Handelsblatt - 27.03.2020

(Tina Meador) #1
Astrid Dörner, Katharina Kort,
Christian Rickens
Denver, Washington, New York

M


iranda Miller gehört
zu den frühen Op-
fern der Coronakri-
se. Ihr Job als Kellne-
rin in einer Brauerei
unweit von Denver war sofort weg,
als die Restaurants schließen
mussten. „Ich bin noch total
geschockt“, erzählt Miller,
die nun im Großhandel
Costco nach Schnäppchen
sucht und dabei gewissen-
haft zwei Meter Abstand
zu anderen Kunden ein-
hält. Sie umschließt mit
beiden Händen ihren Ein-
kaufswagen.
„Meine Kreditkartenrech-
nung, mein Autokredit und na-
türlich meine Miete, ich weiß gar
nicht, wie ich das alles jetzt stemmen
soll.“ Im Februar hat sie sich noch eine
teure Couch gegönnt. Das Geld könnte
sie jetzt gut auf ihrem Konto gebrau-
chen. „Ich mache mir große Sorgen“,
sagt sie. „Wer stellt denn jetzt noch
Leute ein?“
Millionen von Amerikanern haben
den durch das Coronavirus ausgelös-
ten wirtschaftlichen Schock unmittel-
bar zu spüren bekommen. 3,3 Millio-
nen stellten in der vergangenen Woche
einen Antrag auf Arbeitslosengeld, wie
das Arbeitsministerium am Donners-
tag mitteilte. So viele wie noch nie und
fast zwölfmal so viele wie in der Vor-
woche. Erwartet worden waren nur 1,
Millionen Anträge.
Während die Politiker in Washing-
ton noch um die letzten Details eines
billionenschweren Rettungspakets rin-
gen, das Unternehmen und Arbeits-
plätze sichern soll, haben viele Firmen
längst gehandelt und sich von Mitar-
beitern getrennt. Es trifft praktisch alle
Teile der Wirtschaft: große Hotelket-
ten, Airlines, Restaurants, Veranstalter,
Nagelsalons. Hinzu kommen Hundert-
tausende, die nicht in der Arbeitslosen-
statistik auftauchen: Haushaltshilfen,
Kindermädchen, Hundesitter sowie
die Mitarbeiter der sogenannten Gig-
Economy, die als Selbstständige arbei-
ten und somit keinen Anspruch auf Ar-
beitslosengeld haben.
Und das ist erst der Anfang. James
Bullard, der Chef der regionalen No-
tenbank in St. Louis, rechnet im zwei-
ten Quartal mit einer Arbeitslosenquo-
te von 30 Prozent und einem Einbruch
der Wirtschaftsleistung um 50 Prozent.
Es ist die bislang pessimistischste Prog-
nose. Doch alle Ökonomen sind sich
einig: Amerika steht vor einem nie da
gewesenen Einbruch von Angebot und
Nachfrage, der eine Kaskade an wirt-
schaftlichen und menschlichen Tragö-
dien auslösen wird.

Trump provoziert Rückfall
Noch lautet das Mantra vieler Marktbe-
obachter: Es wird nach einem drasti-
schen Einbruch schnell wieder auf-
wärtsgehen. Doch Kritiker warnen vor
zu viel Euphorie. Dass die Erholung
V-förmig verlaufen könnte, auf den ra-
piden Absturz der Konjunktur also ei-
ne schnelle Erholung folgt, gilt inzwi-
schen als unrealistisch.
U-förmig, mit einem steilen Anstieg
nach einer längeren Schwächephase,
wäre schon positiv, glaubt etwa der
ökonomische Chefberater der Alli-
anz, Mohamed El-Erian. Das Bestre-
ben von US-Präsident Donald Trump,
die Wirtschaft möglichst schnell wie-
der ans Laufen zu bringen, schürt die
Angst vor einem Rückfall, was die Er-
holung eher W-förmig aussehen las-
sen und zusätzlichen Schaden verur-
sachen würde.

