Frankfurter Allgemeine Zeitung - 27.03.2020

(Greg DeLong) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton FREITAG,27. MÄRZ2020·NR.74·SEITE 13


E


sgibt kaum jemanden, dergleich-
zeitighispanophil und italophil ist.
Kaum jemandlerntSpanisch und
nebenbeiauchnochItalienisch,fast nie-
mandfährtimUrlaub mal auf dieeine
Halbinsel und das nächste Mal auf die an-
dere. Undwer den spanischen Fußball
liebt,findetden italienischen scheußlich,
wasumgekehrtnatürlich genausogilt. Des-
wegenkann dieFrage, woher der beste
Schinken derWelt kommt, nur inPolemik
enden. Dennes steht außer Zweifel, dass
allein Spanien und Italien als Herkunfts-
länder zur Debattestehen.
Ohne nationalistischsein zu müssen,
können wir alle anderenKandidaten leich-
tenHerzens aussortieren,weil sie zwarex-
zellentsein mögen, aber nicht an den Aro-
menpurismus der bestenSchinken Spa-
niens oder Italiens heranreichen. Der Jam-
bon des Ardennes wirdzwarwie alle Spit-
zenqualitäte ngepökelt und luftgetrocknet,
aber eben auchüber Buchenholzgeräu-
chert. Dasselbe gilt für den Schwarzwälder
Schinken, der mitWacholder gewürz twird
und außerdem keinegeschützteHerkunfts-
bezeichnungkennt–für dieAbermillio-
nen Keulen, die jedes Jahr produziertwer-
den, gibtesnicht annäherndgenug Schwei-
ne im Schwarzwald.Auch der Bayonner
Schinken, der seittausend Jahrenfast un-
verän dertimfranzösischen Baskenland
hergestellt wird,verweiger tsichdem rei-
nen Schinkengeschmack, weil dieKeulen
mit Piment d’Espeletteeingeriebenwer-
den, einer ursprünglichaus Mexikostam-
menden Chili-Sorte,die dem Bayonner
Schinken seinefeine Schärfe gibt.Und der
Chiromeriaus ZypernwirddreiMonate
lang inRotweingebeizt undgeräuchert, da-
durch die purpurneFärbung.
Ganz andersist das beimParma-Schin-
ken, bei dem jedes Detail der Herstellung
genaue stensgeregelt ist. DieSchweinewer-
den mit Getreideund Parmesanmolke
gefüttert und nachneun Monaten mit 140
Kilog ramm Lebendgewicht geschla chtet.
Die Keulen reibt man sparsam mit Meer-
salzein,wasdem Parmaseinen milden Ge-
schmackverleiht, lässt sie dann ein bis
drei Jahrelang reifen und brennt ihnen
schließlich nachbestandener Qualitätsprü-
fung die fünfzackigeKrone des Herzog-
tums Parmaals Gütesiegel ein.
Allerdings istParma-Schinken mit
neun Millionen produzierter Keulen pro
Jahr ein Massenprodukt, so dassKenner
lieber auf seinenvornehmen Cousin San

Danielezurückgreifen. Er kommt aus
dem gleichnamigen DorfinFriaul, in
dem die trockene Alpenluftund die
feuchtwarmenWinde vonder Adriaauf-
einandertreffen, wasideal für dieTrock-
nung ist. San Daniele istfür uns eindeutig
der beste Schinken Italiens–aber nicht
der Welt, denn es gibt ja nochSpanien.
Nurder Jamón Ibérico erfüllt alleVor-
aussetzungen, um dieKönigskrone des
Schin kenreichs tragen zu dürfen, wobei
nicht der Jamón de Guijuelo aus Salaman-
ca, nicht der Jamón deTeruel aus Arago-
nien und auchnicht der Serrano deTrevé-
lez aus den Alpujarrasder beste Ibérico
ist, sondernjener aus der Kleinstadt Jabu-
go in derwestandalusischen Pr ovinz Huel-
va.Vier geschützteHerkunftsbezeichnun-
gengibt es, die berühmteste und beste ist
dem Jabugovorbehalten und an einer
schwarze SchlaufeamSchinken zu erken-

