Süddeutsche Zeitung - 27.03.2020

(ff) #1

Frankfurt– Lufthansaund Eurowings füh-
ren neue Verfahren ein, um die Anste-
ckungsgefahr mit dem Coronavirus für die
Passagiere zu verringern. In der Economy
und der Premium Economy Class soll künf-
tig der Nebensitz frei bleiben, um genü-
gend Abstand zu den Mitreisenden zu ge-
währleisten. Die Regelung gilt ab Freitag.
Lufthansa war zuletzt in die Kritik geraten,
weil sie bislang auf den noch verbliebenen
Flügen weiterhin alle Sitze verkauft hatte
und es damit für die Passagiere unmöglich
war, wie im öffentlichen Raum zur Zeit vor-
geschrieben engen Kontakt mit anderen
zu vermeiden.
Zusätzlich sollen Flugzeuge, die inner-
deutsch eingesetzt werden, künftig nur
noch an Gebäudepositionen abgestellt wer-
den. Damit sollen Busfahrten vermieden
werden, in denen Passagiere eng nebenein-
anderstehen müssten. Laut Lufthansa wur-
den allerdings schon bislang doppelt so vie-
le Busse wie üblich pro Flug eingesetzt, um
für genügend Platz zu sorgen.
Die Fluggesellschaft betreibt derzeit
noch ein Rumpf-Streckennetz. Laut der
Flugsicherungsbehörde Eurocontrol führ-
te sie am Mittwoch 92,6 Prozent weniger
Flüge durch als vor einem Jahr. Die meis-
ten davon finden innerhalb Deutschlands
und Europas statt, zu ausgewählten Lang-
streckenzielen gibt es dreimal wöchentli-
che Verbindungen.
Die neuen Regeln gelten für alle Inlands-
flüge und für Verbindungen aus Deutsch-
land heraus, aber nicht für Flüge nach
Deutschland. Denn bei diesen sei es weiter-
hin von „höchster Priorität“, möglichst vie-
le Menschen zurückzuholen, die im Aus-
land gestrandet sind und wegen der weni-
gen verbliebenen Optionen oft lange auf
den Rücktransport warten müssen. jfl


Berlin– Die Deutsche Bahn hat im vergan-
genen Jahr so viele Fahrgäste in ihren Fern-
zügen transportiert wie noch nie. Der größ-
te deutsche Staatskonzern zählte 150,7 Mil-
lionen Kundenfahrten – zwei Prozent
mehr als im Vorjahr. Das geht aus dem am
Donnerstag veröffentlichten Geschäftsbe-
richt hervor. Deshalb legte auch der Kon-
zernumsatz um ein Prozent auf mehr als
44 Milliarden Euro zu. Wegen hoher Inves-
titionen und Problemen bei Krisensparten
wie der verlustreichen Gütersparte DB Car-
go sank der Gewinn massiv. Das Ergebnis
vor Zinsen und Steuern (Ebit) lag mit 1,
Milliarden Euro rund 13 Prozent unter
dem Vorjahreswert.
Die Bahn will auch in den nächsten Jah-
ren auf Gewinn verzichten und mehr in
den Ausbau des eigenen Angebots ste-
cken. Es gehe darum, die Leistungsfähig-
keit der Eisenbahn in Deutschland sub-
stanziell zu steigern, erklärte Bahnchef Ri-
chard Lutz. Die Folgen der Corona-Krise
und der damit verbundene Einbruch der
Passagierzahlen in den vergangenen Wo-
chen fand in die Bilanz noch keinen Ein-
gang. Die negativen wirtschaftlichen Aus-
wirkungen der Krise seien für die Bahn
noch nicht bezifferbar, sagte Finanzvor-
stand Levin Holle mit Blick auf das laufen-
de Jahr. Im Geschäftsbericht ist von erheb-
lichen negativen Auswirkungen die Rede.
Der Umsatz werde voraussichtlich sinken.
Wegen stark gesunkener Fahrgastzah-
len hatte der Konzern sein Angebot in den
vergangenen Tagen auf gut drei Viertel
der Kapazitäten heruntergefahren. Trotz
sehr hoher Investitionen und zusätzlichen
Belastungen durch die Corona-Pandemie
sei es die Aufgabe, weiterhin die finanziel-
le Stabilität der Bahn sicherzustellen, sag-
te Holle. mbal

