Süddeutsche Zeitung - 27.03.2020

(ff) #1
von georg mascolo
und nicolas richter

E

s waren Zahlen, die man sich
kaum vorstellen konnte, aber
der Nachrichtensprecher sagte
sie tatsächlich. Millionen Men-
schen seien in Deutschland an ei-
nem Influenza-Virus aus Asien erkrankt,
viele gestorben, berichtete Marc Bator, be-
kannt als Sprecher der Tagesschau. Zum
Glück sprach Bator nicht in der echten Ta-
gesschau, sondern spielte sich selbst in ei-
ner Katastrophenübung, mit der Bundes-
und Landesbehörden den Ernstfall einer
Pandemie probten. Heute weiß man, dass
diese Übung gut geplant war: Vieles, was
die Menschen heute in der Corona-Krise
bewegt, gehörte damals zu einem Dreh-
buch, das sich Experten ausgedacht hat-
ten: Auch Auseinandersetzungen um be-
gehrte Waren im Supermarkt gehörten da-
zu. Das war im Jahr 2007.
Die Weltgemeinschaft beschäftigt sich
mit den Gefahren einer Pandemie nicht
erst seit dem Beginn der Corona-Krise, son-
dern bereits seit mehr als einem Jahrhun-
dert. Neue Auslöser nach der Jahrtausend-
wende waren vor allem die Lungenkrank-
heit Sars und die Vogelgrippe, beide hatten
ihren Schwerpunkt in Asien, aber viele
Fachleute sahen diese Heimsuchungen be-
reits als Warnung für die ganze Welt.
Seither sind zwar etliche Krisenpläne,
Gremien und Programme entstanden, auf
die sich Regierungen bei der Corona-Ab-
wehr stützen können. Aber rückblickend
hat diese Gefahr doch nie die Aufmerksam-
keit erhalten, die sie verdient hätte. Zwar
haben internationale Organisationen seit
2005 immer wieder das Schreckensbild ei-
ner Pandemie ausgemalt – so wie Geolo-
gen seit Jahrzehnten vor dem ganz großen
Erdbeben an der US-Westküste warnen.
Und doch blieben die Vorbereitungen vie-
lerorts hinter dem zurück, was Experten
verlangten. Die vergangenen anderthalb
Jahrzehnte erzählen also auch von Mah-
nern, die zu wenig gehört wurden.


Bereits im Jahr 2005 schrieb die Weltge-
sundheitsorganisation (WHO), ein Organ
der Vereinten Nationen, die Welt stehe so
nahe vor einer Pandemie wie seit 1968
nicht mehr. Im Jahr 1968 hatte die soge-
nannte Hongkong-Grippe schätzungswei-
se eine Million Menschen getötet, und er-
fahrungsgemäß wird Influenza alle paar
Jahrzehnte pandemisch. Neuen Anlass zur
Sorge bot am Anfang des neuen Jahrtau-
sends aber vor allem die Vogelgrippe. Das
H5N1-Virus war von Geflügel auf Men-
schen übertragen worden. Aus Sicht der
WHO hatte das Virus nur noch eine Schwä-
che: Es gelangte nicht gut von Mensch zu
Mensch. Es fehlte ihm also eine der zentra-
len Eigenschaften, die das Coronavirus
heute ausmacht. Schon damals warnte die
WHO, dass weltweit Impfstoffe und Medi-
kamente fehlten.
Der damalige UN-Generalsekretär Kofi
Annan teilte diese Sorgen. Zwar hatte die
Vogelgrippe damals nur gut 60 Menschen
getötet. Sobald sich das Virus aber von
Mensch zu Mensch übertrage, warnte An-
nan, hätten Regierungen kaum Zeit für die
Eindämmung. Danach würde die Lage au-
ßer Kontrolle geraten; es könne Millionen
Tote geben und die Verwüstung ganzer
Volkswirtschaften, sagte der UN-Chef.