nen.Serrano is tübrigenskeine verlässli-
cheQualitätsauskunft, denn meisthandelt
es sic hdabei um Industrieschinkenvon
Stallschweinen.
DieCerdo Ibéricos deBellotalaufen hin-
gege neinganzesJahrlangfrei in derDehe-
sa umher, den li chtenWälder naus Stein-
undKorkeichen,legen dabei zwölf Kilome-
teramTag zurück,bekommenso einkräfti-
ges, nicht zufettes Muskelfleis ch und fres-
sen täglichsechsbis zehn Kilo Eicheln, die
auf Spanisch„bellotas“ heißen.Oft finden
sichauf vie rhunder tHektarWaldnur hun-
dertTiere, die mit einemGewicht zwi-
schen 140 und 180 Kilogeschlachtetwer-
den;deutschenIndustrieschweinen geht es
hingegenschon nach sechs Monaten mit
120Kilo an denKragen,weil di edeutschen
Kunden mageres Fleisch mitmöglichstneu-
trale mGeschmackbevorzu gen. DieKeu-
len werden dann ingrobem Meersalz gepö-

kelt un dmindes tens ein Jahrlang vom
Windgetrocknet,wobeidie bestenQualitä-
tenumein Vielfaches längerinden Tro-
ckenhäusernhänge n. Dabeiverliertder
Schin kenbis zu fünfzigProzentseine sGe-
wicht sund bildetaußen eineSchimmel-
schicht, die ihnvorKeimenschützt und
zumSchlussmit Oli venölabgerieben wird.
Belohnt wird diese Mühe miteinem
WunderanGeschmacksreinheit.Der Ja-
món Ibérico de Bellotaistzartundkraftvoll
zugleich, dasFett hat sichwie feine Mar-
moradernindas Fleischeingelagertund
schmeckt nichtfaserig, sondern schmilzt
auf der Zunge.Unddas Reifen in allerRuhe
sorgt dafür, dass derSchinken mürbe ist,
statt beimAufschneiden zu schwitzen –
man greifteine Scheibemit den Fingern,
und kaum Fett bleibtanihnenzurück.
Den Bestender Besten, den wir noch
nichtkosten durften und der angeblich
feinste AromenvonToastund Trocken-
früchten hat, soll derkatalanische Züchter
Eduardo Donatoaus seinen Manchados
de Jabugo herstellen, einervomAusster-
ben bedrohtenRasse. Auffünf Hektar Flä-
cheine inem BiosphärenreservatinHuel-
va können sie sichaustoben und nehmen
dabei regelmäßigLehmschlammbäder,
um Parasitenloszuwerden. Sechs Jahre
lang reifen die nur achtzigSchinken, die
Donatopro Jahr produziertund für 4100
Europro Stückverkauft–ein stolzer,aber
wohl nicht übertriebener Preis für einen
Schinken, der auf der Biofach in Nürnberg,
der führendenFachmesse für ökologische
Nahrungsmittel, als bestesBioprodukt der
Welt ausgezeichnetwurde.
Sollte ndie italophilenParma-Verehrer
jetzt lautstark Protesteinlegen, könnte
mansichzur Güteauf einenganzanderen
Kandidatenverständigen: den Jinhua,den
König unter Chinas Schinken,der sei tder
Tang-Dynastie hergestelltwird. DerLegen-
de na ch fanden zwei hungrige Dorfbewoh-
nerverendete Schweine, die nach einem
Hochwa sser unter einerSchicht ausSalz
undSandlagen,kosteten ihrFleischund
warenverblüf ft,wie vorzüglic hesschmeck-
te.Der berühmteMarschall Zhongze,der
ausJinhuastammte,nutzt eden Schinken
alshaltbarenProviant fürseine Armeen
und schickte die allerbestenExemplare
dem Kaiser nach Peking, de rihn „denfeu-
errote nSchinken“ nannte.Dem Verneh-
men nachsollder Ge schmackdes Jinhua
starkanJamónIbéric odeBellota erinnern
–na also. JAKOB STROBELYSERRA

