Süddeutsche Zeitung - 27.03.2020

(ff) #1
interview: jana stegemann

D


er Landkreis Heinsberg an der nie-
derländischen Grenze ist in
Deutschland das Gebiet, das von Co-
rona am meisten betroffen ist: mehr als
1000 Infizierte, 28 Tote. Durch die Krise
führt die 250 000 Einwohner: Stephan
Pusch (CDU) aus Hückelhoven, 51 Jahre, ur-
sprünglich Rechtsanwalt, Landrat seit
2004, fünf Kinder, bisher dreimal negativ
auf das Virus getestet.

Herr Pusch, wie sieht derzeit ein normaler
Tag bei Ihnen aus?
Stephan Pusch: Um 6 Uhr wache ich auf.
Dafür brauche ich keinen Wecker, meine
Gedanken kreisen dann schon so um die La-
ge, dass ich einfach wach bin. Ich kippe ei-
nen Kaffee runter, meine Frau hat mir da
schon den Anzug parat gelegt. Ich fahre
dann zum Kreishaus, bespreche mich mit
dem Krisenstab, sondiere die Presselage,
bereite unsere Krisenstabssitzung vor. Die
kann bis zu zwei Stunden dauern. Im An-
schluss dann Telefonate und Öffentlich-
keitsarbeit und so weiter.

Und Sie schreiben Chinas Präsident Xi.
Die Idee kam mir, nachdem vor zwei Wo-
chen eine Delegation von chinesischen Ge-
schäftsleuten bei uns im Landkreis war.
Die hatten bei ihren Firmen gesammelt,
brachten uns palettenweise Atemschutz-
masken vorbei. Und dann war da das
Schild im Netz, eine Fotomontage.

Was war darauf zu sehen?
Ein Ortsschild von Heinsberg, und darun-
ter stand: Partnerstadt von Wuhan. Das
war bestimmt nicht nett gemeint, das war
als Stigmatisierung gedacht: Ihr seid
schuld, dass das Virus jetzt auch in den um-
liegenden Kreisen auftritt – und so wurde
es hier auch verstanden. Da dachte ich, den
Menschen im Kreis Heinsberg geht’s wie
denen in Wuhan: Sie werden auch noch
stigmatisiert. Dann kam mir der Gedanke,
dass die Chinesen mit uns solidarisch sind,
weil sie genau wissen, was es bedeutet, stig-
matisiert zu werden. Ich habe mir im Inter-
net die Adresse der chinesischen Botschaft
in Berlin rausgesucht, den Pressesprecher
angerufen und ihm gesagt: Gleich kommt
ein Schreiben vom Kreis Heinsberg. Der
war ein bisschen verdattert.

Darin baten Sie Peking um Hilfe bei
Schutzmaterial. Warum der offene Brief?
Ich muss nicht aus Eitelkeit die ganze Zeit
mein Gesicht in Kameras halten, aber ich
habe in diesen Tagen gelernt, dass so was
wie ein offener Brief mediale Aufmerksam-
keit erzeugt. Mir ist es ein Anliegen, unsere
Heinsberger Erfahrung mit dem Rest
Deutschlands zu teilen. Allen verständlich
zu sagen, was hier passiert, was man tun
kann, um durch die Krise zu kommen. Wir
sind ja Tage voraus. Aber ich möchte auch,

dass unser Gesundheitssystem im Kreis,
unsere drei Krankenhäuser bestmöglich
versorgt sind. Dafür nutze ich jetzt auch
ein bisschen schamlos die Aufmerksam-
keit aus, das sage ich ganz offen. Wenn ich
hier als kleiner Landrat noch nie Laut gege-
ben hätte, dann würden weder die Bundes-
wehr noch die Chinesen anrücken.

Erst hatte die Bundeswehr ein Hilfege-
such aus dem Kreis Heinsberg abgelehnt,
Sie appellierten an die Verteidigungsmi-
nisterin. Soldaten leisteten doch noch Not-
hilfe und lieferten Schutzkleidung, die
aber nur für ein paar Tage reichte.
Man kann sich kaum vorstellen, was da am
Tag an Stückzahlen durchrauscht. Wir
brauchen täglich 1400 von den FFP2-Mas-
ken, 3840 Kittel und 5200 Mund- und Na-
senschutzmasken. Wir hangeln uns von

