Frankfurter Allgemeine Zeitung - 27.03.2020

(Greg DeLong) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Medien FREITAG,27. MÄRZ2020·NR.74·SEITE 15


D


astanden sie, Schulteran
Schulter,amPodium:Donald
Trump, Vize MikePence,Bun-
desstaatsanwalt William Barr,Corona-
virus-Koordinatorin Deborah Birx
und der Chef desVersorgungseinsatz-
trupps,AdmiralJohnPolowczyk.Von
AbstandkeineRede. Erst als Dr .Birx,
Koordinatorinder Coronavirus-Ein-
dämmung, erklärte, warumsie zu vor
nichtdabeiwar („IchhatteleichtesFie-
ber, vermutlic heine Verdauungsge-
schichte, aberich binpenibel, ichbin
Ärztin“), rückteTrump im Scherzvon
ihr ab:„Oje.“ Solche Witzeleiensind
freilic hkaumgeeignet,den Amerika-
nernbeizubringen,dasRisikoernstzu
nehmen undder Empfehlung, Ab-
stand zu halten, zu folgen. Solchewi-
dersprüchlichen Signale unddie Halb-
wahrheiten,die der Präsidentverbrei-
tet, haben Journalistenzuder Forde-
rung veranlasst,die Briefings nicht
mehrlivezusenden. „Esgehtinzwi-
sche numLeben undTod“,schrieb der
Journalismus-ProfessorJayRosenvon
der NewYork University. „Wir mü ssen
bei der Berichterstattung über denPrä-
sidenten auf eine Notfalleinstellung
umschalten,umihn da vonabzuhalten,
Sie durchuns falschzuinformieren.“
In de r„WashingtonPost“forde rtedie
Medienkritikerin MargaretSullivan,
die Networ ks sollten dieÄußerungen
des Präsidenten zur Corona-Krise
nicht längerlivesenden, sondernmit
Verzögerung,die eineÜberprüfungsei-
ner Behauptungen ermöglicht .Zuletzt
hatt eTrump beteuert,das Malaria-Me-
dikamentChloroquinsei „enormviel-
versprechend“zur BehandlungvonCo-
vid-19.Ein Mannaus Phoenixstarb,
als er eineVarian te des Präparats ein-
nahm. Am Mittwochprofiliert esich
Trumpbei de rVorstellungeines Ret-
tungspaketsimWertvon zwei Billio-
nen Dollar,das nochnicht verabschie-
detist,als Retter einerherabg ewirt-
scha fteten Nation,die er vonseinem
Amtsvorgänger geerbt habe. Auf die
Frageeiner Reporterin,obdenn die
vonTrump avisiert e„Öffnung“ des
Landes zu Ostern aus Expertensicht
nichtverfrüht sei, nannteTrump sie
eine„Fake-News-Reporterin“ und
warf derPressevor,sie fordereeine
Wirtschaftskrise heraus,um seineWie-
derwahl zugefährden. Das Virus sei
im Land auf Krisenherdebegrenzt,an-
dersw okönnedie Wirtschaf tnormal
weiterlaufen. Trumps Briefings erzie-
len hohe Einschaltquoten.Die Net-
worksverzeichnen doppeltsoviele Zu-
schauer wie sonst, abergerade das be-
trachten Kritiker alsHindernis bei der
Eindämmungder Pandemie. DasWis-
senschaftsmagazin„Scientific Ameri-
can “befand,diePresse-EventsimWei-
ßenHaussorgten bloß fürVerwi rrung.
Am Montag übertrugenviele Sender
das fast zweistündigeBriefing nurzum
Teil. CNN undMSNBCverließen es
nachguteinerStunde. „DieInformatio-
nen schienennicht längervonWertfür
die wichtigeDebatt eumdie öf fentli-
cheGesundheitzu sein“, so MSNBC.
EineStation desöffentli chen Senders
NPR in Seattle, einervonder Pande-
mie schwergetrof fenen Region,ver-
kündetevia Twitter: „Wir werden die
Briefingsnichtliveübertragen,weil es
ein Musterfalscher oderirreführender
Informationen gibt, die nicht schnell
zu überprüfen sind.“Das Weiße Haus
kontert eauf Twitter sogleich:„Schänd-
lich, dass CNN undMSNBCsichaus
seiner Pressekonferenz mit Präsident
Trumpund MikePence während einer
globalenPandemieausklinkten. Dan-
ke,Fox News,für diekontinuierliche
Information derAmerikaner.“