München– Das hat es in dieser Form in
den Vereinigten Staaten noch nie gegeben:
Die Zahl der Erstanträge auf Arbeitslosen-
hilfe hat sich binnen einer Woche fast ver-
zwölffacht – von 282 000 auf zuletzt 3,
Millionen. Dies teilte das US-Arbeitsminis-
terium am Donnerstag mit. Der bisherige
Rekord wurde 1982 mit 695 000 Erstanträ-
gen registriert.
Die Erstanträge gelten als wichtiger In-
dikator für die wirtschaftliche Lage, da sie
nur mit einer Woche Verzögerung veröf-
fentlicht werden. Von der Nachrichten-
agentur Reuters befragte Analysten hatten
lediglich mit rund einer Million Erstanträ-
gen gerechnet, andere Experten wiederum
hatten eine noch deutlich höhere Zahl er-
wartet. Womöglich liegen letztere auch gar
nicht so verkehrt: Viele Bundesstaaten wa-
ren zuletzt mit der Flut der Erstanträge
überfordert. Der Gouverneur von New
York etwa, Andrew Cuomo, hatte am Wo-
chenende eingeräumt, dass die Webseite
für die Anträge unter der Vielzahl der Besu-
cher immer wieder zusammengebrochen
sei. Ein solches Volumen an Anträgen habe
der Staat bislang noch nicht erlebt. In der
Vorwoche – zu Beginn der Coronavirus-
Epidemie in den USA – waren die Erstanträ-
ge um 70000 auf 281 000 gestiegen.


Die rasante Ausbreitung des Coronavi-
rus Sars-CoV-2 hat das öffentliche Leben
in weiten Teilen der USA zum Erliegen ge-
bracht. Fast die Hälfte der rund 330 Millio-
nen Amerikaner unterliegen nun von Bun-
desstaaten verhängten Ausgangsbeschrän-
kungen. Viele Geschäfte sind geschlossen,
Restaurants und Hotels bleiben leer und
Fließbänder stehen still. Viele Menschen
müssen Arbeitslosenhilfe beantragen, da
Entlassungen in den USA viel schneller voll-
zogen werden können als etwa in Deutsch-
land. Es gibt auch bislang keine Regelun-
gen wie etwa das deutsche Kurzarbeiter-
geld, die den Arbeitsmarkt in Krisensituati-
onen stabilisieren können.
Im Rahmen des Konjunkturpakets, mit
dem der US-Kongress rund zwei Billionen
Dollar in die Wirtschaft pumpen wird, dürf-
te die bislang sehr begrenzte Arbeitslosen-
hilfe ausgeweitet werden. Zudem soll es Ar-
beitgebern möglich sein, Angestellte für
bis zu vier Monate zu beurlauben anstatt
sie zu entlassen. In dieser Zeit würde der
Staat für das Gehalt aufkommen. Das ge-
samte Ausmaß der wirtschaftlichen Ver-
werfungen der Coronavirus-Pandemie in
den Vereinigten Staaten ist freilich immer
noch nicht absehbar. Viele Analysten be-
fürchten inzwischen einen dramatischen
Einbruch im zweiten Quartal und eine Re-
zession aufs ganze Jahr betrachtet.
Wie anders sah es noch im Februar aus.
Die Arbeitslosenquote lag da bei 3,5 Pro-
zent. Es war das tiefste Niveau seit den
Sechzigerjahren. Erstaunliche 113 Monate
in Folge hatten US-Unternehmen ihre Job-
angebote kontinuierlich ausgeweitet. Die
Zahl der Beschäftigen wuchs in dieser Zeit
um 22 Millionen. Einen derart anhalten-
den Aufschwung am Arbeitsmarkt hatte es
in den Vereinigten Staaten nie zuvor gege-
ben. Nach Angaben desWall Street Jour-
nalslagen die vergleichbaren bisherigen
Rekordwerte bei knapp 50 Monaten in Fol-
ge. Die Arbeitsmarktdaten für März kom-
men am Freitag. Sie werden ernüchternd
ausfallen.
US-Präsident Donald Trump verspricht
aber tapfer, die Wirtschaft werde nach
dem Ende der Epidemie durchstarten „wie
eine Rakete“. hans von der hagen


