Süddeutsche Zeitung - 27.03.2020

(ff) #1
V

ielleicht wird Veronika Engl spä-
ter mal erzählen, dass sie ge-
spürt hat, dass der Sommer
ihres Lebens an diesem lauen
Freitag im März zu Ende geht.
Dass sie in der Früh vor dem Kleider-
schrank stand und dachte: „Was ist, wenn
du dir jetzt das Outfit für den letzten Schul-
tag raussuchst?“ Dass sie zur Schule fuhr,
zwei Stunden Mathe, alles wie immer. Und
dass danach nichts mehr war, wie es gewe-
sen ist. „Dieser Sommer ist das, worauf
man zwölf Jahre hinarbeitet“, sagt Veroni-
ka Engl.
Zwölf Jahre. Für einen Teenager ist das
eine Ewigkeit. Und jetzt fühlt es sich an, als
hätte da jemand die Stopp-Taste gedrückt.
Kurz vor Schluss.
Freitag, 13. März, 9.30 Uhr, Robert-
Koch-Gymnasium Deggendorf, Nieder-
bayern. Veronika Engl, 18, sitzt auf einem
grünen Lederhocker im Oberstufenzim-
mer. Vor einer halben Stunde hat Minister-
präsident Markus Söder bekannt gegeben,
was Engl schon geahnt hat, daheim, vor
dem Kleiderschrank: Die Schulen machen
dicht. Bis 19. April, mindestens. Das alles
geschieht sieben Wochen bevor in Bayern
die Abiturprüfungen losgehen sollten.
Jetzt stehen Fragen im Raum. Und die Ant-
worten sind unklar, wie fast alles in der Co-
rona-Krise. Wer wisse schon, „ob das alles
nicht noch schlimmer wird“, sagt Veronika
Engl. „Und wann wir Abi schreiben? Ob wir
Abi schreiben?“, sagt Theresa Sixt.
Auch Sixt, 17, sitzt an diesem Freitag-
morgen im Oberstufenzimmer. Aus ihrer
Mütze quellen blonde Locken, in ihrer Na-
se steckt ein Ring, um den Hals trägt sie
eine dieser eng sitzenden Neunzigerjahre-
Ketten, die jetzt alle wieder tragen. Mütze,
Nasenring, Choker-Kette, die Neunziger er-
leben gerade eine Renaissance bei jungen
Leuten. Was die jungen Leute vielleicht
nicht wissen: Auf Abi-Bällen der Neunzi-
ger wurde noch zuCoronagetanzt. Corona,
das war eine Band mit einer brasiliani-
schen Sängerin, Rastazöpfe bis zum Hin-
tern. Ihr größter Hit: „The Rhythm of the
Night“. Die Sängerin, die am 13. März des
Abiturjahrs 2020 die Charts anführt, heißt
Loredana. Titel ihres Lieds: „Angst“.


Abi und Angst, irgendwie hat das immer
zusammengehört. Man quält sich für den
Schnitt, über Jahre, und kann alles in einer
Prüfung vermasseln. Das Gefühl der Unsi-
cherheit gehört zum Abitur, überhaupt
zum Erwachsenwerden. Aber eines war im-
mer sicher: dass das Abi stattfindet. Man
sagt, nach dem Abi fängt der Ernst des
Lebens an. Stimmt nicht. Nach dem Abitur
kommt erst mal der Abi-Ball, die Abi-Rei-
se, der Abi-Sommer. Und jetzt, Abi 2020?
Ist alles am Wackeln. Und der Ernst schon
da, bevor das mit dem Leben so richtig an-
gefangen hat.
Was da gerade wackelt, kann man in
einem Werbefilm sehen. 4:24 Minuten, auf
der Homepage 2020.x-bash.de. Strand,
Schnitt, eine Insel in Luftaufnahme,
Schnitt, die Stimme aus dem Off sagt: „Die
Reise deines Lebens“. Die Schnitte werden
kürzer, der Bass wummst heftiger. Man
sieht: Bikinimädchen, deren Haare im
Wind fliegen. Jungs ohne Brusthaar, die
mit Becherbier prosten. Überall junge Men-
schen, die hüpfen, tanzen, knutschen.
Nach Kroatien, zum X-Bash, wollten
auch 20 Schüler aus Deggendorf. Eine