Briefing


VonNina Rehfeld

Wozu dievielen Gläser?„Nach zwanzig
Jahre nDiasporaimKeller –eskommt nie-
mand“, prophezeit Kriminalrätin Dr.Eva
Maria Prohacek (Senta Berger) und hält ih-
reneinzigenMitarbeiter,AndréLangner
(RudolfKrause);vomÖffnenweiterer Sekt-
flaschenab. Morgensteht derTermi nmit
dem Polizeipräsidentenan, bei dem ihr
Chefund ewiger Widersacher,Dr. Claus
Reiter (GerdAnthoff),jovial den Ab-
schieds-Präsentkorb überreichen, dielauni-
ge Ansprache haltenund einmal mehr sei-
ne Fähigkeit der hinterfotzigen Schönred-
nerei unterBeweis stellenwird. Morgen
werden sic hdannzuverlässig alleKollegen
undPolitiker zeigen, am liebsten in derers-
tenSitzreihe,inder man es auchals vom
Volk gewählter Hinterbänkler in die
Münchner Lokalnachrichtenschafft.Aber
heute?Zum Privatumtrunkerscheint nie-
mand. „Bist’froh, dassDuSie lo sbist, die
alteKachel?“, fragtStaatssekretär Haber-
feldt(Michael Lerchenberg)ReiterimTrep-
penhaus desLandtags.Undwie. Allzuoft
hat sie inFällen, die bis in dieStaatskanzlei
reichten,Filz un dKorruption ans Lichtge-
bracht, hatpolitis cheIntrigen entlarvtund
dabei zwei Schlaganfälleweggesteckt.Nur
ihren Chef, demkonntesie zwar immer
wiede rkleine Schweinereien,aber nicht
die ganz großeSauerei beweisen. Nunist
Schluss,Finale. Odereher: Schlachttag.
Nach achtzehn Jahrenund neunund-
zwanzigFolgen sagt EvaMaria Prohacek,
dasschlechte Gewissen derMünchner Poli-
zei,nun servus. Als schle chtesGewissen,
nichtals reines Gewissen, dazuhätten
mehr Machtund mehr Durchsetzung qua
Stellunggehört.Immer wiederhat sic hdie
fürAmtsmissbrauchzuständigeKriminalrä-
tin,„Nestbeschmutzerin“vonBerufund Be-
rufung,mit ihrem MitstreiterLangner an ih-
renFällendie Finger verbrannt, seit sie mit
ihrem ersten Auftrittin„UnterVerdacht –
Verdecktes Spiel“den mutmaßlichenMord
an MartinaWeissaufklärenwollte. Jener
Frau, die in ihrem Hausverbrannte. IhrTod
kameinemInvestorenkonsortium sehr zu-
pass,welches dann auf ihrem Grundstück
dasWohnprojekt„Paradiesgarten“ verwirk-
lichenkonnte. Akten und Beweisefür Quer-