Brüssel– Da ist etwa Curevac: Berichte
über ein angebliches Übernahmeangebot
aus den USA für die Tübinger Biotechfirma
führten zu einiger Aufregung. Die Bundes-
regierung stellte klar, dass sie einen Ver-
kauf des Unternehmens, das an einem Co-
rona-Impfstoff arbeitet, verhindern wer-
de. Das ist ganz im Sinne der EU-Kommissi-
on. Die Brüsseler Behörde, normalerweise
eine Vorkämpferin für freie Märkte, for-
dert die Mitgliedstaaten auf, Übernahme-
Offerten für europäische Konzerne durch
Rivalen von anderen Kontinenten genau
zu prüfen. „Insbesondere in Bereichen wie
Gesundheit, medizinische Forschung, Bio-
technologie und Infrastrukturen“ müss-
ten „kritische Vermögenswerte“ geschützt
werden, „die für unsere Sicherheit und öf-
fentliche Ordnung von wesentlicher Bedeu-
tung sind“, mahnt die Kommission.
Die Befürchtung: Weil die Aktienkurse
abgestürzt sind und die Corona-Krise viele

Unternehmen in Schwierigkeiten bringt,
könnten Konzerne aus den USA oder China
versuchen, europäische Rivalen für
Schnäppchenpreise zu erwerben – vor al-
lem in Branchen, die bedeutend für die Be-
wältigung der Pandemie sind. Kommissi-
onspräsidentin Ursula von der Leyen sagt,
solle Europa nach der Krise so stark sein
wie zuvor, „müssen wir jetzt vorbeugende
Maßnahmen treffen“. Es gehe darum, „un-
sere Sicherheit und unsere wirtschaftliche
Souveränität“ zu schützen. „Ich appelliere
dringend an die Mitgliedstaaten“, die nöti-
gen Instrumente „in vollem Umfang einzu-
setzen“, sagt die frühere Bundesverteidi-
gungsministerin.
Allerdings existieren nur in 14 der 27
Mitgliedstaaten umfassende staatliche
Prüfsysteme für Übernahmen strategisch
wichtiger Unternehmen, unter anderem in
Deutschland. Deshalb fordert die Kommis-
sion die anderen Staaten auf, ähnliche Re-

gelungen zu etablieren. Eine im vergange-
nen Jahr erlassene EU-Verordnung erlaubt
Regierungen, Übernahmen zu verbieten
oder Auflagen zu verhängen, wenn die Fusi-
onen die nationale Sicherheit bedrohen
könnten. Die Kommission und andere Mit-
gliedstaaten schicken der betroffenen Re-
gierung gegebenenfalls Stellungnahmen,
wie sich das Geschäft bei ihnen auswirken
würde und was ihre Empfehlung wäre.
Deutschland gehört zu den Staaten, die
ihren Firmen in der Corona-Krise reichlich
Schutz vor Übernahmen anbieten. Sogar
zeitweise Teilverstaatlichungen sind vorge-
sehen. Bundeswirtschaftsminister Peter
Altmaier (CDU) warnte Anfang der Woche
potenzielle Käufer: „Das sage ich allen, die
in Hedgefonds und anderswo sich bereits
darauf freuen, das ein oder andere günstig
zu erwerben: Wir sind entschlossen, unse-
ren Unternehmen in dieser Situation zur
Seite zu stehen.“

