Frankfurter Allgemeine Zeitung - 27.03.2020

(Greg DeLong) #1

SEITE 18·FREITAG,27. MÄRZ2020·NR.74 Menschen und Wirtschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


D


ie Messehallen in
Dortmund sind im
Oktoberkein Ort
für Zartbesaitete.
Alljährlichtreffen
sichdortVersiche-
rungsmakler und
Manager ihrer
Branche. Anbieter
buhlen mit Gewinnspielen umAufmerk-
samkeit.Hostessen in knappenRöcken
verteilen Flyer. AufBildschirmen hauen
Versicherer ihreneuestenWerbeverspre-
chen heraus.Auch das istdie Welt des Da-
niel Bahr,als Zuständiger für denVer-
trieb derAllianz PrivateKrankenversiche-
rung musserd afür sorgen, das sVertriebs-
partner effizient verkaufen.
DochBahr meidetdiesmal denRum-
mel. Nicht, dasserden Kontakt mit den
oftrustikalen Maklernscheute, der frühe-
re Bundesgesundheitsministermussauf
Distanz gehen –aus gesundheitlichen
Gründen. Imvergangenen April isteran
Krebs erkrankt, „Morbus Hodgkin“, ein
Tumor desLymphsystems, heilbar,aber
in BahrsFall nur durch monatelangeChe-
motherapie. Durch seine politische Promi-
nenz wurde die Erkrankung öffentlich.
Bahr hat sichfrühzeitig entschieden,wäh-
rend der Behandlungweiter zu arbeiten
und imKonzernoffen darüber zu spre-
chen. Bei d iesemTreffeninden Messehal-
len is tsein Gesundheitszustand unüber-
sehbar: Er hat abgenommen, die Haare
sind dünner,aber nichtvollständig ausge-
fallen, er spricht leise.ZurBegrüßung
gibt er nicht die Hand.Für das Event hat
er sic hnur wenigeTerminegelegt, die
ihm wichtig sind: ein Interviewzur Pflege-
versicherung, eine Präsentation dazu mit
dem Schauspieler DieterHallervorden,
der seit einigen Monaten für das Pflege-
produkt der Allianz wirbt–eine rechter-
folgreiche Kampagne.
Als wir uns Monatespäter eingangs des
Englischen Gartens in München wieder-
tref fen, sieht Bahr wieder mehr aus wie
vorseiner Erkrankung: drahtig,fit, grau-
melierterVollbart, blaueTrainingsjacke.
Wirsind zum Joggen zu seiner Arbeitsstel-
le in Unterföhring durch den großen Park
an der Isarverabredet, um über seine Ge-
nesung, denUmgang damit imKonzern
und dieRolle des Laufens zu sprechen.
Die Vorbereitung auf den nächstenMara-
thon soll einStartpunkt in einen neuen
Lebensabschnitt sein.
Bahrwohnt mitFrau und dreiTöch-
tern im nahen Schwabing. Als wir unser
Themavereinbarthaben,war nicht abseh-
bar,dassinden nächstenTagen dergröß-
te gesundheitlicheNotstand auf derWelt
seit Jahrhundertenausbrechen würde.
Am Vorabend hat Bundeskanzlerin Ange-
la Merkel, seine frühere Chefin, die Bun-
desbürgergebeten, soziale Distanz zu
üben, damit das Coronaviruskeine weite-
re Verbreitungfinde. Undmit einem Mal
schwebt über unsererVerabredung ein
viertesThema: das Krisenmanagement in
Zeiten einerPandemie, BahrsErfahrung
mit dem EHEC-Bakterium, mit dem sich
in seiner Amtszeit mehr als 4000 Men-