Partyinsel für Tausende Abiturienten.
Aber wie soll das jetzt noch gehen? Viele EU-
Länder haben ihre Grenzen abgeriegelt.
Wer das Abi hinter sich hat, dem steht die
Welt offen. Auch das stimmt jetzt nicht
mehr. Die Welt macht gerade dicht.
In dem Moment, der alles auf den Kopf
stellt, steht Schulleiter Heinz-Peter Meidin-
ger im Büro seines Stellvertreters. Beide
schauen in den Monitor auf dem Schreib-
tisch. Die Söder-Pressekonferenz im Live-
stream. Söder kündigt einen „Notfallplan“
an. Dann spricht Michael Piazolo, Bayerns
Kultusminister. Es sei „sichergestellt“,
dass die Schüler daheim Unterricht krie-
gen. Man sei da „weiter als andere Bundes-
länder“. In Bayern gebe es ja diesen „virtu-
ellen Klassenraum“, sagt der Minister, „ein
besonderes Programm“ namens Mebis.
Ha, Mebis! Der Stellvertreter muss la-
chen, schnalzt fast aus dem Stuhl. Er kennt
Mebis. Und er weiß, warum dieses Pro-
gramm so besonders ist. Weil es direkt
beim Testlauf an diesem Morgen abge-
stürzt ist. Total überlastet, noch bevor der
Online-Unterricht angefangen hat. Drei
Tage später werden Hacker Mebis dann
komplett lahmlegen.
„Ich bin ja mal gespannt, wie der Notfall-
plan ausschaut“, sagt Schulleiter Meidin-
ger, 65, Bart, Brille, lichtes Haar. Ein gro-
ßer Mann mit kleinem Vertrauen in die Po-
litik. Zumindest wirkt das gerade so. Auch
Meidingers Hände sind groß. Bratzn nennt
man in Niederbayern solche Hände. Mei-
dinger ist ein Anpacker, das war er damals
schon, im Sommer 2013, als in Deggendorf
die Donau überlief. Die Schule musste zu-
sperren, tagelang, weil die Flut Dutzende
Schüler in ihren Häusern eingesperrt hat-
te, kurz vor Ende der Abiturprüfungen. Sie
haben es trotzdem irgendwie gewuppt, der
Schulleiter, die Lehrer, die Schüler, alle
gemeinsam. „Aber das ist nicht vergleich-
bar mit der jetzigen Situation“, sagt Heinz-
Peter Meidinger.
Und trotzdem, in Deggendorf packen
sie jetzt wieder an. Auf eigene Faust. Auch
Julia Lahoda, 45, Deutschlehrerin. Noch be-
vor Markus Söder das Wort „Notfallplan“
ausgesprochen hat, jagt Lahoda am Frei-
tagmorgen ihre eigenen Pläne durch den
Drucker im ersten Stock des Gymnasiums.
Auch sie hat geahnt, dass Bayern seine
Schulen zusperren wird, hat per E-Mail
Einladungen an ihren Abi-Kurs verschickt.
Für zwei Chat-Programme, deren Beson-
derheit ist, dass sie eher nicht abstürzen.
Auf den Zetteln, die gerade aus dem Dru-
cker fließen, steht die Anleitung für ihre
Schüler. Drunter die Kurszeiten, in roter
Farbe. Nächster Termin: Montag, 8 Uhr.
Schulfrei? Nix da.
Schulfrei, das will auch keiner der Abitu-
rienten. Es fehlt ja noch Stoff, in Deutsch
zum Beispiel. Exilliteratur, Nachkriegs-
literatur, Gegenwartsliteratur, nichts da-
von haben sie bis jetzt durchgenommen.
Und da sind die letzten Klausuren, die
noch mehr wackeln als die Abiturprüfun-
gen selbst. Wie soll das alles funktionie-
ren? „Ich habe das Gefühl, dass niemand
einen Plan hat, nicht mal die im Kultusmi-
nisterium“, sagt Theresa Sixt. Dass sie das
Abitur nicht bestehen könnte, da mache
sie sich keine Sorgen. Die macht sich auch
Veronika Engl nicht. Sie ist eine sehr gute
Schülerin. Sie macht sich nur Sorgen um
die Stelle nach dem Komma. Die ist wichtig
im Wettlauf um Studienplätze. Die Unge-
wissheit, wie es weitergeht, sei „belas-
tend“. Und für Schüler, „bei denen es
knapp ist“, werde es „schon schwierig“.
Als dieser seltsame Schultag zu Ende
ist, treffen sich die Abiturientensprecher
Alicia Reitinger, Leonhard Laschinger und