Kommissions-Präsidentin von der Ley-
en betont, trotz ihres Appells bleibe Euro-
pa „ein offener Markt für ausländische Di-
rektinvestitionen“. Doch klar ist auch, dass
die Pandemie allgemein zu mehr Protektio-
nismus geführt hat. So verhängten Regie-
rungen wie die deutsche – und später die
Kommission – Exportbeschränkungen für
medizinische Ausrüstung.
Was Übernahmen angeht, dachte die Be-
hörde ohnehin über Verschärfungen nach,
schon vor der Corona-Krise: Die Kommissi-
on will Vorschriften entwickeln, um heimi-
sche Konzerne besser vor unfairer Konkur-
renz durch subventionierte Rivalen von an-
deren Kontinenten zu schützen, etwa
durch chinesische Unternehmen. Es soll
zum Beispiel verhindert werden, dass Chi-
nesen europäische Firmen kaufen und da-
bei dank üppiger Beihilfen aus der Heimat
Preise zahlen, mit denen kein Bieter in Eu-
ropa mithalten kann. björn finke

München– DerKetzer meldet sich aus
Kyoto. „Japan kommt mir vor wie ein guter
Ort, um den Sturm zu überstehen“, sagt Ma-
ciej Cegłowski via Skype über die Corona-
Pandemie, und über die Reaktionen auf sei-
ne Idee. Der polnisch-US-amerikanische
Unternehmer und Webdesigner beobach-
tet aus der Ferne, was sein Frevel angerich-
tet hat. „Manche nennen mich naiv, und
der Rest nennt mich einen Faschisten“,
sagt er und wirkt dabei ebenso tiefenent-
spannt wie gut gelaunt. Mit seinem Essay
unter der Überschrift „Wir brauchen ein
massives Überwachungsprogramm“ hat
er eine schwelende Debatte weiter befeu-
ert: Was, wenn Staat und Digitalindustrie
ihre Überwachungssysteme verschmel-
zen, um das Virus zu besiegen? „Ja, ein un-
freiwilliges, aufdringliches schreckliches
Überwachungsprogramm der Regierung“,
bekräftigt Cegłowski mit der ihm eigenen
Ironie. 2009 hat er Pinboard gegründet, ei-
nen ebenso simplen wie beliebten Lesezei-
chen-Dienst. Wer im Netz Interessantes
findet, kann es mit Pinboard leicht archi-
vieren und mit anderen teilen. Der Dienst
finanziert sich über ein Abo-Modell.
Im Kampf gegen das Coronavirus, fin-
det der 44-Jährige, sollten die Menschen
zeitweise ihre Grundrechte aufgeben: „Die
Fähigkeit, die Bewegungen von Menschen
sehr genau nachzuverfolgen, hatten wir
noch nie während einer Epidemie.“ Das
Smartphone als Peilsender, das den Aufent-
haltsort seines Besitzers zu jeder Zeit
kennt – für Kritiker ein Schreckensszena-
rio, für Cegłowski eine Chance: „Diese
Spur würde dann mit einer Gesundheitsbe-
hörde geteilt, die auch weitreichende Tests
an der Bevölkerung vornimmt.“ Die Behör-
den könnten anhand der Daten prüfen, mit

wem sich die Wege eindeutig Infizierter in
den vergangenen Tagen überschnitten ha-
ben und diese Menschen per SMS über
Maßnahmen wie Test oder Quarantäne in-
formieren.
„Ich sage das mit zusammengepressten
Zähnen, weil ich Überwachung nicht mag
und dieser US-Regierung überhaupt nicht
vertraue“, sagt der erklärte Trump-Gegner
Cegłowski. Dass seine Ideen die internatio-
nale Gemeinde digitaler Datenschützer er-
schrecken, liegt auch daran, dass er eigent-
lich immer ihr Alliierter war. Er ist einer
der Freigeister der Tech-Branche – und

zwar schon lange, bevor jeder Zweite, der
bei Facebook mal einen neuen Klick-But-
ton entworfen hatte, sich öffentlich gegen
seinen ehemaligen Arbeitgeber stellte.
Cegłowski sagt: „Mein Ein-Mann-Unter-
nehmen gibt mir die Freiheit, die großen
Tech-Unternehmen zu kritisieren, ohne
mir Sorgen um meinen Lebensunterhalt
machen zu müssen.“ Die exponentielle Zu-
nahme der Infektionen zwinge ihn nun, sei-
ne bisherigen Überzeugungen auf den
Prüfstand zu stellen.
Autoren wie der Historiker Yuval Noah