Tag zu Tag. Ein ganzer Stab von Leuten ist
seit vier Wochen damit beschäftigt, das In-
ternet und alle möglichen Quellen zu
durchforsten, um an Material zu kommen.
Außer auf dem chinesischen Markt ist
nichts mehr zu bekommen, nur langsam
bessert sich die Situation. Ich weiß nicht,
ob das allen Verantwortlichen wirklich
klar ist. Die normalen Versorgungssyste-
me funktionieren nicht mehr. Es ist bitter,
dass wir uns als Krisenstab neben unse-
rem Hauptanliegen, das Virus einzudäm-
men, auch noch seit Wochen um die Materi-
albeschaffung kümmern müssen.
Und China schickt jetzt Masken?
Mich hat sehr schnell der Generalkonsul
aus Düsseldorf angerufen. Sie würden ger-
ne helfen, hat er gesagt. NRW und Deutsch-
land haben da ja auch wochenlang Materi-
al hingeschickt. Er würde gerne etwas zu-

rückgeben. Ich hoffe, das sind nicht nur
Lippenbekenntnisse.
Warum hat die NRW-Landesregierung so
zögerlich reagiert?
Meine Theorie, warum das alles so lange
dauert, ist mittlerweile: Die örtlichen Kri-
senstäbe und das operative Geschäft sind
alle auf der untersten Ebene bei den Krei-
sen und Gemeinden angesiedelt. In so ei-
ner Krise muss man aber auch auf Landes-
und Bundesebene operativ arbeiten, finde
ich. Das hätte ich mir früher gewünscht.
Wir haben auch erst nach zahlreichen Bit-
ten und vielen Telefonaten erreicht, dass
die Bezirksregierung Köln sich um die Ver-
legung von Intensivpatienten aus unseren
Krankenhäusern gekümmert hat. Im Kreis
Heinsberg haben wir in den drei Kliniken
nur 25 Beatmungsplätze. Am Anfang hat
es noch geklappt, dass umliegende Unikli-

niken unsere anderen Intensivpatienten
aufgenommen haben, dann nicht mehr.
Wir haben immer wieder adressiert: Leute,
es geht um ein landesweites Verlegema-
nagement, da kommt was auf uns zu, wir
können nicht jeden Einzelfall besprechen
und immer wieder betteln. Wir brauchen
in so einer Lage ein zentrales Management
von Klinikkapazitäten. So was kann nur ei-
ne Landesregierung planen.

Merken Sie eine Verlangsamung der Neu-
infektionen? Sie hatten ja schon eine Wo-
che vor Bund und Ländern eine „Aus-
gangssperre light“ verhängt.
Der Kreis Heinsberg hat gerade nur noch ei-
ne Zunahme von fünf Prozent pro Tag. Das
ist schon eine deutliche Verlangsamung,
während in ganz NRW die Neuinfektionen
exponentiell zunehmen. Wir haben mittler-
weile 334 Gesundete, und unserem Patien-
ten der ersten Stunde geht es auch deutlich
besser, der muss nicht mehr beatmet wer-
den. Das sind gute Nachrichten. Man darf
jetzt nur nicht aufhören. Das habe ich der
Bevölkerung auch eben noch mitgeteilt.

Ich mache ja täglich ein kleines Video, mitt-
lerweile schauen auf unserer Facebook-
Seite 400 000 Leute zu. Wie so ein kleiner
Lokalsender. Auf die Idee hat mich meine
Frau gebracht. Seitdem lehnen wir ein Han-
dy gegen ein Wasserglas auf meinen
Schreibtisch, im Hintergrund immer der
Förderturm, dann spreche ich ein paar Mi-
nuten, darauf freue ich mich schon immer.

Was kann man von Heinsberg lernen?
Erstens: das Virus auf keinen Fall unter-
schätzen. Zweitens: mit italienischen Ver-
hältnissen planen und sich jeden Tag die
Frage stellen, was können wir jetzt noch
tun, um das zu vermeiden? Drittens: Infi-
zierte von Nicht-Infizierten strikt trennen,
um das normale Gesundheitssystem nicht
zu gefährden. Arztpraxen und Kranken-
häuser von Testverfahren entlasten, gut or-
ganisierte Teststationen einrichten. Vier-
tens: früh Masken und Kittel beschaffen.
Fünftens: die Beatmungskapazitäten erhö-
hen. Sechstens: die Bevölkerung informie-
ren, direkt und klar verständlich.