Alexander Bauer im Elternsprechzimmer.
Ein Tisch, kahle Wände, sonst nichts. Zehn
Quadratmeter Trostlosigkeit. „Irgendwie
komisch, dass heute wahrscheinlich der
letzte Schultag ist. Unspektakulär“, sagt
Bauer, der mit Reitinger und Laschinger
eigentlich das große Spektakel organisie-
ren sollte. Zum Beispiel die Mottowoche,
ein Ritual, das es seit ein paar Jahren an vie-
len Gymnasien gibt. Die Abiturienten ver-
kleiden sich, jeden Tag anders. Heute als
Erstklässler, mit Schultüte. Morgen in
Abendkleid und Smoking, Motto: reich
und schön. Auch den Saal für den Abi-Ball
haben sie längst reserviert, die Band ist
gebucht, das Motto steht: „Abikropolis.
Die Götter verlassen den Olymp.“

Und jetzt? „Abwarten“, sagt Reitinger.
Nichts sei sicher, sagt Bauer. Laschinger
sagt: „Das fällt vielleicht alles weg.“
Fridays for future? An diesem Freitag ist
die Zukunft weit weg für die Generation,
die eben noch die Welt vor der Klimakrise
retten wollte. Es gibt Alte, die haben sich
über die Jungen aufgeregt, haben geläs-
tert, dass die nur die Freitage schwänzen
wollen. Ein Zoff der Generationen, irgend-
wie erbärmlich. Jetzt gehen die Jungen gar
nicht mehr zur Schule – für die Alten und
die Kranken. „Wenn wir Corona hätten, wir
würden das wahrscheinlich überleben“,
sagt Alicia Reitinger. Sie sagt aber auch:
„Jeder von uns versteht, dass solche Maß-
nahmen ergriffen werden. Weil wir halt die-
jenigen sind, die es zu den Großeltern heim-
tragen.“ So ähnlich sagen das in Deggen-
dorf fast alle Abiturienten. Abi hin, Abi her.
Trotzdem hoffen sie, dass sie die Prüfun-
gen schreiben dürfen. „Mit zehn Metern
Abstand“ zwischen den Tischen, sagt Vero-
nika Engl. Und: „Dass wir zumindest eine
Verabschiedungsfeier und einen Abi-Ball
haben können“, sagt Theresa Sixt, „man
will es ja irgendwie hinter sich bringen.“
Fünf Tage später meldet das Kultusminis-
terium: Das Abi wird verlegt. Bis Ende Mai.
Vorläufig.
Donnerstag, 19. März. Es ist 10.15 Uhr, ei-
gentlich wäre jetzt Pause am Deggendorfer
Gymnasium. Irgendwie ist ja auch Pause.
Keiner weiß, wann es weitergeht. Der Haus-