Er wirdsie nie mehr loswerden und will
das bestimmt auchnicht :seine „Fallenbil-
der“. Siegelangten zurvollen Blüte, als
der Künstlervon1968 bis 1972, zusam-
men mit dem GastwirtCarlo Schröter,
sein Restaurant „Spoerri“inDüsseldorf
am Burgplatzführte.Entsprechend ei-
nem erweiter tenBegriff vonRealität, den
Daniel Spoerri in seinemgesamtenSchaf-
fenbefördert,ranken sichumdas Lokal
Mythen ungewöhnlichsterSpeisen, die
dortauf denTischgekommen sein sollen.
Die Wirklichkeit sahvermutlich so aus,
dassdas Essgeschehen nicht nurgelegent-
lichinRichtung Gelageging. Der Hauch
vonnachbarschaftlichmachbarer Anar-
chie du rchwehteden weiland Zeitgeistoh-
nehin.Für Spoerri, der als Erfinder der
Eat Artgilt, wardiese zelebrierte Ent-
grenzunggewissdas Ziel. Dennwasvom
Mahl übrig blieb,richt eteerzujenen As-
semblagen an, die ihn berühmt machten.
Die Fallenbilder funktionieren, bei al-
lem sichtbaren Chaos, nacheinem klaren
Prinzip. Spoerrifixierte die abgegessenen
Reliktevon solchen Dinnerpartysmit

Klebstoffauf derTischplatte. Dann klapp-
te er dieganze Chose–die Teller mit den
Essensresten, die halbausgetrunkenen
Gläser,das herumliegende Besteck,die
Kippen im Aschenbecher–ind ie Vertika-
le. Mankönnte das Ergebnis Tafelbilder
im Wortsinn nennen, dreidimensionale
Stillleben zum Hängen an derWand.
Dass sie,wenngleichnicht astrein,auf
Marcel Duchamps Begriffdes Ready-
madesaufruhen, liegt auf der Hand, und
derUmgang mitvorgefundenenMateria-
lienhatteSaison. In schier unendlichen
Variationenmachten diese Arrange-
mentsKarriere, bis in diegroßen Mu-
seenhinein. Eine Erklärungfür ihr eBe-
zeichnung als „Fallen“ ist, dasssoein
Ausschnitt vergängliche rGegen wart als
ein „Verweile doch!“eingefangen,ver-
zeitli chtwerden sollte.
Das kann als Pioniergeistgelten, als ori-
ginellekünstlerische Aktion, auchimSin-
ne eines ins Soziale erweiter tenKunstbe-
griffs.Die Faszination für das Essen rührt
aber wohl auchvon Spoerrisentbehrungs-
reicher Kindheit her.Geboren wurde er

1930 imrumänischen Galati als Daniel
IsaacFeinstein. Sein jüdischer,zum Pro-
testantismuskon vertierterVater warMis-
sionar und wurde 1941vonrumänischen
Faschis tenumgebracht.Die Mutterfloh
mit sechs Kinderninihreschweizerische
Heimat.Dortadoptierte ihn sein Onkel
mütterlicherseits,vonnun an hieß er Da-
niel Spoerri.
Nach einer Ausbildung undkurzen Kar-
riereals Balletttänzerind er Schweiz ging
er nachParis und wurde 1960 Mitbegrün-
der des „NouveauRéalisme“,gemeinsam
mit JeanTinguely, Arman,François Du-
frêne, Raymond Hains, Yves Klein,
Jacques de laVilleglé und MartialRaysse.
Im Manifestder losen Gruppe unterFüh-
rung desKunstkritikersPierre Restany
stand: „NouveauRéalisme=nouvelles ap-
proches perceptives duréel.“
WährendYves Klein zu seinem „IKB“,
dem charakteristischen Blau seiner Bil-
der und Skulpturen und zu seinenPerfor-
mancesfand und Arman seine Bestim-
mung inKästen mit zertrümmertenOb-
jekten sah, gingen die „NouveauRéa-