Annan rief damals eine neue Arbeits-
gruppe ins Leben, sie hieß UN System Influ-
enza Coordination. An die Spitze setzte er
den britischen Gesundheitsexperten Da-
vid Nabarro. Es gibt aus jener Zeit die Auf-
nahme einer Pressekonferenz, die Nabarro
am UN-Sitz in New York hielt. „Wir erwar-
ten, dass die nächste Influenza-Pandemie
jeden Augenblick kommen könnte“, sagte
Nabarro und warnte vor bis zu 150 Millio-
nen Toten. Als die Kamera in den Zuschau-
erraum schwenkte, sah man dort vier Jour-
nalisten zwischen leeren Sitzreihen.
Nabarro erinnert sich heute, dass es da-
mals einen Graben gegeben habe zwischen
jenen Ländern in Südostasien, die Sars und
Vogelgrippe durchlitten, und jenen im Wes-
ten, die diese Erfahrung nicht gemacht hät-
ten. Für letztere sei das Problem schwer zu
fassen gewesen. „Warum macht sich nie-
mand Sorgen?“, fragte damals dasMalaysi-
an Journal of Medical Sciences– und beant-
wortete die Frage so: „Influenza ist für die
meisten Menschen bloß eine Grippe, eine
nervende, aber tolerierbare Infektion der
oberen Atemwege.“
UN-Chef Annan aber, so erzählt es Na-
barro heute, habe rasch begriffen, was der
Welt im schlimmsten Fall drohte. Eine Pan-
demie, die nicht bloß ein Gesundheitspro-
blem wäre, sondern auch ein Problem für
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Die mangelnde Aufmerksamkeit der
Weltöffentlichkeit erklärt sich wohl auch
dadurch, dass es damals viele andere, stär-
ker sichtbare Krisen gab. Die USA waren ge-
rade in Kriege in Afghanistan und im Irak
verstrickt, und einige Jahre später, Ende
2008, brach dann die Finanzkrise aus.

Fragt man heute einige der deutschen
Verantwortlichen, ob man die Gefahr
durch Pandemien unterschätzt habe, dann
stimmen viele zu – und liefern dafür zwei
Erklärungen. Eine heißt, man habe dies al-
les schon ernst genommen, aber die Welt
sei eben auch stets von einer Krise in die an-
dere gestolpert – Krieg, Finanzen, Flücht-
linge. Die zweite lautet: Es sei generell
schwer, massive Ressourcen und Aufmerk-
samkeit für etwas zu mobilisieren, das the-
oretisch zwar denkbar sei, aber eben doch
mehr nach Hollywood klinge als nach dem
wirklichen Leben.
Die Warnungen der UN waren natürlich
nicht gänzlich vergebens. Die Katastro-
phenübung der Bundesregierung im Jahr
2007 zeigt, dass der Ernstfall immerhin
auch in Deutschland für möglich gehalten
wurde. Allerdings gab es auch Versäumnis-
se. Bereits 2009 legte ein Gutachten des
Wissenschaftlichen Dienstes des Bundes-
tages eine Schwachstelle offen. Um diese
zu beseitigen, war ein „Gesundheitsvorsor-
gegesetz“ im Gespräch, das zur Bewälti-
gung von „bedeutsamen biologischen Ge-
fahrenlagen“ etwa den groß angelegten
Kauf von Arzneimitteln ermöglicht hätte.
Dafür wäre aber eine Grundgesetzände-
rung nötig gewesen. Zu der kam es nie.
Im Jahr 2014 folgte eine neue, eindringli-
che Warnung vor den Gefahren einer Pan-
demie. Diesmal war es der Ebola-Aus-
bruch in Westafrika, der besonders Gui-
nea, Sierra-Leone und Liberia traf und Tau-
sende Tote hinterließ. Die UN klagten dar-
über, dass die Menschheit – wieder einmal