Schaffen es die Heinsberger durch viel In-
formation einfacher durch die Krise?
Ja, alles, was die Solidarität stärkt, hilft.
Mitgefühl ist unser einziges Medikament,
solange wir keinen Impfstoff haben. Ich
glaube, die Menschen ertragen es nur,
wenn sie das Gefühl haben, es betrifft mich
nicht allein, alle Menschen machen diese
Einschränkungen gerade durch.
Herr Pusch, was machen Sie als Erstes,
wenn das Schlimmste überstanden ist?
Ich glaube, erst mal nix. Kennen Sie das Lo-
riot-Männchen, das immer wieder von sei-
ner Frau gefragt wird, was es macht. Und
es antwortet: Ich will hier einfach nur sit-
zen. So stelle ich mir das vor.

„Außer auf dem chinesischen
Marktist nichts mehr
zu bekommen, nur langsam
bessert sich die Situation.“

„Ich mache täglich ein kleines
Video,mittlerweile schauen
auf unserer Facebook-Seite
400 000 Leute zu.“

Berlin– Kürzlich hat das Land Schleswig-
Holstein seinen neuen „Nährstoff-Be-
richt“ vorgelegt, er war alles andere als be-
ruhigend. Gerade in Regionen des Landes,
in denen es viel Tierhaltung gebe, habe
sich das Problem übermäßiger Düngung
in den vergangenen Jahren nicht ent-
spannt. „Im Gegenteil ist eher ein schwach
gegenteiliger Trend (...) erkennbar“, schrie-
ben die Gutachter.
Diesen Freitag wird sich der Bundesrat
mit einer neuen Düngeverordnung befas-
sen, sie soll europäisches Recht umsetzen



  • 28 Jahre nach Erlass einer entsprechen-
    den EU-Richtlinie zum Schutz von Gewäs-
    sern. Dutzende Änderungsanträge haben
    die Länder eingereicht, der Bund hat sie
    fast alle abgelehnt – immer auch mit Ver-
    weis auf die EU-Kommission.
    Deutschland steht unter Druck: Die
    Kommission hat mit Erfolg den Europäi-
    schen Gerichtshof bemüht und will nun Ta-
    ten sehen. Haarklein ist die Neuregelung
    deshalb mit Brüssel abgestimmt. Sollte sie
    nicht bis April verabschiedet sein, dann
    droht erneut eine Klage, diesmal auf Fest-
    setzung von Strafen gegen den Bund; es
    geht um bis zu 850 000 Euro pro Tag. „Die
    Bundesregierung sieht keinen Spielraum“,
    heißt es in einer Stellungnahme des Bun-
    des an die Länder, „weder beim Zeitplan,
    noch für Abweichungen von den dem Bun-
    desrat vorliegenden Maßnahmenvorschlä-
    gen.“
    In dem Konflikt steht Gülle gegen
    Grundwasser: Vor allem in Regionen mit
    viel Tierhaltung landet zu viel Gülle auf
    Äckern und Weiden. Das führt, zusammen
    mit anderem Dünger, zu übermäßigen Ni-
    trat-Konzentrationen im Grundwasser.
    Künftig sollen „rote Gebiete“ bestimmt
    werden, in denen besonders viele Gülle-
    und Düngerrückstände im Grundwasser
    sind. Bauern in diesen roten Gebieten sol-
    len auf ihren Betrieben 20 Prozent weniger
    Dünger verwenden. Das löst Widerstand
    aus, zuletzt zu sehen bei den Traktor-De-
    monstrationen in vielen deutschen Städ-
    ten: Die Landwirte fürchten Einbußen bei
    ihren Erträgen. „Der aktuelle Vorschlag ist
    unausgegoren“, kritisierte jüngst Bauern-
    präsident Joachim Rukwied. Der Bundes-
    rat solle den Punkt besser von der Tages-
    ordnung streichen.
    Einigen Druck allerdings macht auch
    die Wasserwirtschaft, die mit dem belaste-
    ten Grundwasser zu kämpfen hat. „Nie-
    mand kann mehr sagen, wir brauchen
    mehr Zeit für die Umsetzung“, sagt Martin
    Weyand, Geschäftsführer beim Branchen-
    verband BDEW. Erste Wasserwerke prüf-
    ten schon ihrerseits Klagen: wegen der Kos-
    ten, die ihnen durch erhöhte Nitrat-Kon-
    zentrationen entstehen. Selbst die neue
    Verordnung werde dem Ernst der Lage
    nicht gerecht. „Im Grunde ist sie schon ver-
    altet, wenn sie in Kraft tritt“, sagt Weyand.
    Auch Umweltverbände und Biobauern
    drängen auf strenge Regeln.
    Stattdessen aber bringt nun das Corona-
    virus womöglich sogar noch einen Auf-
    schub; viele Länder hatten dies verlangt. In
    Brüssel wollen sich Umwelt- und Agrarmi-
    nisterium nun dafür einsetzen, dass die
    „roten Gebiete“ erst vom nächsten Jahr an
    gelten müssen. Bei jener EU-Kommission,
    deren Geduld nach 28 Jahren schon längst
    am Ende ist. michael bauchmüller