Harari warnen, dass Regierungen die Krise
nutzen, um umfassende Überwachungs-
systeme zu installieren: „Unausgereifte,
gar gefährliche Technologien werden uns
aufgedrückt, weil die Risiken des Nichts-
tuns noch größer sind. Ganze Länder die-
nen als Versuchskaninchen in groß ange-
legten Sozialexperimenten“, schrieb er in
derFinancial Times. Harari nennt seine
Heimat Israel als abschreckendes Beispiel.
Dort nutzt der Staat Hochtechnologie und
Geheimdienstmethoden, um die Quarantä-
ne der Bürger zu überwachen. Cegłowski
dagegen sieht Israel, aber auch Taiwans
Einsatz von Big-Data- und Handy-Track-
ing, um Infizierte zu erfassen, als Vorbilder


  • wenn man denn auch die Konzerne mit
    an Bord bekäme: „Internet- und Mobil-
    funk-Anbieter, aber auch Google und
    Apple, verfügen über detaillierte Aufent-
    halts-Verläufe aller Menschen, die ein Han-
    dy mit sich herumtragen.“ Die Datensamm-
    lung müsse gar noch ausgeweitet werden.
    Gerade Facebook und Google besitzen
    dank ihrer Werbesysteme Datenberge
    über Menschen und können diese zielge-
    nau ansprechen, vor allem mit Werbung:
    „Ich glaube, dass der Kampf gegen Corona
    endlich mal eine gute Verwendung dieses
    massiven Überwachungsapparates wäre,
    den wir gebaut haben. Statt den Leuten
    Schuhe oder Hautcreme zu verkaufen, kön-
    nen wir mit ihm Leben retten und die Wirt-
    schaft neu starten.“
    Der Kern des Systems sei also da, aber in
    privaten Händen. Deshalb sollte es bei Seu-
    chen- oder Katastrophenschutzbehörden
    eine zentrale Datenbank geben, die diese
    Daten zusammenführt. Den bisherigen
    Umgang mit Privatsphäre im Westen hält
    Cegłowski für Heuchelei. „Es ist lächerlich,


dass wir dieses Überwachungsnetzwerk zu
kommerziellen Zwecken und für politische
Werbung akzeptieren, aber es nicht einset-
zen wollen, um Leben zu retten.“
Seine Forderung nach Totalüberwa-
chung im Notstand mildert er aber doch
ab. Erstens müsse sie zeitlich begrenzt
sein. „Wenn das Haus brennt, erlaubt man
der Feuerwehr ja auch, die Tür einzutreten


  • in dem Wissen, dass sie das niemals wa-
    gen würde, wenn es nicht mehr brennt.“ Er
    stellt sich eine Art Deal mit dem Staat vor:
    Im Kampf gegen das Virus geben die Men-
    schen ihre Privatsphäre auf. Dann, wenn
    Covid-19 besiegt ist, sollen sie per Gesetz
    besser vor schnüffelnden Tech-Unterneh-
    men geschützt sein. „Wenn wir dem Staat
    schon solche Notstandsrechte geben, soll-
    ten wir den Preis hochhandeln.“ Nach dem
    Ausnahmezustand sollten etwa Daten
    über das Verhalten der Menschen nur noch
    wenige Wochen gespeichert werden dür-
    fen – wo sie sich aufhalten, welche Suchbe-
    griffe sie eingeben, wie hoch ihr Blutdruck
    ist. Kauf und Wiederverkauf von Daten
    müssten massiv eingeschränkt werden.
    Auch die derzeitige Datenschutz-Grund-
    verordnung der EU sei zu schwach, die US-
    Gesetze sowieso.
    Ob Gesundheitsschutz Datenschutz
    schlägt, wird in Deutschland, einem der
    Länder, in dem zwei Diktaturen nachwir-
    ken, scharf diskutiert, seit die Telekom
    dem Robert-Koch-Institut Bewegungsda-
    ten ihrer Nutzer zur Verfügung gestellt hat.
    Diese Daten sind allerdings anonymisiert.
    Cegłowski sieht sein Essay als Gedanken-
    anstoß. „Ich freue mich auf eine gute De-
    batte mit allen Leuten, die mich nicht ein-
    fach nur als Faschisten beschimpfen.“
    jannis brühl