  • nicht gut genug gerüstet war. Eine UN-
    Expertenrunde schrieb in einem Bericht,


dass die Ebola-Krise vermeidbar gewesen
wäre und dass diese Katastrophe abermals
ein „Weckruf“ sei. „Es kommen neue pan-
demische Gefahren auf uns zu und sie wer-
den verheerende Folgen haben“, schrieben
die Fachleute. Das erinnerte sehr an das,
was die WHO bereits zehn Jahre früher er-
klärt hatte. „Ebola hat der Pandemie-Ab-
wehr neuen Schwung gegeben“, sagt UN-
Experte Nabarro. „Aber das ging rasch wie-
der verloren.“
Die Mahner und Warner hatten es wei-
terhin schwer. Als US-Präsident Barack
Obama zur Jahreswende 2016/2017 die
Macht an seinen Nachfolger Donald
Trump übergab, trafen sich die Teams des
alten und des neuen Staatschefs zu einer
Übung für den Fall einer Pandemie – als
Beispiel diente eine imaginäre Influenza-
Welle. Allerdings hat Trump bis heute so
viele Mitarbeiter vergrault oder gefeuert,
dass zwei Drittel der damals Anwesenden
jetzt nicht mehr der Regierung angehören.

Die Politik-WebsitePoliticoberichtet,
dass der designierte Wirtschaftsminister
Wilbur Ross während der damaligen
Übung öfters so wirkte, als schlafe er gera-
de ein. Im vergangenen Jahr hielten US-Be-
hörden dann eine Übung namens „Crim-
son Contagion“ ab für den Fall einer Pande-
mie. Das Ergebnis war ernüchternd: Nicht
nur fehlten lautNew York TimesGeld und
Kompetenz, sondern die Übung offenbarte

auch große Verwirrung im staatlichen Ap-
parat darüber, wer eigentlich wann was zu
tun hatte. Entsprechend unvorbereitet
wirkte die US-Regierung jüngst zu Beginn
der Corona-Krise.
Beim Versuch, die Öffentlichkeit end-
lich wachzurütteln, hatten manche zuvor
noch auf drastische Vergleiche gesetzt. Bill
Gates, der Gründer des Software-Riesen
Microsoft, der sich seit Jahren für Gesund-
heitsthemen einsetzt, warnte bei einem
Vortrag im Jahr 2015, dass eine Pandemie
tödlicher sein könne als eine Atombombe.
Man habe viel Geld in nukleare Abschre-
ckung investiert, aber nur wenig gegen ei-
ne Epidemie getan. Dabei gehe die Gefahr
eher von Viren und Bakterien als von Rake-
ten aus. „Wir sind nicht gerüstet“, warnte
Gates. Offensichtlich hatte er erkannt,
dass man angesichts einer von nationaler
Sicherheit besessenen Politik nur Gehör
finden konnte, wenn man Gesundheitsge-
fahren mit Atomkriegen verglich.
Trotz aller Bemühungen in den folgen-
den Jahren zeigten Berichte über den
Stand der Pandemie-Vorbereitungen, dass
die Welt weit schlechter aufgestellt war, als
es die Fachleute seit Beginn des Jahrhun-
derts gefordert hatten. Im Jahr 2018 veröf-
fentlichte die Weltbank einen Bericht, der
systematisch Investitionen in die Pande-
mie-Abwehr verlangte – statt der bislang
verbreiteten Mischung aus Gleichgültig-
keit und gelegentlicher Panik. In vielen
Ländern reiche es, pro Bürger und Jahr ei-
nen Dollar auszugeben. Nach damaligen
Berechnungen der Weltbank würde eine
Pandemie allein in Deutschland zu einem
Schaden von 15 Milliarden Dollar führen.

