Süddeutsche Zeitung - 27.03.2020

(ff) #1
Das Virus suchte William Albert „Bill“ Ack-
man imSchlaf heim. Ende Januar, so hat
er es im amerikanischen Börsenfernse-
hen erzählt, habe er eine Art Albtraum ge-
habt und eine Ahnung davon bekommen,
was den USA, was der Weltwirtschaft be-
vorsteht. Ackman, Hedgefonds-Manager
und Herr über Milliarden Dollar, bereitete
sich auf den Shutdown vor, den die USA
und mit ihnen die Weltwirtschaft in die-
sen Tagen erleben. Er hob einen höheren
Bargeldbetrag ab. Er organisierte Heimar-
beit für seine etwa fünfzig Mitarbeiter,
die sonst in Midtown-Manhattan die Ge-
schäfte des Hedgefonds Pershing Square
Capital steuern. Und: Er zweigte 27 Millio-
nen Dollar ab, um seinen Fonds gegen die
Katastrophe abzusichern.
Das hat sich gelohnt. 2,6 Milliarden Dol-
lar hat Ackman mit dieser Absicherung ge-
gen den Corona-Kurssturz verdient – ein
Gewinn von mehr als 9500 Prozent inner-
halb weniger Wochen. Der gesamte Fonds
machte im März ein Plus von bisher fast
acht Prozent. Das ist schon in normalen
Zeiten sehr viel bei einem Portfolio von
insgesamt mehr als sechs Milliarden Dol-
lar. In Zeiten eines historischen Börsen-
crashs ist es atemberaubend.
Ackman hatte mit speziellen Kreditde-
rivaten für die Krise vorgesorgt: Mit Wert-
papieren, die sich dann lohnen, wenn be-
stimmte Indizes aus Unternehmensanlei-
hen sinken – wenn also unterschiedlichs-
te Firmen in Zahlungsschwierigkeiten ge-
raten. In normalen Zeiten sind solche Pa-
piere nicht besonders teuer. Ackmans ris-
kante Wette war so angelegt, dass sie sich
nur bei einer Krise der gesamten Wirt-
schaft wirklich lohnen konnte. Aber sie
ging auf, denn genau das passiert ja gera-
de: Die Corona-Krise stürzt Unternehmen

aus fast allen Branchen gleichzeitig in
Not. Nur so lässt sich der extreme Wertzu-
wachs der Papiere erklären.
„Es gab eben einen Weg, sich fast risiko-
los abzusichern“, sagte Ackman in einem
Interview mit dem US-Sender CNBC. „Wä-
re die Welt stabil geblieben, hätten wir et-
wa 25 Millionen Dollar in einem Monat
verloren. Und wenn nicht, hätten diese Si-
cherungsgeschäfte unser gesamtes Port-
folio geschützt.“
Ackman ist eine Ausnahme, weil er als
einer der wenigen über seine Gewinne
spricht. Während überall auf der Welt die
Börsenkurse abstürzten, fast einen gan-