von michael kläsgen
und felicitas wilke

München– InSchwerte bei Dortmund hat
eine neue Zeit begonnen. Bei der Bäckerei
Becker können Kunden jetzt schon kleins-
te Beträge mit der Karte bezahlen. „Den
Mindestbetrag von fünf Euro haben wir we-
gen Corona ausgesetzt“, sagt Verkäuferin
Sarah Ruhnke. Seitdem das Virus in
Deutschland endgültig angekommen ist
und viele Menschen unsicher sind, ob sie
noch bar zahlen sollten, habe sich der Um-
satz der Kartenzahlungen „gefühlt ver-
zehnfacht“, sagt Ruhnke.
Nicht nur in der Bäckerei im Ruhrgebiet
lässt sich diese Entwicklung beobachten.
In so mancher Bäckereifiliale steht neuer-
dings ein Kartenterminal auf der Verkaufs-
theke, in Supermärkten oder Drogerien
wird die Kundschaft darauf hingewiesen,
wegen des Corona-Virus doch möglichst
bargeldlos zu bezahlen.
In den vergangenen Tagen sei mehr als
die Hälfte aller Girocard-Zahlungen „kon-
taktlos“ durchgeführt worden, sagt eine
Sprecherin der Deutschen Kreditwirt-
schaft. Im Dezember habe dieser Anteil
noch bei 35 Prozent gelegen. Bei diesem
kontaktlosen Bezahlen müssen die Käufer
Ihre Plastikkarten nicht in ein Lesegerät
stecken und an dem Terminal eine PIN ein-
geben, sondern brauchen die Karte nur an
das Terminal zu halten. Eine PIN-Eingabe
ist erst ab einem Betrag von 25 Euro not-
wendig. Wer ein Smartphone oder eine
Smartwatch hat, muss den Bezahlterminal
nicht einmal berühren.
Die Fans bargeldloser Bezahlmethoden
frohlocken. Ausgerechnet ein Virus könnte
bewirken, dass im bargeldaffinen Deutsch-
land bald deutlich mehr Menschen ihre
Rechnung per Karte begleichen – und dass
in der Folge noch mehr Geschäfte die Kar-
tenzahlung ermöglichen.
Fragt man bei Aldi Süd nach, warum das
Unternehmen seine Kunden in diesen Ta-
gen darum bittet, möglichst bargeldlos zu
bezahlen, heißt es, dass darin „hygienisch
ein Vorteil“ für Mitarbeiter und Kunden be-
stehe. Besonders empfehle es sich in der ak-
tuellen Situation, kontaktlos zu bezahlen.
„Die kontaktlose Kartenzahlung hat sich
enorm gesteigert“, teilt Aldi Süd mit.
Ob bargeldloses Bezahlen die Kassierer
und Kunden tatsächlich vor einer Infekti-
on schützt, ist ungewiss. Zwar zeigt eine US-
Studie, dass das Virus bis zu vier Stunden
auf Kupfer und bis zu 24 Stunden auf Pap-

pe nachweisbar ist. Doch erstens sind Mün-
zen nur zum Teil aus Kupfer und Geldschei-
ne nicht aus Pappe. Und zweitens gab der
Virologe René Gottschalk auf einer Presse-
konferenz der Bundesbank öffentlich Ent-
warnung: Von Bargeld gehe keine große In-
fektionsgefahr aus. Andere Experten äu-