schen angesteckthaben und an dem 53
starben. AlsStaatssekretär hatteerüber-
dies mit der Schweinegrippe zu tun.
Wirstarten unseren Lauf also nahe
dem Gebäude der Allianz-Zentrale, die
komfor tabel im MünchenerZentrum
liegt,während die Allianz Deutschland,
BahrsEinsatzort, sechs Kilometerweiter
nordöstlichinUnter föhring ihren Sitz
hat.AnmehrerenTagenjoggt er zur Ar-
beit.Nachdem Ende der Chemotherapie
hat er sofortdas Training für einen Mara-
thon aufgenommen.Zehnmal isterdie 42
Kilometergelaufen, nachjahrelanger
Wartezeit hatteerendlicheine Zusagefür
Tokio erhalten. Dochder Lauf wurde ab-
gesagt –wie in Parisund Rom. „Ichtrai-
nieretrotzdemweiter“, sagt Bahr,wäh-
rend seinegleichmäßigen Schritteüber
den feuchten Bodenfedern. Dochjetzt ist
Corona-Krise, er istRisikopatient und
musssichmit seiner ebenfalls berufstäti-
genFrauüberlegen, wie sie dieZeit be wäl-
tigen. Errechnetmit Schulschließungen,
am Tagdaraufwerden sie deutschland-
weit verkündet.
Exponentielle Infektionsraten, einrät-
selhafterÜbertragungsweg,womöglich
knappeKapazitäten in Krankenhäusern–
so eineAusgangslageerlebteBahr in der
EHEC-Krise. „Das hat michauchseiner-
zeit beschäftigt.Wirhaben dasInfektions-
schutzgesetzgeändertund Pandemieplä-
ne gemacht.Dakommen viele Erinnerun-
genhoch“, sagt er.Damals istermit Ver-
braucherministerinIlse Aigner für sein
Krisenmanagement in die Kritikgeraten.
Es dauerte Wochen, bis man herausfand,
dassdas Bakterium aus Sprossen und
nicht aus Gurkenstammte. DieVerunsi-
cherung der Bevölkerung nahm schlagar-
tig ab. Während der Schweinegrippe zwei
Jahrezuvor hatten sichFalschmeldungen
verbreit et.Eine Ärztin behauptete ,der
Impf stofflöse psychische Probleme aus.
„In solchen Situationen isteine große Ge-
fahr,dasssichinsozialen MedienVer-
schwörungstheorienverbreiten“, sagt er.
„Das gelingt diesmal besser,gut, dassÄrz-
te aktiv herausgehen.“ Als erverantwort-


lichwar,schauteersichden amerikani-
schen Spielfilm „Contagion“mit Matt Da-
mon undKate Winsletan, in dem sichein
Virusglobal verbreit et und man Botschaf-
tenaus dem Internetnicht aufhalten
kann. „Eswarein Fehler,das anzusehen,
weil es einen nichtweiterbringt.Die Rea-
lität istimmer eine andere“, sagt er.
Der Regenhat aufgehört, allmählich
wirdesganz gutes Joggingwetter,der Bo-
den istweich, aber nicht matschig.Wir
wechseln diePerspektive.Aufeine uner-
warteteWeise habe ihn seine Erkrankung
auf das Coronavirusvorbereitet.„Meine
Erfahrungen des letzten Jahres habenge-
zeigt, dasseslang dauert, bis die Leute
das ernstnehmen“, sagt er.Nochinder
Wocheunseres Gesprächs sei er auf einer
Veranstaltunggewesen, auf der sichviele
die Hände schüttelten.Für ihnhättemo-
natelang jede Begrüßung auf dieseWeise
bedeutenkönnen, dasserseinen Thera-
pieplanverschieben müsste. Nachsech-
zehn Behandlungen endete die Chemo-
therapie imNovember.„Gesternwareine
Untersuchung. Eswarkein Rezidiv –das
isteine sehr guteNachricht“, erzählt er.
Medizinischgilt er alsgeheilt.
AlswirunsdasersteMaltreffen,ist
Bahr 28 Jahrealt.Seine Partei, die FDP,
hält ihrenParteitag inKöln ab. Gemein-
sam mit jungenAbgeordnetenaus dem
Bundestagtritt er für ein Gesetz ein, das
im Grundgesetzverankert, dassder Staat
das Prinzip derNach haltigkeit beachten
und die Generationengerechtigkeit befol-
gensoll. Dabeigeht es umUmweltfragen

genauso wie dieFinanzierbarkeit der so-
zialen Sicherung. Der frühereVorsitzen-
de der Jungen Liberalen spricht klar,ak-
zentuiertund entschlossen.Tatsächlich
wirdein Jahr später ein Gesetzentwurfin
den Bundestageingebracht.
BahrsKarriereentwickelt sic hdanach
schnell. Er wirdgesundheitspolitischer
Sprecher,Landesvorsitzender imgrößten
Bundesland, alsNach folger PhilippRös-
lersMinister. Mit 34, nur Kristina Schrö-
der is timKabinett jünger als er.Weil bald
wiederWahlkampf ist, bleibt er nur zwei-
einhalb JahreimAmt.Seine Bilanz istfür
dieseZeit nicht schlecht:die umstrittene
Praxisgebühr abgeschafft,ein Krebsregis-
teraufgebaut, den Pflege-Bahr alsgeför-
derte Zu satzversicherung eingeführt, die
mit seinem Namen verbunden bleibt.
Nachetwa einer Dreiviertelstunde errei-