verbindungenverschwanden. Auf Proha-
cekwurdeeinMordansch lagverübt,der für
denAngreifer tödlichendete.Die Waffen
einer Frau, inklusiveStielkammzumHaare-
toupieren,unterschätzeman nicht. Bau-
amtsmitarbeiter Bangert(Heinz-Josef
Braun) gingals Bauernopfer ins Gefäng-
nis. Die anderenkamen davonund blieben
anonym.Aber der Verdacht blieb, fast
zwanzig Jahre lang. Die erste Folgevon
„Unter Verdacht“erhielt den Grimme-
Preis undden JulianeBartelMedienpreis.
Es bliebennicht die einzigen fürdie Serie,
die i nden be sten Folgen lupenreinerPolit-
thrillerund no ch in denweniger herausra-
genden gesellschaftlichrelevant war.
DieThemenreichtenvonParteispenden-
affären, Schwarzgeld und dubiosem City-
Maut-System überKarussell geschäfte, eu-
ropäisches Asylrecht,Siche rungsverwah-
rung,Leistungsbetrug in der Altenpflege,
mafiöse Strukturen in Bauunternehmen
bis zu denFolgen für die innereSicherheit
nach einemAtten tatauf dem Münchner
Oktoberfestund, in dervorerstletzten Fol-
ge 2018, zumThemaillegaleWaffenerpro-
bung imRahmen der Bundeswehr.Ge-
schriebenwurde dieFigur Prohacek für
Sent aBergerauf Anregungdes Produzen-
tenMario Krebs undder Redakteu rinElke
MüllervonAutor undRegisseurAlexander
Adolph, dem auchdie dreißigste undletzte
Folgegewidmetist.Das Vorbild sollte
Helen Mirrenin„Prim eSuspect“ sein, aber
mankonzentrierte sichauf ba yerische Tem-
peramentsfarben statt aufgroßstädtisches
Flair ,zweifellos einGewinn.
ZumSchlussschließt sichin„Evas letz-
terGang“ für die Kriminalrätinendlic hder
Kreiszum Anfangsfall(RegieAndreasHer-
zog, BuchStefan Holtz, FlorianIwersen).
Als sichvor denAugender Polizistin Sarah
(JuliaFranz Richter) ihrKollegeThomas
Weber (ThomasM. Meinhardt) amAbend
vorProhaceksletztem Arbeitstag in den
Kopf schießt, sieht es nacheinem Fall von
Suizidwegen psychischer Überbelastung
im Dienstaus.Jedenfalls sollessoa usse-
hen,suggeriertder Staat ssekretär demPoli-
zeipräsidentenReiter .AlsSarahverschwin-
det,gibtsichihrBruderLukas (AntonSpie-

ker) der internenErmittlerinzuerkennen:
Sie sind dieKindervonMartin aWeiss, die
damals,inder er sten Folge„Verdecktes
Spiel“ (2002,Regie FriedemannFromm),
verbrannte.
Weber,mit de mSarah eineAffärehatte,
warimZeugenschutztätig. Offenbarhatte
sie versucht ,über ihn an den nachseiner
Haftunter getauchten Bangertheranzukom-
men. Derlebtmit falscherIdenti tätnicht
schle chtund lädtdie Kumpanevon damals
(Friedric hvonThun,Michael Greiling, Hel-
mut Berger) zur Krisensitzung.Reiter soll
es wiederrichten.Zum Glück istdie „al te
Kachel“schon weg. Ehernicht :Statt si ch
im Supermarkt mit dem Pfandautomaten
vertraut zu machenoder dieVitalküche zu
lernen, lässt die Verhörspezialistin nichtlo-
cker.Während Prohacekund Langnerdem
Anwalt auf die Spurkommen, deralleZah-
lunge nabwickelt, wir dSarah Weissertrun-
kenaufgefunden.Sie is tangeblich vonder
Brücke gesprungen.
Schimanskiflog einfach davon, Matula
spazierte über eineFrankfurter Brücke in
den Sonnenuntergang, für Bella Blockkam
es ganz dicke. BeiEva MariaProhacek, die
so viel kriminelle Hinterfotzigkeit ertragen
musstewie sonstkeineKriminalerfigurim
Fernsehen ,und tr otzzunehmenderVerbit-
terung immerweitermachte–zu Langner
„wersoll es sonsttun?“ –. könnte sichin
der finalenFolge„Evas letzter Gang“zum
Abschie dendlic hGenugtuung einstellen.
„UnterVerdacht“ hat auf immer wieder
hochspannend unterhaltende Weise ge-
zeigt, dass ohne Kontrolle derVolksvertre-
terdas Gemeinwesen vordie Hundegehen
kann. In dreißigFolgen, deren Problemla-
gensich kein einziges Mal wiederholten.
SentaBergerhat ihr er Figur selbstinder
VerbitterungSchlupflö cher der Motivation
und Unbeugsamkeit gegeben. Aufgeben
gilt nicht.Erlösungshoffnungzählt nicht.
Aber manchmal ergibtretrospektivgenau
das RichtigeSinn. HEIKEHUPERTZ

Das ZDF zeigtvonUnterVerdachtdie erste
FolgeVerdecktes Spielin derNachtvonFrei-
tagauf Samstag um 1.05 Uhr.Die letzteFolge
Evas letzter Gangam Samstag,20.15 Uhr.