zen Monat lang, war allen am Kapital-
markt klar: Irgendwo da draußen gibt es
einige, die gerade absurd viel Geld verdie-
nen. Es sind Fälle dokumentiert von US-
Senatoren, die Aktien verkauften nach ge-
heimen Briefings mit Vertretern der Re-
gierung. Es gab die Nachricht, dass der bri-
tische Investor Crispin Odey 115 Millionen
Pfund mit dem Corona-Crash verdient
hat. Aber verglichen mit Bill Ackmans Mil-
liarden verblasst so ziemlich alles.
Dabei war es um den 53-jährigen Inves-
tor recht still geworden. Er hatte sich aus
dem Rampenlicht der Kapitalmärkte zu-
rückgezogen, zu viele Misserfolge und
mehrere verlustreiche Jahre in Folge hat-
ten seinen Ruf beschädigt. Für jemanden,
der als sogenannter aktivistischer Inves-
tor öffentlichkeitswirksam Firmen an-
greift, um daraus Profit zu schlagen, ist
das eine schwere Niederlage. Dann, in al-
ler Stille, schaffte er voriges Jahr ein
Comeback, machte mehr als 58 Prozent
Gewinn und seine Firma wieder zu einem
der erfolgreichsten Hedgefonds der Welt.
Aber erst als die Gefahr durch das Virus
in den USA immer größer wurde, meldete
er sich wieder zu Wort. Ackman schien
zum Hobby-Epidemiologen geworden zu
sein, wie so viele. „Mr. President“, schrieb
er am 18. März auf Twitter, „die einzige
Antwort ist es, das Land für 30 Tage abzu-
schalten und die Grenzen zu schließen.“
Jeder Tag der Verzögerung koste bei expo-
nentieller Ausbreitung Tausende, bald
Hunderttausende Leben, und zerstöre die
Wirtschaft. Ackman dagegen hat mit den
fatalen wirtschaftlichen Folgen des Virus
bisher eine Menge Geld verdient. Und was
er mit diesem Geld jetzt anstellt, das hat
er auch schon verraten: Er hat sich mit Ak-
tien eingedeckt. jan willmroth

HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEURE:
Kurt Kister, Wolfgang Krach
NACHRICHTENCHEFS:
Iris Mayer, Ulrich Schäfer
AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
INNENPOLITIK:Detlef Esslinger (komm.)
SEITE DREI:Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
Nicolas RichterKULTUR:Andrian Kreye, Sonja Zekri
WIRTSCHAFT: Dr. MarcBeise
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PANORAMA:Felicitas Kock, Michael Neudecker
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Zamdorfer Straße 40, 81677 München

von claus hulverscheidt

M


ehr als drei Millionen neue Ar-
beitslose in nur sieben Tagen –
das Fünfzehnfache einer norma-
len Woche, das Vierfache des bisherigen
Rekords: Wenn sich noch jemand gefragt
haben sollte, wie groß die ökonomischen
und sozialen Verwerfungen wohl sein
werden, die das Coronavirus in den USA
anrichtet, dann hat er jetzt die Antwort.
Millionen Menschen verlieren ihren Job,
ihren Halt, ihre wirtschaftliche Existenz.
Und anders als in Deutschland kann sich
niemand auf ein soziales Netz verlassen,
das den Sturz ins Bodenlose verhindert.
Schlimmer noch: Wer in den USA ent-
lassen wird, steht oft nicht nur ohne Job
da, sondern auch ohne Krankenversiche-
rung. Arbeitslosenhilfe gibt es nur für ei-
nige Wochen und auch nur in geringer Hö-
he. Sind die meist spärlichen privaten
Rücklagen aufgebraucht, droht Armut.
Die Regierung hat nach langen Bagatel-
lisierungsversuchen erkannt, dass die Co-
ronakrise die Wirtschaft und das rudi-
mentäre Sozialsystem des Landes vor die
größte Herausforderung seit fast 100 Jah-
ren stellt. Entsprechend hektisch wird
nun versucht, das fehlende soziale Netz
durch ein Bündel an Einzelmaßnahmen
zu ersetzen. Die Arbeitslosenunterstüt-
zung wird ausgebaut, Erwachsene erhal-
ten 1200 Dollar vom Finanzamt, Firmen,
die auf Entlassungen verzichten, müssen
staatliche Kredite nicht zurückzahlen.
All die Beschlüsse sind sinnvoll – eine
fehlende Grundstruktur können sie aber
nicht ersetzen. Trotz des vereinbarten
Zwei-Billionen-Dollar-Hilfspakets wird
es weiter Millionen Menschen in den USA
geben, die ohne Krankenversicherung,
ohne Lohnfortzahlung im Krankheitsfall,
ohne Arbeitslosengeld dastehen. Viele co-
ronainfizierte Selbständige und Vertrags-
arbeiter werden weiter arbeiten gehen,
weil ihnen sonst der Ruin droht.