chen wir eine Holzbrücke über die Isar.
Vonhier aus istman nachwenigen Minu-
tenamStandortder Allianz Privaten
Krankenversicherung. Bahr betritt sein
Büro.NacheinerTelefonschalteumhalb
acht folgt nun das nächste Telefonat, das
sichmit der Krise befasst.Erstdanachfin-
deterZeit zum Duschen. Danacher-
scheint er im blauen Anzug mitweißem
Hemd im Büro.Nachder verheerenden
Bundestagswahl 2013 ging er in Amerika
auf Abstand zur deutschenPolitik und ar-
beiteteeinigeMonatefür die Denkfabrik
„CenterforAmerican Progress“. In dieser
Zeit bekam er mehrereAngebote.
„Ich wollte nie ewig Politiker sein,woll-
te im Gesundheitswesen bleiben, aber
nicht als Lobbyist“, sagt er.InAmerika
verstand er ,dasssein Scheiternbei der
Wahl eineweiter eErfahrung im Leben
war. Nunalso der Sprung zur Allianz.
WereinmalVorträgevon ihm über die
Pfleg eversicherunggehörthat, würde den-
ken, alsPolitikerkönnteeretwas markt-
skeptischerauftreten,alsVertretereiner
Branche macht er seinen Job gut.Erist ei-
ner derwenigen früherenPolitiker,der in
operativerVerantwortung in einemUnter-
nehmen ist. Kritiker monieren, er habe zu
kurz „abgekühlt“. Dochals Gesundheits-
ministerunter standen ihmkeine privaten
Krankenversicherer.Und warumsollte
ein Mannvon37nicht zugreifen, wenn er
einAngebotbekommt–undnichtfür
sein Adressbuch,sondernseine Kenntnis-
se eingestellt wird?
Die Finanzaufsicht Bafin ließ Bahr lan-
ge zappeln, ob er in denVorstand aufrü-

cken konnte. Dochdie große Herausforde-
rung warder Krebs. An einem Donners-
taga bend im April 2019 erhielt er die Dia-
gnose, so erinnertersich. Der Arzt, der
ihm vorher versicher thatte, diegeschwol-
lenenLymphknotendeuteten nicht auf
Krebs hin, musstesichkorrigieren. Als
das „Morbus Hodgkin“ diagnostiziert
war, dacht eerzuerst an denverstorbenen
früherenParteivorsitzenden GuidoWes-
terwelle, dann daran, ob er seineTöchter
nochinden Armnehmenkönne. Ein
Arzt sagteihm, er habe eineÜberlebens-
chancevonneunzig Prozent.Erkenne
das Gefühl, zur kleinen Minderheit zuge-
hören,vonWahlen, scherzteBahr darauf-
hin mit Blickauf die FDP.
Die Erkrankung wurde schnell publik.
Eine Wahl hatteeralso nicht, ob er sie be-
kanntmachen sollte. In denvergangenen
Jahren hatten das einigeweniger bekann-
te Managergemacht–wie RicePowell
vonFreseniusMedicalCare, UlrichSchrö-
der vonder Förderbank KfW oderPatrick
Frostvon der SwissLife. „Mirwarklar,
dassich es meinen Mitarbeiternsage, und
habe michentschieden, esvorder er sten
Chemozumachen“,erzählter.DerVor-
standsvorsitzende der Allianz Deutsch-
land stellteihm frei, zu arbeiten oder aus-
zusetzen. „Daswarwichtig für mich. Ich
arbeitegerne undwolltedas soweit wie
möglichweiterhin tun“,sagt Bahr.Als An-
hang an eineVersammlung erwähnte er
die Behandlungen. Er benötigeUnter stüt-
zung undVerständnis,wenn etwa slänger
dauere,weil er nicht da sei. „Ichhabe
dann sehr vielZuspruc hund Ermutigun-
generhalten“, sagt er.Auf wichtigenTer-
minen ließ er sichbegleiten, umWissen
zu teilen. Nicht der Leistungsgedankeei-
nes Managers, der aus Ehrgeiz Marathon
laufe,habeihn dazugetrieben weiterzuar-
beiten. „Mirtatdie Arbeit gut, es ging mir
auchkörperlichverhältnismäßig gut“,
sagt er.Nur als er merkte, dasssicheine
Chemotherapie nicht so zuverlässig pla-
nen lässt wie Vorstandssitzungen, musste
er sic hbelehren lassen.Underlernte,
dasserjetztvorübergehend als schwerbe-
hinderteingestuftwurde.
Als er das erzählt hat, isteself Uhr.
Zwei Mitarbeiter betretensein Büro, an
dessen Wand ein russisches Gemälde
hängt, das BahrvonseinemVater, einem
Polizeidozenten, bekommen und das in al-
len seinen Bürosgehangen hat. Es zeigtei-
nen Mann, der über ein Seil balanciert,
das über einer Mengevon Menschen auf-
gespannt ist. Die zwei Männer sind typi-
sche Allianzer:fesch, schnell im Denken,