Acht große Mobilfunkanbieter, darunter
die Deutsche Telekom, Vodafone und
Orange, haben sichbereiterklärt, ihre
Ortsdaten der EU-Kommission zurVerfü-
gung zu stellen.Vertreterder Konzerne
trafen mit EU-Industriekommissar Thier-
ry Breton zusammen. Es soll sichuman-
onymisierteund aggregierte Massendaten
handeln, die nurRückschlüsseauf große
Bewegungsströme erlauben.Wissenschaft-
ler de rEU-Kommission sollen damit Algo-
rithmen zur Analyseder Pandemie erarbei-
ten, um dieVerbreitungdes Coronavirus
besservorhersehen zukönnen.
Der Deutsche Journalistenverband äu-
ßerte sichbesorgt über dieVereinbarung.
Es sei „auf jedenFall problematisch,wenn
elektronischeKommunikationsdaten und
Bewegungsprofile“vonJournalisten aus-

gewertet würden, sagte derDJV-Bundes-
vorsitzendeFrankÜberall .Bundesgesund-
heit sministerJens Spahn erneuerte unter-
dessen seinenVorschlag, Handydaten und
digitale Informationenzu nutzen, um In-
fektionskettenschnell nachvollziehen zu
können. Er sagte, die Gesundheitsämter
kämen an ihreGrenzen,wenn sie wiege-
genwärtig dieKontaktpersonen eines mit
dem VirusinfiziertenMenschen überTele-
fonateermitteln müssten: „OhneKontakt-
nachverfolgung wirdesnicht gehen.“ Bis-
her stößt Spahn mit seinemVorstoß, Han-
dydaten Einzelnerzunutzen, auchinder
Koalition aufWiderstand. Einen entspre-
chenden Passus im Infektionsschutzge-
setz, den er dem Bundestagzur Entschei-
dungvorlegenwollte, mussteerwieder
streichen. Die Daten,welche dieTelekom

demRobert- Koch-Institut (RKI) zurVerfü-
gung stellt, sind–wie die Daten,welche
die EU bekommen soll–Massendaten aus
derAuswertungvonFunkmasten. DasTra-
cken einzelnerPersonen istdamit nicht
möglich, es lassen sichlediglichgrobe Be-
wegungsströme nachverfolgen. Das RKI
will damit dieWirksamkeit der Maßnah-
men der Bundesregierung zur Einschrän-
kung sozialerKontakt euntersuchen. Me-
dienberichten zufolgewirddies auchinIta-
lien, dem am schlimmstenvon derPande-
mie betroffenen Land der EU,bereitsge-
tan. InEuropa amweites tengeht die Slo-
wakei. Dortdarfdie staatliche Gesund-
heitsbehördeanhand der Mobiltelefon-Lo-
kalisierungsdatenverfolgen,wo sichmit
dem Coronavirus Infizierte bewegenund
mit wemsie sic htreffen. dien.