Der Verzicht auf ein echtes Sozialsys-
tem in den USA ist die Kehrseite dessen,
was viele Amerikaner unter Freiheit ver-
stehen. Wer die Freiheit hat, eine Firma
zu gründen, einen Beruf zu wählen, reich
zu werden, der trägt nach dieser Lesart
umgekehrt auch die Verantwortung da-
für, wenn die Firma in Konkurs geht, der
Job wegfällt oder das Konto überzogen
ist. Selbst Krankheit ist vor diesem Hin-
tergrund Privatsache, vielleicht frönte
der Betroffene ja Lastern oder war ein-
fach nicht fromm genug. Warum, so der
Gedanke, sollte der Staat, die Allgemein-
heit, für derlei Fehlverhalten einstehen?

Das Coronavirus legt nun die ganze Ab-
surdität dieses Gedankenkonstrukts of-
fen. Es fragt nicht, wie viel Geld man ver-
dient, wer wie oft gebetet und welche Ent-
scheidungen jemand getroffen hat. Es be-
fällt Millionäre und arme Schlucker, Aske-
ten und Hedonisten, Christen und Atheis-
ten. Niemand ist sicher, selbst wer alle
Ratschläge der Experten zu befolgen ver-
sucht, hat es nicht in der Hand, ob er oder
sie sich nicht doch irgendwo ansteckt.
Das Virus macht Gesunde krank, bringt
Beschäftigte um ihren Job, zerstört Exis-
tenzen. Wer, wenn nicht der Staat, sollte
in einer solchen Situation gefordert sein?
Politiker, die eine Lohnfortzahlung bei
Krankheit, eine Basis-Krankenversiche-
rung à la AOK, einen angemessenen Min-
destlohn oder Regeln für die Kündigung
von Beschäftigten verlangen, werden in
den USA oft als Sozialisten beschimpft.
Das Coronavirus macht nun deutlich:
Wenn von einem Mindestmaß an sozia-
lem Schutz die Rede ist, dann geht es
nicht um Sozialismus. Es geht um ein
Menschenrecht.

von detlef esslinger

H


ält der Deich?Um nichts anderes
handelt es sich ja bei all den Be-
schränkungen, die die Regierun-
gen den Bürgern auferlegt haben. Dessen
Festigkeit muss sich nun erweisen: gegen
die Versuche des Virus, ihn zu überwinden;
aber auch gegen den menschlichen Geist,
der bereits überall die Lücken und Ritzen
sucht. Nach Ostern müsse die Wirtschaft
„schrittweise“ wieder hochgefahren wer-
den, verlangt der CDU-Politiker Carsten
Linnemann. Zu der Zeit müssten wir sogar
„die Kurve gekratzt haben“, findet der bay-
erische Wirtschaftsminister Hubert Aiwan-
ger. Was fehle, sei „ein Plan für den Aus-
stieg“ aus den Beschränkungen, moniert
der Ökonomie-Professor Gabriel Felber-
mayr. Die Kontaktsperren währen keine
Woche, und noch kann man wegen der
14-tägigen Inkubationszeit gar nicht wis-
sen, ob und wie sie greifen, da reicht es vie-
len allmählich schon. Zum Zu-Hause-Rum-
sitzen sind die Menschen nicht gemacht;
die meisten jedenfalls nicht.
Gerade deshalb bleibt es richtig, dass
die Regierungen hier so rigoros vorgegan-
gen sind. Nur so war allen Menschen der
Ernst der Lage klarzumachen; nur so konn-
te auch eine Minderheit vor ihrer eigenen
Unverantwortlichkeit geschützt werden;
nur so konnte auch die Zeit gewonnen wer-
den, die man in den Krankenhäusern zur
Vorbereitung braucht. Wer jetzt ausschließ-
lich im Kopf hat, dass Fabriken, Schulen,
Restaurants und Stadien bald wieder auf-
machen, der hat in den vergangenen drei
Wochen nicht richtig zugehört. Der nimmt
nämlich in Kauf, dass das Virus nach Os-
tern den nächsten Anlauf unternimmt. Es
würde dann auf seine Weise dafür sorgen,
dass Fabriken, Schulen, Restaurants und
Stadien schnell wieder schließen, jeden-
falls menschenleer sind; an Rigorosität ist
es Jens Spahn oder Christian Drosten ganz
bestimmt deutlich überlegen.