klar strukturiert. Beide sind für den Leis-
tungsbereichzuständig. Eine dritte Mitar-
beiterin, die nacheinem Südtirol-Aufent-
halt in Quarantäne ist, wird perTelefon
zugeschaltet.Bahr will wissen, wie gut
die Abteilungauf mobilesArbeitenvorbe-
reitet ist, wie schnell Leistungsfälle auto-
matisiertbearbeitet und ausgezahltwer-
den können. „Haben Sieweiter eIdeen?“,
fragt er.Als das Meeting beendetist,wirft
er einem Mitarbeiter zu:„Wenn die Bun-
desligaeingefroren wird, hat Dortmund
keine Chance mehr,Meisterzuwerden.“
„Haben sie sowieso nichtgehabt“, hält
der entgegen. Man istinMünchen.
Seine Entscheidungvoreinem Jahr,die
Krankheit öffentlichzumachen, hat auch
Gerede ausgelöst.Jemandfand, dassan-
dereMitarbeiter durch die Entscheidung,
weiterzuarbeiten, unter Druckgesetzt
würden. Anderespekuliertenüber seinen
Gewichtsverlust, die Anzügesaßen nicht
mehr.Und dann die Sache mit den Infek-
ten: „Manwarimmer in einer Sondersi-
tuation. Jetzt–durch Corona–werden
viele verstanden haben, dassman Hände-
schütteln in einer solchen Situation nicht
machen sollte“, sagt er.
Als die Chemotherapiefastbeendet
war, wollteBahr endlich wieder joggen.
Die Ärzteaber habenihm Nordic Wal-
king verord net. Es sei schwergewesen,
sichzubeschränken,wenn das Hirnver-
langte,wieder zu laufen.Nunaber kann
er wiedervoll trainieren. Seine Mitarbei-
terhat er über den erfolgreichenAb-
schlussder Therapie unterrichtet. Die
Zeit der Behandlungliegt hinter ihm. Ei-
nigeDingeerinnernihn aber immer wie-
der daran–und lassen ein Gefühl der
Übelkeit aufkommen. Zum Beispiel das
Wasser ausPappbechern, das erwährend
der Behandlungen trank.Oder das Desin-
fektionsmittel in der Klinik.Ausgerech-
netdieser Duft, dergerade überall zurie-
chen ist, um dieser außergewöhnlichen
Gefahr des Coronavirus zu begegnen. Es
istZeit fürsMittagessen. Ein Italiener in
der Nähe. Bahr blicktauf sein Smart-
phoneund ruft eine Expertise desRo-
bert-Koch-Instituts auf, die zu seinerZeit
als Gesundheitsministererstellt wurde.
Ein Sars-Virus, dasvoneinemWildtier-
markt in Südostasien ausgeht,verbreitet
sichund lösteine globalePandemie aus,
die Infektionsratensteigenexponentiell,
Menschen müssen zu Hausebleiben.Er
kann nichtglauben, wie nah die Beschrei-
bung an der heutigenRealität ist–dieser
Krisenmanager im Gesundheitswesen,
ein Grenzgänger zwischen Politik und
Wirtschaf t.

MehrBilder und Videos unter
http://www.faz.net/bahr

Der Arbeitgeber rüstet sichgegen das
Coronavirus mit Desinfektionsmitteln.


Der ehemaligeMinisterist heuteVorstand
beim Krankenversicherer APKV.

Während seiner Krebserkrankung
arbeiteteerweiter Vollzeit.

Daniel BahrsArbeitsweg zur Allianz Deutschland führtdurch den Englischen Garten in München.

Jetzt ein Marathon


Daniel Bahrwar


34, als er Minister


im Bund wurde.


Seine FDP


flog aus dem


Bundestag.


Er machteals


ManagerKarriere.


Dannkamder


Krebs.


VonPhilipp Krohn


und Diana Cabrera


Rojas (Fotos)

Free download pdf