ßerten sich ähnlich. „Das auf dem Geld-
stück klebende Virus würde ich mal weitge-
hend vergessen“, sagte der Virologe Christi-
an Drosten von der Berliner Charité in sei-
nem NDR-Podcast.
Es sind Aussagen dieser Art, die die Ar-
beitsgemeinschaft Geldautomaten derzeit

eifrig auf ihrem Twitter-Account teilt. In
dem Verband sammeln sich die unabhängi-
gen Geldautomatenbetreiber, die zu kei-
ner Bank gehören und an deren Geräten ei-
ne Abhebung meist mehrere Euro kostet.
Würde Corona die Abkehr vom Bargeld be-
fördern, wäre das nicht gerade im Interes-
se der Lobbyorganisation.
Sie hält einen anderen Grund für vor-
stellbar, weshalb der Handel die Kund-
schaft dazu auffordert, die Münzen und
Scheine stecken zu lassen – einen Grund,
den er „unter dem Deckmantel von Co-
vid-19“ verschweige. Weil viele Menschen
gerade im großen Stil Lebensmittel einkau-
fen, befinde sich in den Kassen der Lebens-
mittelmärkte mehr Bargeld. Dadurch, so
heißt es bei der AG Geldautomaten, stie-
gen beispielsweise die Kosten für die Geld-
und Werttransporte. Folgt man der Argu-
mentation, könnte der Handel diese Kos-
ten senken, wenn mehr Menschen mit der
Karte zahlen – wobei dabei wiederum an-
dere Kosten anfallen.

Aldi Süd weist das zurück. „Den Vor-
wurf der Kostenersparnis bei einer Vermei-
dung von Barzahlungen können wir nicht
bestätigen“, teilt das Unternehmen auf An-
frage mit. „Die Kosten für die Gebühren
für die Abwicklung von Kartenzahlungen
sind im Vergleich zu denen für Geldtrans-
porte sogar signifikant höher.“
Nach Ansicht des Handelsverbands
Deutschland (HDE) liegt der Grund für das
bargeldlose Zahlen eher in dem Versuch,
den Abstand zwischen Kassierer und Kun-
de zu wahren. „Dies wird sich möglicher-
weise aber mit der zunehmenden Ausstat-
tung mit Plexiglas-Scheiben an den Kas-
sen wieder relativieren“, sagt ein HDE-
Sprecher.
Vielleicht ist es momentan die vernünf-
tigste Lösung, einfach die Kassierer zu fra-
gen, welche Bezahlmethode ihnen am
liebsten ist. Denn fest steht, dass sie es
sind, die den ganzen Tag über mit deutlich
mehr Geldscheinen und Münzen in Berüh-
rung kommen als die Kunden. Wer einkau-
fen war, sollte sich zu Hause in jedem Fall
die Hände waschen. Ganz unabhängig da-
von, ob man mit Bargeld bezahlt, den PIN-
Code eingegeben oder ganz und gar kon-
taktlos bezahlt hat.

Stuttgart– DerAutokonzern Daimler be-
antragt Kurzarbeit. Diese soll zunächst
von 6. bis 17. April dauern. Davon sind die
meisten der 170 000 Mitarbeiter in
Deutschland betroffen. Das Stuttgarter Un-
ternehmen reagiert damit auf die Corona-
Pandemie. Diese hat nicht nur die Nachfra-
ge nach Neufahrzeugen einbrechen lassen,
sondern auch die Lieferketten instabil ge-
macht. Die zwei ranghöchsten Betriebsrä-
te des Konzerns unterstützen den Antrag
auf Kurzarbeit, fordern vom Management
aber in Einzelbereichen ein Umsteuern.
„Kurzarbeit ist in diesen Zeiten für die
Wirtschaft etwas Gutes, es hilft Unterneh-
men und Belegschaft“, sagt der Gesamtbe-
triebsrats-Vorsitzende Michael Brecht zur
Süddeutschen Zeitung. „Für die Unterneh-
men sichert Kurzarbeit Liquidität. Für die
Beschäftigten bedeutet es Sicherheit für
Arbeitsplätze.“ Sorgen bereite ihm dage-
gen die Entwicklung an den Börsen. „Der
Aktienkurs muss unbedingt wieder stei-
gen“, fordert Brecht. Das Daimler-Papier
war im März bis auf 21 Euro eingebrochen.
Mittlerweile hat es sich auf etwa 28 erholt,
doch auch das ist Brecht zu niedrig: Der ak-
tuelle Börsenwert von etwa 30 Milliarden
Euro sei „deutlich weniger als die Substanz
hergibt“. Je niedriger der Wert sei, „desto
einfachere Beute sind wir für, heute sagt
man nicht mehr Heuschrecken, sondern
aktive Investoren.“
Auch Brechts Stellvertreter Ergun Lüma-
li macht sich „ernsthafte Gedanken“ über
Daimlers Zukunft: Zwar hätten die Mitar-
beiter eine Beschäftigungsgarantie bis