„Mitgefühl ist unser einziges Medikament“


Stephan Pusch (CDU), der Landrat von Heinsberg, zieht Lehren aus den ersten Wochen der Corona-Krise –
und berichtet, was ihm Chinas Generalkonsul an Hilfe in Aussicht gestellt habe. Mit dem Krisenmanagement von Bund und Ländern hadert er

Hannover– Die Evangelische Kirche in
Deutschland (EKD) hat einen neuen
Militärbischof berufen. Wie das Kir-
chenamt am Donnerstag mitteilte, soll
der frühere EKD-Bevollmächtigte Bern-
hard Felmberg zum 1. Oktober in das
Amt wechseln. Der bisherige Militärbi-
schof Sigurd Rink soll nach sechsjähri-
ger Amtszeit ausscheiden und Bürolei-
ter bei Diakonie-Präsident Ulrich Lilie
werden. Felmberg war wegen des Vor-
wurfs mehrerer Affären 2013 aus dem
Amt des EKD-Bevollmächtigten geschie-
den, der die Kirche gegenüber der Bun-
despolitik vertritt. Ein damals von der
EKD eingeleitetes Disziplinarverfahren
wurde eingestellt. epd


Hamburg– In Hamburg haben SPD
und Grüne den für kommende Woche
geplanten Start der Koalitionsverhand-
lungen wegen der Corona-Pandemie
erneut verschoben. Ein konkreter Ter-
min zur Aufnahme der Gespräche kön-
ne derzeit nicht festgelegt werden, teil-
ten SPD und Grüne am Donnerstag mit.
Der Start werde so lange ausgesetzt, bis
die wesentlichen Senatsvertreter von
der aktuellen Lage nicht mehr so bean-
sprucht würden wie gegenwärtig, hieß
es. dpa


Berlin –Mehrere Sozialverbände haben
die Bundesregierung aufgefordert, die
Mutter-Kind-Vorsorge- und Rehabilita-
tionskliniken in den Corona-Rettungs-
schirm aufzunehmen. In dem von der
Bundesregierung am Mittwoch verab-
schiedeten Krankenhausentlastungsge-
setz werden zwar allgemeine Rehabilita-
tionskliniken unterstützt, aber nicht
Rehabilitations- und Vorsorgekliniken
für Mütter und Väter, kritisierte etwa
das Deutsche Müttergenesungswerk.
Es sei überhaupt nicht nachvollziehbar,
warum hier mit zweierlei Maß gemes-
sen werde. kna


Berlin– Sie sind nicht von der Bildfläche
verschwunden. Aber die Oppositionsfrakti-
onen im Bundestag haben Mühe, sich noch
Gehör zu verschaffen in einer Zeit, in der
die Exekutive das Geschehen bestimmt
und der Bundestag auf Notbetrieb herun-
tergefahren ist. Jede nimmt die neue Rolle
auf ihre Art wahr.

AfD


Die mit 89 Sitzen größte Oppositionspartei
erlebt eine schwierige Phase. In der Corona-
Krise ist es für die AfD schwer, mit ihren
Methoden – provozieren, spalten, Ängste
schüren – Gehör zu finden. Das Thema
Flüchtlinge lässt sich derzeit nicht instru-
mentalisieren, auch wenn sie davon nicht
lassen und etwa Partei- Chef Jörg Meuthen
vor Einreisen von Asylbewerbern warnt.
Die Regierung dominiert die Nachrich-
ten, mit ihrem „Fünf-Punkte-Programm“
gegen die Krise findet die AfD in der Debat-
te um Rettungskonzepte nicht statt. Am
Mittwoch stimmte ihre Fraktion im Bun-
destag für die Rettungsbeschlüsse der Re-
gierung oder enthielt sich. Doch aus ihren
Reihen ist zu hören, dass einige ein schärfe-
res Profil wollen. Ihre Spitzen suchen nach
einer eigenen Linie: Es mache keinen Sinn,