D


ie Pest hat in dieserWoche
auchunserePfarrgemeinde
erreicht und istjetzt wirklich
überall, so dassich mir vorge-
nommen habe, meine Angelegenheiten
zu ordnen, die jenseitigen wie diewelt-
lichen. Gottsteh mir bei“,notiertSamu-
el Pepys Ende Juli in seinTagebuch,
und AnfangAugustsetzt er sichansein
Testament (zitiertnachder Überset-
zung vonGeorgDeggerich, Haffmans
bei Zweitausendeins, 2010).
Die GroßePest von1665, die bis zur
Mittedes folgenden Jahresetwa hun-
derttausend Menschenlebenkosten
wird, einViertelder Londoner Bevölke-
rung, is tein Ereignis im Leben des Be-
amten der Londoner Flottenadmirali-
tät, dem zunächstnur eineNebenrolle
zukommt.Viel mehr beschäftigenPepys
die leidigenAbrechnungenfür den„Tan-
ger-Ausschuss“, dem er angehört, und
denen monatelang nicht beizukommen
ist. Es dauertmehrer eWochen, bis er
im Juni notiert: „Sah heutemit großem
Unbehagen in der DruryLane zwei,
drei Häuser mit einemrote nKreuz auf
der Türund darunter die Aufschrift
,Gott erbarme sichunser‘ –ein trauriger
Anblick. Habe soetwas, wenn ic hmich
rech terinnere, zuvor nochnicht gese-
hen. Hattedanachdas Gefühl,vonmir
selbstgingeein sonderbarer Geruch
aus, wassicherstwieder legte, nachdem
ichmir etwasRolltabak zum Riechen
und Kauen gekaufthatte.“
Wiefüllt man seineTage,wenn eine
Pandemie umgeht? Undwie er fährt
man überhauptdavon? Pepys schleicht
sichheimlichzum Friedhof, umPest-
leichen zu sehen,aber eswerden gera-
de keine begraben, so bleiben nur die
verschlossenenTüren und die Angst,
weil niemand mehrvonetwas anderem
redet. Heutesterben die Menschen
nicht imPesthaus,sondern auf der In-
tensivstation, aber die Angstist ebenso
präsent, und wir Gesundenreden von
nichts anderem.Undstatt Tabak zukau-
en, der denPesthauchabhalten sollte,
nähen wir uns Gesichtsmaskengegen
die Tröpfcheninfektion.
Für das Literaturhaus Graz schrei-
ben mehrere SchriftstelleraneinemCo-
rona-Tagebuch(online abrufbar unter
http://www.literaturhaus-graz.at/die-corona-
tagebuecher-1). Di eösterreichis cheAu-
torinValerieFritschnotiert: „Anden
Ortender Massen herrschtMenschen-
vakuum. Surreale Bilderwachsen in die
Leere. In den Kirchen fehlt einmal
nicht nur Gott, aber auchseine Gläubi-
germit den in den Himmelwach senden
Forderungen bleiben aus. Es gibt Geis-
terspiele,Fußballsie ge und-niederla-
genohne Applaus, abervorAbertausen-
den leerenStühlen, und einem Schwei-
gen. Ein leises Niesen am Gehwegge-
nügt, dassder Entgegenkommende die
Straßenseitewechselt.Ein feiner Herr
im Dreiteiler trägt ein Damenunter-
höschen als Mundschutz.“

Der Feind ist unsichtbar

Es is tdie AbwesenheitvonLeben, die
den Schreckeneiner Krankheit aus-
macht, und dassder Feind ein unsicht-
barer ist. „Ein Jammer,wie menschen-
leer dieStraßen sind, und auchander
Börse sieht es nicht viel andersaus.
Misstrauischblickt man auf jedever-
schlosseneTür, denn dahinterkönnte
die Pest lauern. Zweivondrei Geschäf-
tenoder nochmehr sindverlassen“,
konstatiertPepys.Imkrassen Gegen-
satz dazu dieZahlen in denNach rich-
ten: „Warmeingepackt mit dem Boot
zum Towerund diewöchentlicheSter-
betafelkommen lassen, die insgesamt
8252 Tote verzeichnet, darunter 6978
Pestt ote. Eine erschreckende Zahl, die
Anlass zu der Befürchtung gibt, dass
die Pest uns auchweiterhin in ihrer Ge-
walt haben wird.“WirRedakteuresit-
zen amTicker der Agenturen und be-
kommen die neuestenZahlen aus Spa-
nien, nicht minder erschreckend.
Im Zeichen derkatastrophalenNach-
richtenerscheinenauchalltägliche
Handlungen plötzlich mit Bedeutung
aufgeladen. „Damals,nochbevor die
Bundesregierung überdie Schließung al-
ler Geschäfte verfügte,die nicht Super-
märkteund Apothekenwaren, damals,
vorein paarTagen, ging ichinVorberei-
tungauf einen möglichen Lockdown zu