meister hat den Schulgong erst mal abge-
stellt. In der Aula rauscht die Lüftungsan-
lage, sonst ist Stille. Eine volle Schule kann
die Hölle sein. Alles wuselt, überall Lärm.
Eine leere Schule ist der einsamste Ort,
den man sich vorstellen kann.
In der Ecke der Aula steht ein Mann mit
Glatze, Vollbart, Fliege. Ein Mann aus Bron-
ze: Robert Koch. Nicht lang her, da konnte
nicht jeder was mit diesem Namen anfan-
gen. Seit das Robert-Koch-Institut jeden
Tag die neuen Corona-Zahlen meldet, ist
das anders. Der Nobelpreis-Mediziner ist
Namenspatron des Deggendorfer Gymna-
siums. Im Moment ist das fast wie ein
schlechter Witz.
Raum 11.13, das Büro von Heinz-Peter
Meidinger. Kein Handschlag. Meidinger
mag das Gewusel, den Lärm auf den Flu-
ren, „man vermisst das“. Er ist jetzt allein.
Last man standing. Nur seine Sekretärin
ist noch da. Zur Ruhe kommt Meidinger
trotzdem nicht. Er ist nicht nur Schulleiter,
sondern auch Präsident des Deutschen
Lehrerverbandes. Dauernd läutet das Tele-
fon. Presse, Fernsehen, Radio. Alle wollen
von ihm wissen, wie es weitergeht in der
Schulrepublik Deutschland. Und wie es so
läuft mit dem Digitalunterricht zu Hause.
Also: Wie läuft’s? Gut, sagt er, jedenfalls
am Robert-Koch-Gymnasium. Er hat früh
mitgekriegt, dass die Politik über Schul-
schließungen nachdachte. Als Verbands-
präsident ist Meidinger vernetzt. Ein, zwei
Tage konnten die Lehrer sich und die Schü-
ler vorbereiten auf das Homeschooling,
von dem jetzt alle reden. Ist er froh, dass
das Abitur verschoben ist? „Der große Ner-
venkoller ist jetzt mal weg.“ Hält der Ter-
min, Ende Mai? Meidinger rechnet mit al-
lem. Mit „einer neuen Wackelrunde“.
Alles wackelt. Auch der Bildungsfödera-
lismus. „Da macht jetzt jedes Land was an-
deres“, sagt Meidinger. Bayern ist vorge-
prescht, hat das Abi im Alleingang verlegt.
Obwohl andere Länder die gleichen Abitur-
aufgaben haben, die Prüfungen parallel
stattfinden sollten. Man müsse den Abituri-
enten entgegenkommen, notfalls auf Prü-
fungsstoff verzichten, sagt Meidinger. Das
Chaos, die Unsicherheit, schwierig genug
für die Schüler. „Aber wenn jetzt jedes Bun-
desland sein eigenes Ding macht“, dann ge-
be es im einen Land „das Abitur light und
im anderen doppel-light“. Das wäre unge-
recht, vor allem im Kampf um Studien-
plätze, die man nur mit sehr gutem Abi-
Schnitt kriegt, etwa Medizin. Es brauche

schleunigst einen gemeinsamen Krisen-
plan, sagt Meidinger. Nicht dass die Bre-
mer am Ende noch „mit Handauflegen das
Abitur verleihen“.
Aber, geht das überhaupt: Abi ohne
Ansteckungsgefahr? Rheinland-Pfalz hat
mündliche Prüfungen trotz Corona noch
fix abgewickelt. Am 19. März haben in Hes-
sen die schriftlichen Prüfungen begonnen,
es gilt: zwei Meter Tischabstand. Alles „or-
ganisierbar“, sagt Meidinger, auch an sei-
nem Gymnasium. Der Abi-Jahrgang ist
klein, 40 Leute. Und die Schule groß ge-
nug, um Abstand zu halten, zum Beispiel
in der Turnhalle. Meidinger hofft, dass Bay-
ern wenigstens den neuen Termin durch-
zieht. Viele hätten ihr Lernpensum exakt
auf die Prüfungstage hin geplant, „alles
genau ausgerechnet“, sagt Meidinger. Wie
bei einem Sportler, „es kommt drauf an,
punktgenau fit zu sein“.
Neulich habe er mit seiner Mutter telefo-
niert, sagt Meidinger. Eine alte Dame, 94
Jahre. Sie habe erzählt, dass die Schüler in
den Kriegsjahren ihr Abitur ohne Prüfung
bekommen hätten. „Notabitur“, hieß das.
Ein Kniff der Nazis, um die jungen Men-
schen aus der Schule direkt in den Kriegs-
dienst zu schicken. „Da haben die Schulen
einfach die Noten aus dem Vorjahr genom-
men“, sagt Meidinger, „daran ist das deut-
sche Bildungssystem auch nicht zu Grun-
de gegangen.“ Kriegsvergleiche hört man
ja öfter in diesen Tagen. Das kann Angst
machen. Es kann einen aber auch trösten.
Weil es nach allen Krisen irgendwie weiter-
gegangen ist.
Man verlässt das Deggendorfer Gymna-
sium, fährt raus an den Stadtrand, zu Vero-
nika Engl. Es ist immer noch Donnerstag,