Nun ist die seit Langem vorhergesagte
Krise da. Sie hat nichts mit Influenza zu
tun, vielmehr ist das Virus verwandt mit
dem Sars-Erreger. Deutschland gilt in der
Corona-Krise noch als relativ gut gerüstet.
Anfang des Jahres beschwichtigte Gesund-
heitsminister Jens Spahn sogar mit den
Worten: „Wir sind gut vorbereitet.“ Aber in
vertraulichen Gesprächen räumen die Ver-
antwortlichen auch hier ein, dass vieles
fehlt, was man schon vor Jahren hätte einla-
gern können. Hätte man zum Beispiel den
Gegenwert auch nur eines Panzers oder ei-
ner Rakete in das investiert, was am wich-
tigsten ist: Schutzkleidung. Fragt man Mit-
glieder des Berliner Krisenstabes in diesen
Tagen danach, folgt eine lange Pause und
ein erstaunlich selbstkritischer Blick. Ja,
daraus werde man lernen müssen, heißt es
dann. Eigentlich stehe in jedem Pandemie-
Plan, dass Vorsorge zu treffen sei, überall
in den Ländern, Landkreisen, Städten,
Krankenhäusern.

Heute zeigen sich große Unterschiede.
Manche haben gut, andere kaum vorge-
sorgt. Richtig kontrolliert wurde das nicht.
„Zur kritischen Infrastruktur“, sagt ein Re-
gierungsmitglied, „gehört eben nicht nur
das 5 G-Netz, sondern auch eine billige
Atemschutzmaske und vor allem unser Ge-
sundheitssystem.“ In manchen Bundesbe-
hörden ärgert man sich jetzt auch über
Landräte, die Hilfe vom Bund verlangen
und jahrelang selbst nichts vorbereitet ha-
ben. Nicht einmal eine vom Robert-Koch-
Institut angebotene Software zur Übermitt-
lung von Infektionszahlen wird überall ein-
gesetzt; manche Zahlen kommen weiter-
hin per Telefonanruf oder Fax.
Inzwischen beschafft die Bundesregie-
rung in aller Eile und in aller Welt Material.
Alle hätten jetzt gern ein Lager für Schutz-
kleidung. So wie es für den Krisenfall einge-
lagertes Öl, Gas oder Lebensmittel gibt.
Aber die deutsche Rechtslage ist kompli-
ziert, der Bund hat die Kompetenzen nur
im Kriegs- und Verteidigungsfall. Der Ka-
tastrophenschutz dagegen ist Ländersa-
che. Dabei zeichnete sich nach den War-
nungen der vergangenen Jahre ab, dass die
Folgen einer Pandemie womöglich nur mit
denen eines Krieges vergleichbar wären.
Der UN-Experte Nabarro hat diese Wo-
che in vielen Gesprächen auch mit deut-
schen Stellen angemahnt, die Abwehr des
Coronavirus nun auch als globale Heraus-
forderung zu sehen. Die Pandemie werde
die Armen am härtesten treffen, beson-
ders schwache Länder bräuchten jetzt Hil-
fe, um sich mit Schutzausrüstung einzude-
cken, aber auch, um mit den wirtschaftli-
chen Folgen zurechtzukommen.
Selbst die diesjährige Münchner Sicher-
heitskonferenz Mitte Februar ist ein gutes
Beispiel dafür, dass die Welt die Gefahren
einer Pandemie kannte, sich aber nicht ge-
nügend rüstete. Der Chef der WHO war an-
wesend und auch Robert Wieler, der Präsi-
dent des Robert-Koch-Instituts. Beide dis-
kutierten und referierten, die Münchner Si-
cherheitskonferenz gehört zu den wenigen
Orten, an denen über globale Gesundheit
schon seit Jahren debattiert wird. Und
doch war im überfüllten Tagungshotel, wo
Händeschütteln und Umarmen noch üb-
lich waren, das Coronavirus nicht das
Hauptthema. Trump, China, der Zustand
der Nato. Es gab Themen, die mehr Auf-
merksamkeit erregten. Wie immer.

