Globalisierung schaden wür-
de. Die Bundesrepublik exportiert viel
mehr patentgeschützte Medikamente als
sie ausführt. Einen Importüberschuss gibt
es bei Nachahmerprodukten („Generika“).
Die Globalisierung werde sich immer wei-
ter ausdifferenzieren, sagt Han Steutel,

Präsident des Verbandes forschender Arz-
neimittelhersteller (VfA). Das werde auch
nach Corona passieren. Aber zurückdre-
hen lasse sie sich nicht. „Gerade in der Co-
rona-Pandemie zeigt sich ein internationa-
les Zusammenwirken bei Forschung, Fi-
nanzierung und Produktion von Arzneimit-
teln, wie wir es bisher nicht gesehen ha-
ben.“
Eine andere Frage ist, ob die fein abge-
stimmten internationalen Wertschöp-
fungsketten, etwa in der Autoindustrie
oder im Maschinenbau, so bleiben kön-
nen, wie sie sich im Zuge der Globalisie-
rung entwickelt haben. „Die Wertschöp-
fungsketten werden neu justiert werden“,

sagt Ralph Wichers, Chefvolkswirt des Ver-
bandes Deutscher Maschinen- und Anlage-
bau (VDMA). „In den Betrieben findet im-
mer eine Gratwanderung statt zwischen
dem Fertigungsleiter, der alles selbst ma-
chen will und dem Controller, der die Kos-
ten senken möchte.“ In der DNA der deut-
schen Maschinenbauer liege es, immer wie-
der Neues zu probieren.
Das bedeutet aber nicht, dass die Pro-
duktion so einfach nach Deutschland zu-
rückgeholt werden kann, selbst wenn man
das möchte. Viele Produkte deutscher Ma-
schinenbauer sind so spezialisiert, dass es
für sie nur einen Weltmarkt oder aber gar
keinen Markt gibt. Zudem verlangen viele
Länder, in die deutsche Unternehmen ex-
portieren, dass diese bei ihnen auch produ-
zieren. Für die deutsche Wirtschaft ist da-
her eine Abkehr von der Globalisierung
überhaupt keine Option.
Gegenwärtig „fahren die Unternehmen
auf Sicht“, sie versuchen also von Tag zu
Tag über die Runden zu kommen, sagt Jörg
Wuttke, Präsident der Deutschen Handels-
kammer in Peking. Niemand weiß, wie es
weiter geht und die Erholung in China wird
viel Zeit brauchen. Aber es bleibt nichts an-
deres übrig, als global zu denken. „Was ma-
chen Sie, wenn das Virus in Nigeria wütet
und die Menschenmassen sich auf den
Weg nach Europa machen?“

Los, los, kontaktlos


In vielen Supermärkten sollen die


Kunden jetzt mit Karte zahlen.


Nur wegen der Hygiene? 19


Reden wirüber Geld


Eine Altenpflegerin erzählt


über falsche Anreize


und schlechte Bezahlung 20


Aktien, Devisen und Rohstoffe 26,


www.sz.de/wirtschaft


DEFGH Nr. 73, Freitag, 27. März 2020 HF2 17


Millionen-Joker


Ein wegweisendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs stärkt die Rechte von Verbrauchern bei Kreditverträgen


INTERNET

Das Netz, das


zusammenhält


Der Schmetterlingseffekt


Das Coronavirus verbreitete sich auch deshalb so schnell,
weil die Welt wirtschaftlich so eng verflochten ist. Manche fordern jetzt
die Abkehr von der Globalisierung. Das wäre ein fataler Fehler

„Viele große
Immobilienfinanzierer könnten
ihre Blockadehaltung aufgeben.“

Verschwörungstheorien und
Beschimpfungen: Das nationale
Denken geht bis ins Groteske

Die vom Gericht beanstandete
Klausel findet sich in nahezu
allen dieser Verträge

Die globalen Institutionen,
die in einer solchen Krise gefragt
wären, sind geschwächt

HEUTE


WIRTSCHAFT


Das Virusbeherrscht die Welt: In der chinesischen Stadt Fujian werden die Bilder von Helfern in der Corona-Krise auf die Hochhäuser projiziert. FOTO: AFP

Vor 30 Jahren gab es


Faxgeräte, aber


keine Videokonferenzen


Die Produktion nach
Deutschland zurückholen?
So einfach ist das nicht
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