  1. März, 11.25 Uhr, gleich fängt die
    Deutschstunde an. Engl öffnet die Tür,
    geht durchs Wohnzimmer nach draußen
    in den Garten. 18 Grad, der erste Frühlings-
    tag des Jahres. „Ich halte es drin schon
    nicht mehr aus.“ Sie setzt sich auf einen
    Gartenstuhl, auf dem Tisch ihr Laptop. Auf
    dem Bildschirm ploppen Fenster auf, eins
    neben dem anderen: junge Gesichter, die
    Kopfhörer tragen. Und Julia Lahoda, die
    Deutschlehrerin. Eigentlich wollte sie in
    die Schule fahren, den Online-Unterricht
    von dort aus halten. Aber dann: ein Corona-
    Verdacht in ihrer Familie. Also sitzt Lahoda
    jetzt daheim, in ihrem Arbeitszimmer.
    Sicher ist sicher.
    Es ist der Tag nach Angela Merkels Fern-
    sehansprache. Das Coronavirus, die größte
    Herausforderung „seit dem Zweiten Welt-
    krieg“, hat die Kanzlerin gesagt. Man muss
    daran denken, als Veronika Engl auf den
    Ordner mit den Kursunterlagen klickt. Als
    sie Wolfgang Borcherts „Das ist unser
    Manifest“ öffnet. Als sie anfängt zu lesen.
    Borchert schreibt von der „wahnwitzigen
    Welt“, von „Angst“ und „Hoffnung“. Es
    geht um den Krieg, nicht um eine Pande-
    mie, man darf das nicht zusammenwerfen.
    Aber natürlich stellt man sich jetzt vor, Abi
    2050, wie die Kinder dieser Kinder in der
    Schule sitzen. Und lernen, wie das war, da-
    mals, in der seltsamen Corona-Zeit.
    Später, am Telefon, wird Lehrerin Laho-
    da erzählen, wie „formidabel“ das sei mit
    dem Homeschooling, wie motiviert die Abi-
    turienten. Aber auch, wie froh sie wäre, wie-
    der normal zu unterrichten. Und Veronika
    Engl? Sitzt nach der Deutschstunde im Gar-
    ten, Knie angezogen, Kopf auf den Armen:
    „Es nervt.“ Sie meint nicht den Online-Un-
    terricht, der laufe gut. Sie meint die Prüfun-
    gen, die jetzt verschoben wurden. Sie hat
    Schiss, dass das Lernen kein Ende nimmt.
    Dass das Abi wieder und wieder verlegt
    werden könnte. „Man weiß nicht: Lernt
    man für Mai oder lernt man für Septem-


ber?“ Im Herbst will sie eigentlich Mathe
studieren. Und Wirtschaft. Sie will Steuer-
beraterin werden. „Man macht irgendwie
weiter“, sagt Engl, „aber man weiß nicht
mehr, für was.“
Sonntag, 22. März, Schulleiter Meidin-
ger erzählt am Telefon die Neuigkeiten.
Die Putzfrau sei bei ihm ins Büro geplatzt.
Ganz aufgeregt. Sie habe gefragt, was in
der Turnhalle los sei. „Alles voll mit Feld-
betten“, sagt Meidinger. Der Landrat hat
die Betten bringen lassen, ohne Bescheid
zu sagen. Eine Notfallmaßnahme, falls Kli-
niken keinen Platz mehr haben für die
Corona-Patienten. Er wisse nicht, wie er
das den Eltern und den Schülern erklären
soll, wenn die Schule wieder öffnet, sagt
Meidinger: „Eine Riesenturnhalle mit 200
Infektiösen. Und daneben geht der Schul-
betrieb weiter.“
Zwei Tage später, Dienstag, 24. März.
Die Bildungsministerin in Schleswig-Hol-
stein will die Abi-Prüfungen in ihrem Land
komplett streichen. Ihre Idee, für alle Län-
der: Die Noten der letzten zwei Jahre sollen
den Abischnitt bilden. Kurz davor haben
Hamburger Abiturienten eine Online-Peti-
tion gestartet. Mit dem gleichen Ziel: ein
Durchschnittsabitur. Man kann zuschau-
en, wie der Balken auf der Homepage klet-
tert und klettert. Bald sind es fast 120000
Unterschriften. Die Schulrepublik ist in
Aufregung.
Am Mittwoch schalten sich die 16 Kultus-
minister eilig zusammen, Telefonkonfe-
renz. Abi ohne Prüfung? Schnapsidee, ein
„Schnellschuss“, sagt Michael Piazolo, Bay-
erns Kultusminister, dessen Chef Markus
Söder zurzeit schneller schießt, als andere
Länderchefs ihren Revolver ziehen können.
Die Bayern reden ja gern über das Niveau
ihres Abiturs. Ein Abi wie alle anderen? Nie-
mals. Eineinhalb Stunden dauert die Tele-
fonschalte. Am Ende zieht die Ministerin
aus dem Norden zurück, war ja nur ein Vor-
schlag. Die Prüfungen sollen stattfinden.