Heißt dies, dass man sich darin zu fü-
gen hat, dass der gegenwärtige Zustand
noch monatelang so weitergehen muss?
Mit der Konsequenz, dass danach jeder
Wirt pleite und jede Zwei-Zimmer-Woh-
nungs-Ehe zerstört sein wird? Dass es kei-
ne Fußgängerzonen mit Geschäften mehr
geben wird, dafür aber immer größere La-
gerhallen von Amazon und Zalando? Das
wäre das Szenario, das viele befürchten: ei-
ne Gesellschaft, in der die Arznei mindes-
tens so viele Verheerungen angerichtet
hat wie die eigentliche Krankheit.

Niemand kann dies anstreben. Doch
ein solches Szenario verhindert man
nicht, indem man nun blind mit dem Kopf
durch den Deich will. Man verhindert es –
hoffentlich –, indem man die Testkapazi-
täten deutlich ausbaut, indem man auf
diese Weise das Virus und seine Verhal-
tensweisen besser kennenlernt und in-
dem man auf dieser Basis überlegt, wel-
che Beschränkungen wann in welcher
Form gelockert werden können. Erste Vor-
schläge dazu gibt es: Besondere Einkaufs-
zeiten für Risikogruppen einführen, Men-
schen mit Vorerkrankungen in Rehaklini-
ken und Hotels unterbringen, Fußballtrai-
ning in der C-Jugend oder jeden dritten
Tisch im Restaurant zulassen, und so wei-
ter. Wem derzeit ein „Plan für den Aus-
stieg“ fehlt, der möge daran mitarbeiten;
niemandem wird so viel einfallen wie al-
len zusammen.
Was es hingegen noch lange nicht ge-
ben wird: Fußball im gut gefüllten Stadi-
on, Oktoberfest und Olympische Doping-
spiele. All dies wird erst dann wieder mög-
lich sein, wenn ein Impfstoff gefunden ist.
Abgesehen von manchen Ausrichtern
dürfte dies längst jedermann klar sein.

E


twa 3,6 Millionen Menschen leben
in Pflegeheimen oder werden zu
Hause gepflegt. Viele von ihnen
sind betagt und gebrechlich, ihr Leben
hängt auch ohne Infektion mit Covid-
oft nur noch an einem seidenen Faden. Er-
klärtes Ziel der Ausgangsbeschränkun-
gen war, genau diese Menschen zu schüt-
zen. Denn Senioren sind durch das Virus
besonders gefährdet.
Der Erfolg der drastischen Maßnah-
men steht allerdings infrage, wenn Heime
bei der Verteilung von Schutzausrüstung
vernachlässigt werden, wie deren Betrei-
ber, Pfleger und Patientenschützer uniso-
no beklagen. Natürlich brauchen Ärzte
und Krankenhäuser Schutzausrüstung.


Doch Bund und Länder sind in der Pflicht,
für Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen.
Denn Pfleger sind ebenso systemrelevant.
Ihre Kinder werden in Schulen und Kitas
weiter betreut, damit ihre Eltern an ihrem
Arbeitsplatz zur Verfügung stehen. Auf
dem Weg dorthin sind sie einem erhöhten
Ansteckungsrisiko ausgesetzt.
In den Heimen werden zwar alle Hygie-
nemaßnahmen, soweit es geht, umge-
setzt. Doch ist es wegen Personalmangels
nicht immer möglich, Pfleger nur auf ei-
nem Stockwerk oder nur mit einer Kolle-
gin arbeiten zu lassen. Fällt aber Personal
wegen Covid-19 aus, führt das zum Kol-
laps. Und all das wegen zu wenigen Mas-
ken? edeltraud rattenhuber