listes“ Hains,Villeglé undRaysse voral-
lem mit in Schichten abgerissenen Plaka-
tenindie Kunstgeschicht eein. UndSpoer-
ri soll nochimselben Jahr inPariseben
sein erstesFallenbildgeschaf fenhaben,
im eher häuslichenFormat.Dabei ister
geblieben, in zunehmendenVerfeinerun-
genbis heute–eine Artzivilisatorischer
Prozess, mit immerweniger Geferkel, so-
garineigens für den Zweckinszenierten
festlichen Mahlzeiten.
Längsthält Spoerri sol cheMomente
der Mahlzeit auchinBronzengegossen
fest,die flüchtigeRealität in metallischer
Gestalt.Auf die wilden Aufbrüche der frü-
hen Jahre sieht man, im historischenAb-
stand, mit einergewissen Melancholie.
Dochesist nicht zu unterschätzen,was
die in guter GesellschaftgeteilteZeit –in
ihrer Stillstellung–als Wunschpotential
gemeinschaftlichen Erlebensfür uns in
der Gegenwart bedeutenkann, gespei-
chertindiesen Kunstwerken. Heutefeiert
Daniel Spoerri seinen neunzigstenGe-
burts tag, wir wünschen ihm einegelunge-
ne schöne Mahlzeit. ROSE-MARIAGROPP

GESCHMACKSSACHE


Wasvom Dinner übrig blieb–Daniel Spoerri,der Er finder vonEat Art, hat es inKunstverwandelt. FotoEugenia Maximova /Anzenberger/VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Verweile doch, du Mahlzeit!


Tafelbilder imWortsinn: DemKünstler Daniel Spoerrizum Neunzigsten


GlücklicheSchweine


im Korkeich enwald


D


er er steSchockscheint über-
wunden. Nichtwenigedürf-
tensichinden vergangenen
zehn Tagenwie in einemKa-
tastrophenfilmgefühlt haben, durchaus
beflügeltvoneiner gewissenLust am
Nervenkitzel und elektrisiertvon der
Pandemie-Angst, aber jetzt, sagtder Kul-
turwissenschaftlerFritz Breithaupt,feh-
le uns das Script, wie esweiter geht.Wir
treten in die zweite Phase der Corona-
Krise ein. Der Spannungsbogenflacht
ab, der Ausnahmezustand entwickelt
sicherstaunlichraschzur neuenNorma-
lität, dieRegeln des sozialen Miteinan-
derssind festgelegt.
Dazugehörtauch, wie vielvonwel-
chem Supermarktprodukt zukünftig
nachHause geschaf ft werden darf.Weil
unser Bewegungsradius innerhalbkür-
zesterZeit auf ein Minimum zusammen-
geschrumpftist,rückendie eigenen vier
Wände bedrohlichnäher.„Gefühle wie
Panik und Angstnehmen insgesamt
eher ab undweichenNervosität und Ge-
reiztheit.Jeder verfolgt dieNachrich-
ten, aber es gibt im Momentkeine dra-
matischenqualitativenVeränderungen,
sondernZahlenverschiebungen“, sagt
Fritz Breithaupt.
Der Auto rdes Bu chs„DiedunklenSei-
tender Empathie“ (2017) lehrtgerade
an der IndianaUniversity Bloomington.
Wasdie Ausbreitung des Coronavirus be-
trif ft,liegt Amerikaetwaeine Woche
hinter uns,steuertalso dramaturgisch
auf einen Höhepunktzu. Im medizinisch
schle chtgewappnetenNew York,dem
amerikanischen Epizentrum derEpide-
mie, verschärft sichdie Lagestündlich,
und Expertenbefürchten norditalieni-
sche Verhältnisse.Vorden Waffenläden
bildensichlangeSchlangen.