die Zahl der Corona-Infizierten auf Kosten
möglicher Suizide zu senken, sagte Frakti-
onschef Alexander Gauland im Bundestag
zu den Ausgangsbeschränkungen; Einrei-
sekontrollen seien zu spät gekommen. Die
Regierung habe keine Exit-Strategie für
die Zeit nach dem Shutdown. Es brauche
nun einen starken Nationalstaat.
Vor allem aber hat man gerade mit sich
zu tun. Der Verfassungsschutz stufte den
„Flügel“ um Björn Höcke als rechtsextrem
ein, die Umfragewerte sinken, sie sind
nicht mehr alle zweistellig. Allerdings geht
in der AfD auch Hoffnung auf eine noch
stärkere Rückkehr um. Ihre Stunde werde

schlagen, wenn die Unzufriedenheit we-
gen der Wirtschaftskrise wachse und es
mehr Arbeitslose gebe, heißt es aus der
Bundestagsfraktion.

FDP


Neulich hat auch Thomas Kemmerich wie-
der von sich hören lassen. Es sei nun Sache
des „Gesetzgebers, Entschädigungen für
von Betriebsschließungen infolge der Coro-
na-Krise betroffene Unternehmen und Be-
triebe einzuführen“, forderte der Fraktions-
vorsitzende der FDP im Thüringer Land-
tag. Die Wortmeldung zeigt, wie viel sich
auch für die Liberalen verändert hat. Wenn
vor ein paar Wochen in der Partei von „Kri-
se“ die Rede war, dann war Kemmerich ge-
meint. Seine Wahl zum Ministerpräsiden-
ten mit Stimmen der AfD hatte die Partei
an den Rand des Abgrunds geführt; wovon
nun keine Rede mehr ist. In der Corona-Kri-

se trägt die FDP ähnlich wie Grüne und Lin-
ke die Einschnitte im täglichen Leben eben-
so mit wie die Milliardenprogramme zum
Schutz von Wirtschaft und Arbeitneh-
mern. Man sei über „informelle Formate,
Telefonkonferenzen und Gespräche“ ein-
gebunden, lobt Fraktionsgeschäftsführer
Marco Buschmann. Er betont, dass man
durchaus eigene Akzente habe setzen kön-
nen – etwa durch das Pochen auf Parla-
mentsrechte beim Infektionsschutzge-
setz. Es schlage nun „die Stunde des Staa-
tes“, sagte FDP-Chef Christian Lindner im
Bundestag, warnte aber auch davor, dass
„irgendwann der ökonomische Schaden ir-
reparabel sein könnte“. Die FDP will jetzt
zeigen, dass sie in der Krise ihrer „staatspo-
litischen Verantwortung“ gerecht wird,
wie es der FDP-Bundestagsabgeordnete Jo-
hannes Vogel formuliert. Sie müsse, sagt
er, aber auch „im Blick haben, dass wirt-
schaftliche und gesellschaftliche Freiheit

gewahrt“ bleibe. Aufgabe der FDP sei es,
„auf die Bürgerrechte achten, auch in Kri-
senzeiten“.
Die Linke

Vieles von dem, was im Bundestag gerade
im Eilverfahren beschlossen wurde, klingt
nach einem Auszug aus dem kühnsten
Wunschzettel der Linkspartei: Abkehr von
der schwarzen Null, Milliardenhilfen für
Krankenhäuser, Kündigungsverbot auf-
grund von Mietschulden, Rettungspaket

für Solo-Selbstständige, die Aussetzung
der Vermögensprüfung bei Hartz-IV-Emp-
fängern, mögliche Beteiligungen des Bun-
des an Firmen in existenzieller Schieflage.
So viel starker Staat war selten. Bei den Lin-
ken versuchen sie, sich jetzt keine unange-
messene Genugtuung oder gar Besserwis-
serei anmerken zu lassen. Aber Fraktions-
chef Dietmar Bartsch sagt schon: „Ich neh-
me erstaunt zur Kenntnis, dass politisch
plötzlich Dinge möglich sind, die wir lange
fordern und für die wir vor wenigen Wo-
chen noch als die unseriösen Linken, die
nur Geld ausgeben wollen, abgetan wor-
den wären.“
Bartsch stellt aber auch fest, dass sich
die Umsetzung linker Positionen bislang
nicht in den Umfragewerten seiner Partei
widerspiegelt. Im Gegenteil. Erstmals seit
geraumer Zeit liegt die Linke wieder deut-
lich unter der Zehn-Prozent-Marke. Das
sei aber keine Überraschung, heißt es in
der Fraktion. Das Land befinde sich „in ei-
ner kurzen administrativen Welle“, von der
selbstverständlich die Kanzlerin profitie-
re. Mit der Bundestagswahl 2021 habe das
aber nichts zu tun, da werde Merkel ja
nicht mehr antreten. Spätestens wenn die
Personaldebatte um den CDU-Vorsitz wie-
der losgeht, so das Kalkül im linken Lager,
dürften sich auch die Umfragewerte der
Union „wieder normalisieren“. Bartsch
sagt: „Die Aufgaben der Opposition wer-