I


sraels Oppositionsführer Benny
Gantz hat mit einem Überraschungs-
manöver sein vor einem Jahr ge-
schmiedetes Parteienbündnis Blau-Weiß
gesprengt. Er ließ sich gegen den Wider-
stand seiner Partner auf Benjamin Netan-
jahu ein. Seine Erklärung, er wollte damit
eine vierte Wahl in Israel innerhalb eines
Jahres verhindern, reicht als Begründung
für diesen weit reichenden Schritt nicht
aus. Was ist der Preis dafür?
Gantz ließ sich selbst durch die von Ne-
tanjahu betriebene Einschränkung der Ge-
waltenteilung, indem dieser die Knesset
und Gerichte lahmgelegt hat, nicht ab-
schrecken. Mit seiner Kandidatur als Par-
lamentspräsident erfüllte er eine Bedin-


gung Netanjahus und ebnete den Weg für
eine große Koalition in Israel.
Wechselt Gantz in eine Regierung un-
ter Netanjahus Führung, dann bricht der
Spitzenkandidat des blau-weißen Bünd-
nisses sein zentrales Wahlversprechen:
Nie werde er in einer Regierung mit einem
Angeklagten sitzen, behauptete Gantz wie-
derholt. Für viele war dieses Versprechen
das zentrale Wahlmotiv. Sollte sich Gantz
tatsächlich auf eine auf drei Jahre angeleg-
te Notstandsregierung einlassen, dann er-
möglicht er dem wegen Korruption ange-
klagten Netanjahu sogar noch Immunität


  • durch den Wechsel vom Amt des Minis-
    terpräsidenten in das des Staatspräsiden-
    ten. alexandra föderl-schmid


A


ls „Koalition der Hoffnung“ ist das
vor gut 50 Tagen in Kosovo gebilde-
te Regierungsbündnis angetreten.
Doch nun sind all die Hoffnungen zersto-
ben, die viele Menschen in der jungen und
fragilen Republik in den Regierungschef
Albin Kurti gesetzt hatten. Zu Fall ge-
bracht wurde der 45-Jährige durch ein
Misstrauensvotum im Parlament in Pristi-
na – vor allem aber auch durch ein weltpo-
litisches Ränkespiel im Hintergrund.
Denn die Fronten in diesem Machtkampf
gehen nicht nur quer durchs Amselfeld,
sondern auch mitten durch das westliche
Bündnis.
Die Kosovaren hatten bei der jüngsten
Parlamentswahl auf Kurti gesetzt, weil er


ihnen den Kampf gegen die Korruption
und den Filz der alten Kriegsfürsten aus
der früheren Befreiungsarmee UÇK ver-
sprochen hat. Die USA jedoch haben ganz
andere Prioritäten in der Region: Sie wol-
len die Erzfeinde Serbien und Kosovo zu ei-
nem schnellen Abkommen bewegen, auf
dass der Ruf des Präsidenten Donald
Trump als Friedensstifter durch den ame-
rikanischen Wahlkampf hallt.
Kurti jedoch zeigte sich widerspenstig
gegenüber Washington – und er zahlt da-
für nun mit dem Machtverlust. Die Euro-
päer konnten diesem üblen Spiel in ihrem
Hinterhof nur machtlos zuschauen. Trau-
rig ist das für Kosovo, und traurig auch für
die EU-Außenpolitik. peter münch

D

ie Briten sind stolz auf ihren
„Blitz Spirit“ – auf Wider-
standsgeist und Überlebens-
mut während des deutschen
Bombardements im Zweiten
Weltkrieg. Im Wahlkampf hatte Brexit-
Premier Boris Johnson diesen Geist wie ei-
ne Corporate Identity beschworen, die es
wiederzuentdecken gelte; er versprach in
einer grotesken Verkehrung von Ursache
und Wirkung, das Land werde sogar einen
No-Deal-Brexit meistern und in neuer
Größe daraus hervorgehen.
In der Corona-Krise ist es erneut der
„Blitz Spirit“, der die Briten einen soll. Kri-
tiker wie der Historiker Richard Overy ver-
weisen allerdings darauf, dass einst auch
Fatalismus und Schlamperei zu dem bei-
trugen, was später ein Mythos werden soll-
te. Menschen hätten sich ohne Not gefähr-
det und weiter in Pubs getrunken, wäh-
rend die Bomben fielen. Manch einer habe
sich lieber stoisch unter eine Union-Jack-
Flagge gesetzt und abgewartet, als sich in
einen der eilig gebauten Bunker zu flüch-
ten. Overy nennt das „defiantly British“ –
Nationalstolz, gepaart mit Trotz.


