Handelsblatt - 27.03.2020

(Tina Meador) #1
Silke Kersting, Moritz Koch,
Klaus Stratmann Berlin

A


ndreas Pinkwart, Wirt-
schaftsminister von
Nordrhein-Westfalen, ist
stolz darauf, Kleinunter-
nehmern, Solo-Selbst-
ständigen und Freiberuflern in der Co-
ronakrise Unterstützung anbieten zu
können. Land und Bund seien mit
„beispiellosen Soforthilfen“ zur Stelle,
sagte der FDP-Politiker. „Damit die Mit-
tel schnell ankommen, haben wir das
rein digitale Antragsverfahren einfach
und unbürokratisch gestaltet“, ergänz-
te er. Von Freitag an stünden die For-
mulare online zur Verfügung – und
sollten noch am Wochenende bearbei-
tet werden. Das Geld müsse so schnell
wie möglich fließen.
Auch Bundeswirtschaftsminister Pe-
ter Altmaier (CDU) drückt aufs Tempo.
„Drei Millionen Solo-Selbstständige,
Handwerker und Freiberufler schaffen
Arbeit für zehn Millionen Menschen.“
Daher sei der Schutzschirm mit Hilfen
von 50 Milliarden Euro für diese Grup-
pe richtig. „Es ist unser Ehrgeiz, dass
vor dem 1. April die ersten Zahlungen
bei den Unternehmen ankommen“,
sagte Altmaier am Mittwoch.
Die Politik ist sich des Ernstes der
Lage also durchaus bewusst. Sie be-
müht sich, den Betroffenen rasch un-
ter die Arme greifen zu können. Doch
Gesetzgebung und Umsetzung benöti-
gen Zeit. Und Zeit hat die Wirtschaft
nicht. Für viele Unternehmen könnte
jede Hilfe zu spät kommen.
Für Cüneyt Boran zum Beispiel. Erst
im Februar hat der Berliner ein kleines

Fitness-Studio eröffnet, etwa 100 000
Euro investiert, aus eigenen Ersparnis-
sen. Als sich das Coronavirus in der
Hauptstadt immer stärker ausbreitete,
musste er schließen, doch die Kosten
laufen weiter: Mieten, Gehälter, Lizenz-
gebühren. Für seine drei Angestellten
hat Boran Kurzarbeit beantragt, aber
bis heute keine Antwort der Arbeits-
agentur bekommen. „Keiner sagt uns
was, keiner hilft uns weiter, das ist das
Problem“, sagt Boran. Lange kann er
nicht mehr durchhalten. Mit seinem
Anwalt hat er schon über eine Insol-
venz gesprochen.
Boran fühlt sich im Stich gelassen
von den Berliner Behörden. Auf ihre
Weisung hin hat er sein Studio dichtge-
macht. Aber Informationen darüber,
wie es weitergehen soll, bekommt er
nicht. Ein, zwei Wochen will Boran
noch versuchen, sich über Wasser zu
halten. Dann, so sagt er, werde er In-
solvenz anmelden.
Ein Einzelfall ist Cüneyt Boran nicht.
Wer sich dieser Tage im Kleingewerbe
umhört, erfährt von etlichen Schicksa-
len, die ähnlich klingen. Nur wenige
möchten mit vollem Namen in der Zei-
tung stehen. Doch der Befund ist ein-
deutig: Existenzangst macht sich breit.
Löst die Coronakrise eine beispiel -
lose Pleitewelle aus? Genau das sollte
der größte fiskalpolitische Rettungsein-
satz in der Geschichte der Bundesre-
publik verhindern. Doch das Auffang-
netz, das die Bundesregierung auswer-
fen will, droht sich in der Bürokratie
des deutschen Verflechtungs -
föderalismus zu verheddern.
Kleinunternehmen, Freiberuflern,
Gründern mit bis zu fünf Beschäftigten

und Solo-Selbstständigen sollen zur
Linderung der größten wirtschaftli-
chen Not 9 000 Euro Zuschuss aus
Bundesmitteln gewährt werden, bei
bis zu zehn Beschäftigten sind es
15 000 Euro. Die Bundesländer sto-
cken das Programm zum Teil noch
deutlich aus eigenen Mitteln auf.
Allerdings handhaben die Bundes-
länder die Auszahlung der Hilfen sehr
unterschiedlich. In Bayern und dem
Saarland etwa können Betroffene be-
reits seit vergangener Woche Hilfen be-
antragen.
In Bayern ist das Interesse groß.
Nach Angaben des bayerischen Wirt-
schaftsministeriums gingen bis Mitt-
woch mehr als 150 000 Anträge ein.
Beantragt werden durchschnittlich
7 500 Euro. Insgesamt umfasst der Be-