Gehört, gestaunt, vergessen


Seit derJahrtausendwende forderten die WHO und Experten immer wieder, sich gegen eine Pandemie
zu wappnen. Doch die Mahner wurden nur bedingt ernst genommen – und anderes erschien dringlicher

Über Zahlen habe er in den vergangenen
Tagen etwas gelernt, sagt Bundesgesund-
heitsminister Jens Spahn (CDU) am Don-
nerstag in einer Pressekonferenz. Man soll-
te erst über sie sprechen, wenn man sie
auch sicher kenne. Es geht um die Zahl der
dringend benötigten Atemschutzmasken,
die die Bundesregierung schon vor Wo-
chen den Arztpraxen, Krankenhäusern
und Pflegeheimen versprochen hat. Medi-
en hatten Anfang der Woche darüber be-
richtet, dass einem Lieferanten sechs Milli-
onen dieser Masken, die für Deutschland


bestimmt waren, an einem Flughafen in
Kenia abhanden gekommen waren. Be-
zahlt habe man für sie noch nichts, stellte
ein Sprecher des Verteidigungsministeri-
ums klar. Doch der Vorfall zeigt, wie
schwierig es in Zeiten dieser globalen Ge-
sundheitskrise ist, genügend Schutzaus-
rüstung einzukaufen. „Es ist ein wahnsin-
nig umkämpfter Markt grade“, sagt Spahn.
Am Vortag hatte sein Sprecher erklärt,
dass sowohl Dienstag als auch Mittwoch je-
weils eine Million Masken ausgeliefert wor-


den seien – doch wer mehr wissen wolle,
müsse die Bundesländer fragen. Sie seien
schließlich für die Verteilung zuständig.
In Baden-Württemberg warnten die Ärz-
tegewerkschaften am Mittwoch in einem
gemeinsamen Appell, dass zertifizierte
Schutzmasken in den Kliniken bereits fehl-
ten und die Gefahr bestünde, dass „Ärztin-
nen und Ärzte und Pflegekräfte, die die
schweren Covid-19-Fälle behandeln und
im Idealfall Leben retten sollen, sich selbst
infizieren, erkranken und das Corona-Vi-
rus weiterverbreiten“. Der baden-württem-
bergische Gesundheitsminister Manne Lu-
cha hatte dagegen noch am Dienstag beteu-
ert, das Land sei „flächendeckend gut auf-
gestellt“. Noch in dieser Woche kämen
75 000 spezielle FFP-2-Masken und
350 000 OP-Masken, außerdem erwarte er
„zehn Millionen Masken aus China“. Doch
auch für den Chef der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung, Andreas Gassen,
bleibt das Material ein Engpass, deshalb
müssten auch Praxen schließen.
Während Schutzausrüstung und medizi-
nische Geräte dringend gebraucht werden,
ist die Nachfrage nach vielen anderen Pro-
dukten eingebrochen. Die Frage lautet al-
so: Können die Kapazitäten jener Unter-
nehmen, die derzeit ohnehin nicht oder
nichts dringend Benötigtes produzieren,

so verändert werden, dass Schutzmasken
oder Beatmungsgeräte vom Band laufen?
Große Hoffnungen setzten Länder und
Bund zunächst in die Autoindustrie. Deren
Fabriken stehen still, die Produktionskapa-
zitäten sind riesig. Zudem verfügen Auto-

hersteller über 3-D-Drucker, mit denen al-
le Arten von Bauteilen hergestellt werden
können. Trotzdem ist die Sache nicht so
einfach. Man prüfe, welche Möglichkeiten
es gebe, heißt es derzeit unisono von gro-
ßen Autoherstellern. Beim Medizintechnik-

unternehmen Dräger aus Lübeck, das ne-
ben Schutzausrüstung auch die begehrten
Beatmungsgeräte produziert, ist man da
deutlicher: Man sehe „mehrere kritische
Aspekte“, wenn es darum ginge, Produkti-
on zu Unternehmen auszulagern, die mit
Beatmungstechnik bislang nichts zu tun
hatten. Die Kerntechnologie unterscheide
sich doch „elementar“ von der Produktion
in der Autoindustrie. Zudem gebe es diver-
se Auflagen zu erfüllen. Anders ausge-
drückt: Ein hochsensibles Gerät, das Le-
ben retten soll, kann man nicht einfach auf
einem Band produzieren, auf dem gerade
noch eine Autotür gefertigt wurde.