den nicht kleiner sein nach diesem außer-
ordentlichen Kraftakt.“

Die Grünen


Bis vor Kurzem konnten sie sich vor Auf-
merksamkeit kaum retten; nun sind die
Grünen über Nacht – gefühlt – im Abseits
gelandet. Stärkste Kraft zu werden in
Deutschland, womöglich ins Kanzleramt
zu gelangen, solche Hoffnungen wirken
mit einem Mal weit weg und seltsam irrele-
vant. Auch die Lieblingsthemen der Partei,
etwa die Erderhitzung, sind vorerst vom
Tisch. Ähnlich sieht es mit den Milliarden
aus, die die Grünen im Haushalt lockerma-
chen wollten für den ökologischen Umbau.
Das Geld ist zwar vorhanden und plötzlich
auch verfügbar – nur eben für Dinge, die
jetzt wichtiger sind: die Rettung von Leben
und Existenzen. Dass die Mittel in absehba-
rer Zeit in die Klimawende investiert wer-
den können, darf bezweifelt werden.
Irrelevant sei die grüne Agenda deshalb
nicht, heißt es in der Partei. Die Grünen, oh-
nehin längst staatstragende Partei, sehen
ihre Rolle vorerst an der Seite der Regie-
rung. Es sei nicht die Zeit der Konkurrenz,
sondern der Kooperation, sagte die Frakti-
onsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt im
Bundestag. Und wo das Thema Klima-
schutz vorerst entfällt, wird jetzt eben stär-
ker das Soziale betont. Die Grünen, die
sonst gern als privilegierter Haufen gelten,
wollen die Zusammenhaltepartei werden
in schwerer Zeit. Man habe sich erfolgreich
dafür eingesetzt, neben Kulturschaffen-
den und Solo-Selbständigen auch die Sozi-
alverbände unter den Rettungsschirm der
Bundesregierung zu nehmen, heißt es. Auf
der Agenda in der Coronakrise stünden
auch noch Hilfe für Hartz-IV-Familien, die
Grundrente sowie Prämien für Mitarbeiter
in Gesundheitswesen und Einzelhandel.
Um das Thema Flüchtlingshilfe hingegen
ist es eher noch stiller geworden als bisher
schon. Hier verspricht die Partei sich offen-
bar wenig Zuspruch.
markus balser, daniel brössler,
constanze von bullion, boris herr-
mann, jens schneider

6 HF2 (^) POLITIK Freitag,27. März 2020, Nr. 73 DEFGH
Die kühnsten Dinge aus dem
Wunschzettel der Linken
werden plötzlich wahr
Im Bundestag, mit Schutzhandschuhen am Smartphone: Christine Aschenberg-Dug-
nus(FDP) am Mittwoch. FOTO: MICHAEL KAPPELER, DPA
In manchen Umfragen ist die AfD
schon einstellig. Aber einige in
der Partei haben da eine Hoffnung
Das hätte er vermutlich nicht gedacht, dass sein Name und sein Gesicht in diesem Jahr so bekannt
werden würden. Darauf hätte er vermutlich aber auch gern verzichtet: Stephan Pusch, 51,
in der Feuerwache von Erkelenz, der größten Stadt im Kreis Heinsberg.FOTO: JONAS GÜTTLER, DPA
Neuer Militärbischof
Koalitionsgespräche vertagt
Kritik an Rettungsschirm
Weniger Gülle,
vielleicht
Bundesratsoll neue Düngeregeln
billigen, die Bauern protestieren
INLAND Und die jetzt?
Krisenzeiten sind Regierungszeiten, die Opposition hingegen wird kaum noch wahrgenommen – wie die vier Fraktionen versuchen, im Schatten mitzuhalten

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