  1. „Aber in vielen Themen ist heute
    nicht klar, wo wir in zehn Jahren stehen
    werden“, betont Lümali. Das gelte vor al-
    lem für die Mitarbeiter in der Produktion
    von Verbrenner-Motoren, die künftig von
    Elektro-Antrieben abgelöst werden.
    Am Abend schließlich berichtete die
    NachrichtenagenturBloomberg:Daimler
    verhandele mit Banken über neue Kredite
    von mindestens zehn Milliarden Euro, um
    die Folgen der Coronavirus-Pandemie zu
    stemmen. Wie hoch die Summe sein wer-
    de, könnte bereits nächste Woche bekannt-
    gegeben werden, heißt es. Der Schritt ge-
    schehe im Zusammenhang mit einem um-
    fassenderen Maßnahmenpaket, um die Fi-
    nanzkraft des Mercedes-Benz- und Lkw-
    Herstellers in der Coronavirus-Krise zu
    stärken, hieß es weiter. Daimler habe eine
    Stellungnahme abgelehnt. Die Stuttgarter
    hatten vor zwei Jahren mit einem internati-
    onalen Banken-Konsortium eine Kreditli-
    nie über elf Milliarden Euro unterzeichnet.
    Dies war eine Finanzierung bis zum Jahre

  2. stefan mayr/bloomberg


Bahn meldet Rekord im


Fernverkehr für 2019


Finger weg


Die EU-Kommission bittet Mitgliedsländer, wichtige Firmen falls nötig vor ausländischen Übernahmen zu schützen


Man hat hier schon mal bessere Zeiten er-
lebt: Zentrale des Daimler-Konzerns in
Stuttgart. FOTO: DPA

Ein Fall für die Daten-Feuerwehr


Ein profilierter Kritiker des Silicon Valley denkt um: Gesundheit sei jetzt wichtiger als die Grundrechte


Lufthansa lässt


Plätze frei


Los, los, kontaktlos


In Corona-Zeiten werden Kunden in Supermärkten und Einzelhandel oft gebeten, lieber nicht mit Scheinen
und Münzen zu bezahlen, aus hygienischen Gründen. Manche halten das für einen Vorwand

Maciej Cegłowskihat
seine eigeneArt,
mit der Krise umzu-
gehen. Von der SZ
nach einem Foto von
sich gefragt, schickte
er dieses.FOTO: OH

Die vernünftigste Lösung ist,
einfach die Kassierin
zu fragen

113 Monate in Folge hatten


US-Firmen ihre Jobangebote


kontinuierlich ausgeweitet


DEFGH Nr. 73, Freitag, 27. März 2020 (^) WIRTSCHAFT HF3 19
3,3 Millionen
Hilferufe
Coronakrise schlägt mit enormer
Wucht auf US-Arbeitsmarkt durch
Penny-Filiale in Hamburg: Das Virus könnte bewirken, dass im bargeldaffinen
Deutschland mehrMenschen per Karte bezahlen. FOTO: CHRISTIAN CHARISIUS/DPA
Kurzarbeit
und Kritik
Daimlerreagiert auf Pandemie,
Betriebsräte fordern Umsteuern

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