Rewe,umunseren 2-Personen-Haushalt
mit demNötigstenzuverso rgen. Ich
nahm einen Einkaufswagen, dastatich
sonstnie, und legteverschiedeneDinge
hinein,vondenen ichdachte, dassesgut
wäre,sie imKatastrophenfall zu Hause
zu haben“, schreibt derAutorBenjamin
Quaderer, dessen Debütroman „Für im-
mer dieAlpen“ in derPandemiegerade
gnadenlosuntergeht, im GrazerCoron a-
Tagebuch.WasimRadio läuft, wasdie
Menschen beiRewe kaufen und wie die
Stimmung da ist, jedeMinimalbeobach-
tung hat Bedeutung oder scheint zumin-
destBedeutungzuhaben,weil sie sichin
einer Zeit abspielt,die wir schon in ihrer
Gegenwart alshistorische erkennen.
Etwas vielseitiger,danicht nurMen-
sche nmitde mBerufsbild des Schriftstel-
lers zuWort kommen, istdas Tagebuch
„SozialeDistanz“ aufdem Li teraturblog
54books (www.54books.de) .„Später
trinken wirper Zoom Konferenzschal-
tungBiermit anderen Menschen. Es
sind so viele Menschen, dasskein richti-
gesGesprächzustandekommt, letztlich
trink eich Bier und schaue dabei andere
Menschenan, wie sieinihren Computer
gucken, überirgendwas lachen,irgend-
welch eDinge sagen“,schreibtShida
Bazyar. Denn natürlichgibtesinzwi-
schen das Internet,eserlaubtvöllig ande-
re Zustände derNähe,wennphysische
Distanz gebotenist.Elter nlerne nend-
lich zu skypen,man verabrede tsichzu
Videokonferenzen, das istneu, das
macht diesePandemieerträglich, zumal
in einerZeit, in derman keine großen
HaushalteführtwiezuZeiten vonSamu-
el Pepy s, sondern für sich, alsPaaroder
alsKernfamilielebt. „Ich chattedas er ste
MalVideomit meiner Mutter,sie is tso
froh, michander Strippezuhaben ,wie
siesagt, dasssie rangeht,obwohl sie gera-
de das letzte Fensterputzt“ ,schreibt
RikeHoppe.