darf 1,1 Milliarden Euro. Zur Auszah-
lung angewiesen wurden bereits 56,
Millionen Euro. „Jeder Tag zählt, um
den Substanzschaden im bayerischen
Mittelstand möglichst gering zu hal-
ten“, sagt Bayerns Wirtschaftsminister
Hubert Aiwanger (Freie Wähler).
In anderen Ländern ist man dage-
gen von Auszahlungen weit entfernt.
So folgt etwa Berlin dem Beispiel von
NRW. In der Hauptstadt können Anträ-
ge überhaupt erst von Freitag an ge-
stellt werden. In Berlin weist man zu-
dem darauf hin, dass Anträge, die vor-
her gestellt werden, nicht
berücksichtigt werden. Für viele Klein-
unternehmer, Freiberufler und Solo-
Selbstständige in NRW und Berlin wird
es damit eng. „Zum Monatsende am
kommenden Mittwoch müssen viele
laufende Kosten beglichen werden“,
sagte Beatrice Kramm, Präsidentin der
IHK Berlin, dem Handelsblatt. Es sei
zwar gut, dass ab Freitag die Sofortzu-
schüsse beantragt werden könnten.
„Jetzt muss das Geld aber binnen we-
niger Tage ausgezahlt werden“, forder-
te Kramm.
Bundesweit wachsen die Sorgen,
dass die Hilfen für viele kleine Unter-
nehmen zu spät kommen könnten.
„Es sind Hunderttausende Unterneh-
men vom angeordneten Stillstand di-
rekt oder indirekt betroffen. Für die
zählt jeder Tag. Das gilt insbesondere
am Monatsende“, sagte Achim Dercks,
stellvertretender Hauptgeschäftsführer
des DIHK. „Die wichtigste Botschaft
des Soforthilfefonds für Kleinstunter-
nehmen steckt im Namen: Es geht um
die sofortige Wirksamkeit“, sagte er.
Erforderlich sei ein sehr einfaches Ver-
fahren ohne große Formalitäten, das
schnell zur Auszahlung führe. „Und
wir brauchen vor Ort durch die im ein-
zelnen Bundesland verantwortliche
Institution eine schnelle Bearbeitung,
möglichst durchgängig digital organi-
siert“, sagte Dercks.

Manche bekommen nichts
Während Kleinunternehmer und Frei-
berufler wenigstens die Hoffnung he-
gen können, Zuschüsse zu bekom-
men, drohen Teile des Mittelstands
ganz durchs Raster zu fallen. Ein Bei-
spiel ist der Berliner Reiseveranstalter
Wörlitz Tourist. Die von der Bundesre-
gierung aufgelegten Hilfsinstrumente
seien auf Kleinstbetriebe und die Stüt-
zung von Großkonzernen ausgerich-
tet, sagt Unternehmenschef Ulrich
Basteck. „Wir als Mittelständler be-
kommen keine Soforthilfen, sondern
haben nur die Möglichkeit, Kredite zu
beantragen. Doch ob und wann diese
ausgezahlt werden, ist bislang über-
haupt nicht absehbar.“
Der Reiseveranstalter beschäftigt
200 Mitarbeiter und verfügt über 16
Reisebüros in Berlin und Brandenburg
sowie 22 eigene Busse. Seit 17. März ar-
beiteten die Mitarbeiter in Kurzarbeit,
um Kosten zu sparen. Die Busse wur-
den abgemeldet.
Einnahmen gibt es keine mehr. Da-
für forderten Kunden ihre Reiseanzah-
lungen zurück. „Die Liquidität des Un-
ternehmens ist ernsthaft bedroht“,
sagte Basteck. „Wir halten das maxi-
mal zwei Monate lang durch, dann ist
Schluss.“

> Weiterer Bericht Seite 24

Coronakrise


Unternehmer haben es eilig


Viele Selbständige brauchen dringend Zuschüsse, doch nicht alle Bundesländer liefern schon.


Geschlossenes Reise-
büro: Viele Unterneh-
mer hoffen auf einen
kurzen Shutdown, um
ihn überstehen zu
können.

dpa

Viele kleine Unternehmen
Zahl der Unternehmen und Beschäftigte nach Größenklassen

HANDELSBLATT 2018; *Sozialversicherungspflichtig • Quelle: Destatis

3,
Mio.
Unter-
nehmen

3,10 Mio.
0 bis 9
Beschäftigte

0 ,30 Mio.
10 bis 49
Beschäftigte

0,07 Mio.
50 bis 2 49
Beschäftigte

0,02 Mio.
250 und mehr
Beschäftigte

30 ,
Mio.
Beschäf-
tigte*

14,07 Mio.
250 und mehr
Beschäftigte

4,19 Mio.
0 bis 9
Beschäftigte

5,96 Mio.
10 bis 49
Beschäftigte

6,64 Mio.
50 bis 2 49
Beschäftigte

Wirtschaft & Politik
WOCHENENDE 27./28./29. MÄRZ 2020, NR. 62
10
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