Die Industriekonzerne versuchen des-
halb auf anderen Wegen, sich nützlich zu
machen. Porsche hat angeboten, Projekt-
manager und IT-Leute abzustellen, wo im-
mer sie gebraucht werden. Siemens öffnet
seine Plattform für 3-D-Drucker Ärzten
und Kliniken, die Ersatzteile benötigen.
Während Unterstützung bei komplexen
Geräten also gar nicht so einfach zu leisten
ist, klappt das bei simpleren Produkten

sehr gut. Atemschutzmasken werden gera-
de im großen Stil von Unternehmen aus an-
deren Branchen hergestellt. Das gilt zum
Beispiel für Mey und Trigema aus Baden-
Württemberg, sonst bekannt für Unterwä-
sche und Poloshirts, aber auch für den Ma-
tratzenhersteller Wegerich aus Würzburg.
Crop Energies aus Mannheim produ-
ziert statt Ethanol für Treibstoff nun Neu-
tralalkohol, der für Desinfektionsmittel ge-
braucht wird. Der Spirituosenhersteller Jä-
germeister und der Getränkeproduzent Be-
rentzen halten es ähnlich.
Und dann ist da noch Bosch. Das Unter-
nehmen ist normalerweise bekannt für
Konsumgüter oder als Zulieferer für die Au-
toindustrie, hat aber auch eine Medizin-
techniksparte. Die hat zusammen mit Ran-
dox Laboratories nun ein Analysegerät für
automatisierte Corona-Schnelltests entwi-
ckelt, das bereits von April an eingesetzt
werden könnte. Das Gerät könne innerhalb
von zweieinhalb Stunden zehn Atemwegs-
erreger gleichzeitig diagnostizieren, heißt
es. Man warte jetzt noch auf die Zulassung
der Testkartuschen für den Covid-19-Erre-
ger. Auch bei Bosch hat die Aufholjagd be-
gonnen.
thomas fromm, christina kunkel,
kristiana ludwig, stefan mayr,
angelika slavik

2 HF2 (^) THEMA DES TAGES Freitag,27. März 2020, Nr. 73 DEFGH
„Es ist ein wahnsinnig
umkämpfter Markt grade“,
sagt Jens Spahn
Jägermeister
füllt nun auch
Desinfektionsmittel ab
Auch das Würzburger Unternehmen Wegerich lässt nun Mundmasken nähen. Nor-
malerweise werden hier Matratzen hergestellt. FOTO: DANIEL KARMANN / DPA
Schutzmasken statt Unterhosen
Vielen Ärzten und Pflegern fehlt die nötige Ausrüstung. Wie Regierung und Unternehmen versuchen, den Mangel zu beheben
Eigentlich müssten alle Vorsorge
treffen, heißt es, in den Ländern,
Landkreisen, Krankenhäusern
Sieht aus wie 2020, ist aber von 2003. Damals zeigte der Sars-Erreger, wie bedrohlich Epidemien werden können: Südkoreaner desinfizieren ein Flugzeug. FOTO: AFP
Wie mobilisiert man Mittel
füretwas, das denkbar ist, aber
doch eher nach Hollywood klingt?
2018 verlangte auch die Weltbank
in einem Bericht Investitionen
in die Pandemie-Abwehr
Corona-KriseIm internationalen Vergleich ist Deutschland gut gerüstet gegen die Pandemie. Und trotzdem mehren sich auch hierzulande
die Hilferufe von Praxen, Kliniken und Pflegeheimen, es fehlten Beatmungsgeräte oder Desinfektionsmittel. Dabei beschäftigen
sich Fachleute und Behörden schon seit Jahren mit solchenKatastrophenfällen. Nun versucht man, Versäumtes nachzuholen

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