Patienten klauen Klopapier
Das 54books-Tagebuchist aucheines,
das vorallem anderenkonstatiertund
zusammenträgt.„Ph. erzählte, dassdie
Patienten ihm die Klopapierrollen aus
der Praxis klauen. Einen habe er letzten
Freitag dabei erwischt, wie er auf dem
WC die Handwaschlotion aus dem
Wandspender in eine mitgebrachteFla-
sche umfüllte. Dasfortwährende pfft-
pfft-pfft warauchdurch die geschlosse-
ne Türzuhören gewesen und hatteihn
verraten. Das Mitführen einer leeren
FlascheverrietPlanung undVorsatz“,
schreibt Jan. DieAutoren sammeln ihre
Geschichten wie die Eichhörnchen und
bemühen sichnicht, sie soforteinzuord-
nen, oftsind die Gedankenvorläufig, da-
für umso unmittelbarer.Und mitunter
gelingen Beobachtungen, die direkt ins
Schwarze treffen. Bir te Förster etwa be-
richtetüber ihreTwitter-Lektüredieser
Tage,„Apokalyptiker und Integrierte,
so kommt mir die aktuelleAufteilung
vonmeinerUmgebungvor“. Wirwür-
den durch die Seuche „gefühlloserge-
geneinander...als wir esgegenHunde
sind“, entfährtesSamuelPepyseinmal.
Wenn die Situation an den Nerven
zerrt,mussdie Analysewarten.
Manchmalkann es einem auch vor-
kommen, als fungierten die Nischen des
Internetsals zeitgenössischerErsatz für
denLandsitz,inden Boccacciosflorenti-
nische Adeligeim„Decamerone“vorder
Pest fliehen, um sich in pastoraler Umge-
bung Geschichte nzuerzählen bisdie
Seuche endlich fertig gewütet hat. So wie
derGartenund die frischeLuftvor den
TorenvonFlorenzeineBühne fürdeftige
Schwänke liefern, so bieten die diversen
Inte rnetplattformenRaum füreigen eEr-
zählungenund Darbietungen. DerPia-
nist Igor Levit lädtzum täglichen Haus-
konzert(überseinenTwitter-Account
twitter.com/igorpianist),der Kabarettist
SeverinGroebner erzählt unter dem
Stichwort„Dekamerone2020“ aufYou-
tube jedenAbend Rollenprosa mit Seu-
chenanlehnung,Buchpreisgewinner
Saša Stanišićentschädigt Menschen, die
keine Karten mehr für eine seinerLesun-
genbekommen haben,mit abendlichen
Stre ams auf Instagram (unterwww.ins-
tag ram.com/howtowaitforalongtime),
die er ohnehinlängs tzur eigenenKunst-
form erhoben hat. Überall wirdHaus-
gemachtesgestreamt undgepos tet, und
wenn es wackelt und hallt und im Hinter-
grund dasKindtobt, dannist das ziem-
lich egal .Inzwischen läuft ja nic ht ein-
mal mehrNetflix invollerAuflösung.
Auch wenn das Leben draußen auf
der Straße stillzustehen scheint–im
Netz erlebt es einegroße Beschleuni-
gung.Washier gerade alles entsteht, da
Autorenund andereVortragskünstler
keine öffentlichenVeranstaltungen ab-
halten dürfenund sichneue Kanäle
und Formen suchen, wirdkulturhisto-
rischeinmalhochinteressantwerden.
UndCorona wirduns nocheine Weile
körperlic hwie seelischbeschäftigen.
Auch die Pest warnicht einfachirgend-
wann vorbei, und alleswargut.„Es war
das ersteMal, dassich wieder in Lon-
don in der Kirchewar,seit ic hdie Stadt
wegender Pest verlassen hatte“,
schreibt SamuelPepysam30. Januar
1666,„und wider Erwarten bekam ich
es mit der Angstzutun, als ichüber den
Friedhof ging und die vielen frischen
Gräbersah. Beschloss, nicht so bald
wieder auf denFriedhof zugehen.“

Unbestechlich: Als Emittlerin ohneFehl undTadel hat SentaBergerfürsZDF einKapitel Fernsehgeschichtegeschrieben. FotoZDF

Wasunsere


Seele beschäftigt


EineGeldbußevon 500 Euromussein
für das ZDF arbeitender Journalistfür
ein unerlaubtes Interview zahlen, das
er mi tdem Angeklagtendes Prozesses
um eine tödliche Messerattacke in
Chemnitz 2018geführthat.Das Buß-
geldverfahrenwegen unerlaubtenVer-
kehrsmit Gefangenen seirechtskräf-
tig,teiltedieStaatsanwaltschaftChem-
nitz mit.Dem Journalistensei bekannt
gewesen, dasserkeine Telefonerlaub-
nis mit demdes Totschlagsverdächti-
genSyrer AlaaS.hatte, der sich inUn-
tersuchungshaftbefand. Das Landge-
richtChemnitz hatte Alaa S. im Au-
gust2019 wegenTotschlagszuneun
Jahrenund sechs Monaten Haft verur-
teilt.Eswar da vonüberzeugt, dasser
am26.August2018inChemnitzmit ei-
nemflüchtigenIraker denfünfunddrei-
ßigjährigen Daniel H. erstochen hat.
In dem einenTelefoninterview des
ZDF-Magazins„Frontal21“ hatte Alaa
S. seineUnschuld beteuert. dpa/F.A.Z.

Handydatenzur Corona-Bekämpfung


EU-Kommission einigt sichmit Telekom-Unternehmen überZulieferung


Aufgeben kamfür sie nie in Frage


Im ZDFverabschiedetsichSentaBergerals Kriminalrätin Dr.Eva Maria Prohacek


Draußenstehtdas


Lebe nstill, dochim


Internet läuft es auf


Hochtourenweiter.Es


gilt schließlich, einen


Ausnahmezustand


literarischzu


verarbeiten–wie einst


SamuelPepysdie Pest


in London.


VonAndrea Diener


Telefonat mit


dem Angeklagten

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