In der kaputtgesparten Alltagswelt ist
von einem sozialfürsorgerisch geprägten
Gemeinsinn wenig übrig; als Antwort auf
das Coronavirus wird er nun reaktiviert.
DieTimesschwadroniert vom „stillen He-
roismus“ der Bevölkerung. Das ist vorerst
pathetischer Unsinn; wahr ist aber, dass
sich 500000 Freiwillige gemeldet haben,
um im Gesundheitssystem auszuhelfen.
Ansonsten schien das Verhalten vieler
Briten zuletzt von jener Überzeugung
geprägt zu sein, die Historiker auch
1940/1941 auf der Insel beobachteten:
Das Schicksal lasse sich durch Vorsicht
nicht beeinflussen. Am vergangenen Wo-
chenende, als in Südeuropa Hunderte star-
ben und die Briten daheimbleiben sollten,
gingen etliche shoppen und wandern. Bis
heute schafft es das Kabinett nicht, zu er-
klären, für wen welche Regeln gelten. Vie-
le halten sich weiterhin nicht daran.
Downing Street hat sträflich lange ge-
braucht, um in den echten Krisenmodus
umzuschalten. Mit dem Festhalten am
international kritisierten Modell der Her-
denimmunität, der schnellstmöglichen
Ansteckung und Immunisierung von Mil-
lionen, sollten – zumal in Brexit-Zeiten –
Wirtschaft und Freiheit geschützt wer-
den. Die neoliberal geprägte Ethik von
Johnson und seinem exzentrischen Chef-
berater Dominic Cummings basiert dabei
auf den Schriften britischer Philosophen


wie den Utilitaristen Jeremy Bentham
und John Stuart Mill: Moralisch richtig
sei, was eine möglichst große Zahl an Men-
schen glücklich macht. Das grenzt, zumal
in Krisenzeiten, an puren Populismus, ge-
mischt mit Arroganz. Welche zivilisierte
Nation hätte alle Alten und chronisch
Kranken für drei Monate unter Hausar-
rest stellen und sich selbst überlassen wol-
len, während die Jüngeren ihren Alltag le-
ben – in der Hoffnung, dass es schon nicht
so schlimm kommen wird?
Was Mediziner sagten, interessierte lan-
ge nicht. Johnson, überzeugt vomBritish
Exceptionalism, musste umlernen: Zu
lange hatte die Brexiteers-Truppe in Dow-
ning Street, die nicht nach Kompetenz,
sondern nach Gefügigkeit in der Brexit-
Frage zusammengestellt worden war,
überheblich behauptet, das Land habe ge-
nug von Experten. Erst als immer mehr
Fachleute Chaos und Leid prognostizier-
ten, kippte die Stimmung. In einem Punkt
setzt sich die Hybris weiter fort: Johnson
will nicht eingestehen, dass das Brexit-Da-
tum nicht zu halten und ein Handelsver-
trag mit der EU nicht machbar ist. Brexit
in Zeiten von Corona – welch ein Plan.
Großbritannien liegt wegen politischer
Versäumnisse und Entschlusslosigkeit
bei der Eindämmung der Seuche nun Wo-
chen hinter anderen Staaten zurück. Da-
bei ist bekannt, wie ausgezehrt und unter-
finanziert der NHS, der National Health
Service, seit vielen Jahren ist. Schon in nor-
malen Grippewintern gibt es Horrorbilder
aus den Krankenhäusern. Erst jetzt läuft
die Notversorgung an, die eigentlich Prä-
vention hätte sein sollen. Dabei wird man
den Verdacht nicht los, dass es immer
noch um Freund-Feind-Denken nach
dem Brexit-Schema geht: Einen Großauf-
trag für den Bau zusätzlicher Beatmungs-
geräte bekam jetzt EU-Austritts-Fan
James Dyson. Ansonsten wird nun der le-
gendäre Civil Service eingespannt, Unter-
nehmen stellen ihre Produktion um, das
Militär soll helfen. Vieles riecht immer
noch nach Chaos und Flickwerk. Johnson
selbst ist dabei bisweilen ein Risiko: Er
kann komplexe Zusammenhänge nicht
eindeutig kommunizieren, vielleicht will
er es auch nicht. Das Parlament pausiert
derweil – offiziell aus Vorsicht – und über-
lässt der Regierung das Feld.
Sicherheitsexperten sind mit Recht wü-
tend, weil Warnungen ignoriert wurden.
Sie sind viel skeptischer als Johnson, der
Pessimisten verachtet und immer noch
nicht glaubwürdig in die Rolle des Staats-
mannes gefunden hat. Spätestens wenn
es Versorgungsprobleme gebe, warnen
sie, würden Aufstände ausbrechen. Dann
könnte ein anderer britischer Philosoph
recht behalten, Thomas Hobbes: Der
Mensch ist des Menschen Wolf.