Wenn die Nervenblankliegen

Die Amerikaner decken sichjetzt mit je-
nen Warenein, die sie für überlebens-
notwendig halten. Die meistenWaffen-
käufer ,sagt Breithaupt, behaupteten,
sichnur für denschlimmsten Fallundge-
genPlünderer rüsten zuwollen. Das
mag stimmen, aberwaspassiert,wenn
viele Menschen sehr langeauf sehr en-
gemRaum eingebunkertsind wie bei-
spielsweiseinNew York?Oder die Kran-
kenhausplätze knapp werden? Kurz:
Wasgeschieht,wenn dieNerven blank-
liegen? In den letztenTagensei es häufi-
gerpassiert, dassFreunde undKollegen

Fritz Breithauptauf die Schulterge-
klopfthätten, symbolisch natürlich. „So
eine Kanzlerin wie Angela Merkel
brauchten wir jetzt auch“,riefen sie ihm
zu. Eine, die empathisch zum Volk
spricht, anstatt halbseideneBehauptun-
genüber Game-Changer-Qualitäten
vonMalaria-Medikamenten in dieWelt
zu posaunen oder zuversprechen, die
amerikanischeWirtschaf twerde bald
wiederflorieren.
Während Angela Merkelandas Mitge-
fühl sowie die Solidarität der Menschen
im Land appelliert,während sie instän-
dig darumbittet,imSinne der Schwächs-
tenund Verwundbarsten zu handeln,
nicht zu hamsternund einandermal wie-
der einen Brief zu schreiben, appelliert
Trumpandie Widerstandsfähigkeit je-
des einzelnen Amerikaners. „Angela
Merkelist es gelungen, den Menschen
im Kampfgegen Corona eine Rolle zuzu-
weisen, die das Miteinanderstärkt. In
Amerikagibt es diese Solidarität nicht“,
sagt Breithaupt.
Ohne ein halbwegs funktionierendes
Miteinander aberkann eskeine Empa-
thie geben. „Und die“, sagt Breithaupt,
der gewisskein Empathieverklärer ist,
„brauchen wir jetztstärkerdenn je.“

Auch,umdie katastrophalen,kaum ab-
sehbarenFolgen zu überstehen. Man
könntemeinen, dieTatsache, dassdie
Covid-19-Pandemie uns alle betrifft,lie-
ße uns enger zusammenrücken, schließ-
lichsitzen wir zumindestauf den ersten
Blickimselben Boot. InWahrheit aber
schwächtgenau das unsereFähigkeit,
mitzufühlen, dramatisch.
Sichvon de nNöten anderer berühren
zu lassen, funktioniertambesten aus
der sicherenPositionder Distanz her-
aus. EinUnglück, dassdie Mechanis-
men der Aufmerksamkeitsökonomie
lehrbuchhaftvorführteund weltweit ver-
meintlichempathischeReaktionen aus-
löste,geschah 2018 in einer thailändi-
schen Höhle. Diemedial maximal ausge-
schlachteteRettung der eingeschlosse-
nenJugendlichenundihresFußballtrai-
nersendete mit einem HappyEnd. Das
Mitfiebernwar vorAnfang an zeitlich
begrenzt, das machte es so leicht.Man
selbstwar weder betroffen, nochkonnte
manhelfen, also beobachteten vielevoy-
euristischdas ferneDrama undfieber-
tenmit.
Damit unser Innerstes be wegt wird,
mussdie Situation des andereneinen ge-
wissenReiz auf uns ausüben, unser In-
teresseweckenund dieLust am Drama
zumindestein bisschen befriedigen.
„Wenn wir alle in dergleichen Situation
sind, gibt es dieseNeugierde nicht“, sagt
Breithaupt. Wessen Existenz auf dem
Spiel steht –und das sind im Moment so
viele, dasseinen die schiereVorstellung
überfordert–,dem fehlt die psychische
Kraft, sichinandereeinzufühlen oder
garzuhelfen.