Ist damit alles gut? „Die Unsicherheit
bleibt“, sagt Schulleiter Meidinger, „es
heißt ja immer nur Stand jetzt, Stand jetzt.
Alles kann sich noch ändern.“
Donnerstag, 26. März, Anruf bei Veroni-
ka Engl. Sie sitzt am Laptop, gleich ist wie-
der Deutschstunde. Sie ist froh, dass das
Abi nicht geplatzt ist. „Manche sagen: Abi
ohne Prüfung? Geil.“ Aber ein Abi ohne Prü-
fung „hat keinen Wert“, sagt Engl. „Die Co-
rona-Krise wird vorbeigehen, aber das Abi,
das keins ist, das bleibt dann.“ Und jetzt?
Abwarten, weiterlernen, sagt sie. Man kön-
ne ja eh nichts tun gegen die Unsicherheit.
Außer vielleicht Ideen sammeln, für ein
neues Abi-Motto, das tun die Deggen-
dorfer Abiturienten gerade. Götter,
Olymp, das passt einfach nicht mehr. In
der Whatsapp-Gruppe des Jahrgangs hat
jemand „CoronAbi“ vorgeschlagen. Unter-
titel: „Zwölf Jahre Quarantäne“. Passt
irgendwie auch nicht, zu makaber. Sie
überlegen weiter.
Auch Veronika Engls Schwester sitzt ge-
rade zu Hause. Auch sie geht aufs Gymnasi-
um. Zehnte Klasse, dieses Jahr war Tanz-
kurs. Der Abschlussball ist abgesagt. Sie
hatte sich schon ein Kleid gekauft, dunkel-
rot, schulterfrei, mit Glitzer. Neulich habe
sie es angezogen, in ihrem Zimmer. „Sie
hat mir so leidgetan“, sagt Veronika Engl
über ihre Schwester. Und irgendwie auch
über sich selbst.

Theresa Sixt (rechts) fragt sich, wann sie Prüfungen schreiben,
dieDingeändern sich ständig. Veronika Engl (links) lernt
erst mal weiter, „aber man weiß nicht mehr, für was“.FOTO: GLA

DEFGH Nr. 73, Freitag, 27. März 2020 (^) DIE SEITE DREI HF2 3
Der Sommer ihres Lebens
Das Abitur und die Angst gehörten immer schon zusammen. Aber auch das war immer klar:
Danach beginnt die Freiheit. Jetzt ist alles anders. Ein Besuch bei denen, die warten
von andreas glas und anna günther
FOTO: MAURITIUS IMAGES / GLASSHOUSE
Virtueller Klassenraum. Gelächter
im Lehrerzimmer. Das System
ist am Morgen erst mal abgestürzt
Wie’s läuft? Gut, sagt der Direktor.
Da weiß er noch nicht, dass
die Turnhalle voller Feldbetten ist
Sie will kein Abi ohne Prüfung.
Corona wird vorbeigehen, aber
ein Abi, das keines ist, das bleibt

Free download pdf