„Diese Welt zerfällt, überall
Krisen oder Krieg“, singt die
BandAntilopen Gang, und
das passt natürlich gerade
zur Stimmung. Das Lied „Piz-
za“ will aber Hoffnung stiften, denn: „Es
klingelt an der Tür, dann kommt der Lie-
ferant“ – und er bringt endlich genau das
Abendessen, das nach einem auszehren-
den Tag gefragt ist: eine Pizza („die heili-
ge Scheibe, die alle vereint; die Weisheit
der Menschheit, gebacken in Teig“). Viele
Restaurants, die nun geschlossen sind,
liefern noch Essen aus – und verdienen
so trotz leerer Tische wenigstens noch et-
was Geld. Auch diese hart von der Corona-
Krise getroffenen Gastronomen setzen ih-
re Hoffnung in die Pizza (oder Pasta oder
Curry oder Dim Sum). Wenn sie keinen ei-
genen Lieferdienst organisieren, nutzen
sie in der Regel Lieferando. Das sind die
Fahrer mit den orangenen Jacken. Der
Konzern hat in Deutschland mittlerweile
quasi alle Konkurrenten aufgekauft oder
zum Aufgeben gezwungen. Gegründet
hat die Firma ein Niederländer, dort
heißt sie Takeaway.com. Voriges Jahr hat
der Konzern zum ersten Mal seit dem
Börsengang einen Gewinn vor Steuern er-
zielt. Der Umsatz von Lieferando in
Deutschland stieg 2019 um 145 Prozent.
Die Restaurants müssen Lieferando ei-
nen Teil des Geldes abgeben. Und wem
eine Pizza nicht reicht: Viele Buchhändler
liefern mittlerweile auch. bbr

4 HF2 (^) MEINUNG Freitag,27. März 2020, Nr. 73 DEFGH
FOTO: ANDREW HARRER/BLOOMBERG
USA
Die Armutsfalle
AUSGANGSBESCHRÄNKUNGEN
Es reicht noch nicht
PFLEGEHEIME
Gleicher Schutz für alle
ISRAEL
Versprechen gebrochen
KOSOVO
Aus der Traum
sz-zeichnung: burkhardmohr
GROSSBRITANNIEN
Schicksalsfragen
von cathrin kahlweit
AKTUELLES LEXIKON
Lieferdienste
PROFIL
William Albert
Ackman
Wettkönig
von der
Wall Street
Manche Amerikaner setzen
Sozialstaat und Sozialismus
gleich – das rächt sich nun
Wem ein „Plan für den
Ausstieg“ fehlt, der möge an
einem mitarbeiten
Die Brexit-Fans schmähen gern
Experten. Auch deshalb wurden
Forscher nun erst spät gehört

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