Ganz bei sichselbstangekommen

So schrumpftdie sogenannteund fürge-
wöhnlichgroßzügig mit Empathie be-
dacht eEigeng ruppe, zu der nochvor
kurzem nebenFamilie,Freunden, Be-
kannten auchArbeitskollegen und viel-
leicht dieNachbarschaftzählten, immer
weiter zusammen, bis man irgendwann
ganz bei sichselbstangekommen ist.
Spaziertman im Park, istjeder Fremde
plötzlich eine potentielle Gefahr,ein
möglicher Virusträger, vondem man
sichbesser fernhält.Wer hustet, macht
sichverdächtig. Schweißperlen auf der
Stirnkönnten auf Fieber hindeuten.
JedesNachbarschaftskonzert, jede Ein-
kaufshil fe,jedes angstfreie Miteinander
kann deshalbgarnicht genug gewürdigt
werden.
Bislang hat uns bereits der moderne
großstädtische Alltag abverlangt, das
Fremde fremd sein zu lassen.Wirstie-
genganz selbstverständlichinvollbe-
setzt eU-Bahnen, zwängten uns durch
engeSupermarktgängevorbei anFrem-
den, trainierteninFitnessstudios. Die-
ser alltäglichen Fremdheitserfahrung
wurden wir Herr, indem wir die Men-
schen einordneten. Dasfing bei dem
uns unbekannten Brötchenverkäufer an
und hörte bei der uns ingewisserWeise
doppeltfremden Burka-Trägerin auf,
die w ir weder kannten nochderen Ge-
sicht wir sahen.
„Ander sals beimEigenen“,soder So-
ziologeArmin Nassehi, sei es viel einfa-
cher,„Flüchtlingen und Migranten ein
Narrativ abzuluchsen,weil sie der perso-
nifizierte Unterschied sind,weilihr eAn-
dersartigkeit selbstdas Narrativ ist“.
Das war, weil diese Andersartigkeit oft
als bedrohlichwahrgenommen wurde,
schonvorder Corona-Krise für denge-
sellschaftlichenZusammenhalt proble-
matisch und hat sich, seit im Grunde je-
der bedrohlichwirkt, zugespitzt.
Ein Klima des Misstrauen sund der
Unsicherheit istGiftfür die Empathie.
Nähe entsteht bekanntlichauchda-
durch,dassman versucht, die Gefühle
im Gesicht des Gegenüberszulesen, ja
selbstsubtile Mikroausdrücke zu inter-
pretieren.Aufaufkommenden Emotio-
nen reagiertunser Gesicht schneller als
unser Bewusstsei n. Der Anthropologe
Paul Ekman hat zum Beispielfestge-
stellt, dassdie Veränderung der Lippen
eines der frühesten Anzeichen fürZorn
und interessanterweise bereits zu erken-
nen ist,wenn jemand nochnicht einmal
selbstbemerkt hat, dasserzornig ist. Im
Fokusindes stehen nunverräterische
Krankheitszeichen, solltedas Gesicht
des Gegenübersnicht ohnehinzur Hälf-
te voneiner Maskebedeckt sein.
Unddoch, sagtFritz Breithauptund
klingtdabei hoffnungsvoll,gebe es gera-
de jetzt eine unerwarteteEmpathiewel-
le. DieEmpfänger deskollektiven Mitge-
fühls sind die „neuenAlltagshelden“:
Krankenschwestern, Pflegekräfte,Ver-
käuferinnen,Ärzte,Paketboten. Sie, de-
rengroße Leistung für die Gesellschaft
bislanggeringgeschätzt wurde, bekom-
men endlichdie längstfälligeAnerken-
nung. In seinerNachbarschaftbeobach-
tetBreithauptimmer öfter,dassdie
Menschenstehen bleiben, über den Gar-
tenzaun hinwegmiteinander sprechen,
dankbarsind für die zugestelltePost.
„Wer jetzt in der Lageist,Empathie
mitanderen zu empfinden, rüstetsich
auchseelisch. Indem wir über uns hin-
ausblicken, klinkenwir uns in einengrö-
ßeren gesellschaftlichen Zusammen-
hang ein, und das istbereichernd.“
Dochauchdie neuen Helden des All-
tags können uns nicht aus dieser Krise
befreien. Jedenfalls nicht in absehbarer
Zeit. MELANIE MÜHL

Mitgefühl für


Alltagshelden


Parma,Ibérico,Ardennen,Bayonne:


Die Frage, welcher der beste Schinken derWelt ist,


wirdwohl niemals letztgültig beantwortetwerden


können.Wirmachen es trotzdem.


Mit Schusswaffen


gegenCorona? Der


Kulturwissenschaftler


Fritz Breithauptweiß,


warumessowichtig


ist, das Miteinander


zu festigen.


Fritz Breithaupt Fotoprivat
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