„Die Lage heute ist nicht wie in ei-
ner klassischen Rezession, in der für
eine längere Zeit jeden Monat Hun-
derttausende Stellen gestrichen wer-
den“, gibt Investmentbanker Daniel Al-
pert zu bedenken, der nebenbei an
der Cornell University in Ithaca im US-
Bundesstaat New York unterrichtet
und einen neuen Arbeitsmarktindika-
tor mitentwickelt hat. „Gerade bei Ge-
ringverdienern schlägt der Effekt so-
fort ein.“
Verglichen mit Deutschland schla-
gen Nachfrageeinbrüche in den USA
besonders schnell auf die Arbeitslosen-
zahlen durch. Es gibt keinen gesetzlich
geregelten Kündigungsschutz. Gerade
die Verträge von gering qualifizierten
Arbeitskräften können oft von einem
auf den anderen Tag beendet werden.
In höher qualifizierten Berufen re-
gelt häufig der Arbeitsvertrag eine
beidseitige Kündigungsfrist von zum
Beispiel einem Monat. Doch in der Re-
gel werden auch solche Angestellte so-
fort mit der Kündigung freigestellt und
erhalten das noch ausstehende Gehalt
anstelle einer Abfindung. Ein Instru-

ment wie die deutsche Kurzarbeit ist
in den USA unbekannt.
Für die Parlamentarier in Senat und
Repräsentantenhaus war daher klar,
dass sie möglichst schnell einen
Schutzschirm für die absehbar rasch
wachsende Zahl der Arbeitslosen auf-
spannen müssen. Nicht nur, um den
Bürgern selbst zu helfen, sondern
auch, um deren Kaufkraft zu erhalten.
Wenn das nicht gelingt, droht aus
dem Konjunktureinbruch eine dauer-
hafte Rezession zu werden. Der Senat
verabschiedete in der Nacht zum Don-
nerstag ein 2,2 Billionen Dollar schwe-
res Corona-Hilfspaket, das auf eine
breite Mischung aus Maßnahmen
setzt. Eine bessere Absicherung von
Arbeitslosen ist dort ebenso enthalten
wie Direkthilfen für Unternehmen und
die Erlassung von Krediten.
Gerade die vielen notleidenden klei-
nen und mittelgroßen Unternehmen
sollen mit Hilfskrediten entlastet wer-
den. Sie stellen über 80 Prozent der
Arbeitsplätze, wie Berechnungen der
Deutschen Bank zeigen. Die Rückzah-
lung der Kredite soll erlassen werden,

wenn die Unternehmen das Geld nut-
zen, um ihre Mitarbeiter während der
Krise auf der Gehaltsliste zu halten


  • eine Art improvisierte Kurzarbeit.
    Für diese Kredite sind im Hilfspaket
    350 Milliarden Dollar vorgesehen.
    Den Demokraten ging das nicht weit
    genug. Sie haben in den Kompromiss-
    verhandlungen zusätzlich eine deutli-
    che Aufstockung des Arbeitslosengel-
    des durchgesetzt: Arbeitslose sollen
    nun, befristet für die kommenden vier
    Monate, zusätzlich 600 Dollar pro Wo-
    che aus Bundesmitteln erhalten.


Unterstützung selbst für
Selbstständige
Für die USA ist das ein geradezu revo-
lutionärer Schritt. Denn die Arbeitslo-
senunterstützung wird dort bisher von
den einzelnen Bundesstaaten geregelt.
Die Höchstsätze liegen je nach Bundes-
staat und vorherigem Einkommen bei
etwa 400 bis 800 Dollar pro Woche.
Ebenfalls revolutionär: Die 600 Dol-
lar pro Woche sollen auch Soloselbst-
ständige erhalten, also zum Beispiel
die Fahrer von Chauffeurdiensten wie
Uber oder Lyft. Sie leiden besonders
unter der Auftragsflaute. Da sie keinen
Anstellungsvertrag haben, qualifizie-
ren sie sich nicht für das bisherige Ar-
beitslosengeld der Bundesstaaten.
Die neuen Bundeszuschüsse dürf-
ten für viele Arbeitslose die wöchentli-
che Zahlung mehr als verdoppeln.
Hinzu kommt noch das „Helikopter-
geld“, die einmalige Zahlung von 1 200
Dollar für nahezu alle erwachsenen
US-Bürger und 500 Dollar für jedes
Kind. Washington greift also tatsäch-
lich entschlossen ein, um die Lage der
Arbeitslosen in der Krise entscheidend
zu verbessern.
Fraglich ist aber bislang, ob das
Geld auch rechtzeitig bei den Betroffe-
nen ankommt. „Je länger es dauert,
desto tiefer wird der Einbruch für die
Wirtschaft“, warnt Torsten Slok, Chef-
ökonom der Deutschen Bank in New
York. „Es ist eine riesige logistische He-
rausforderung, Schecks an 130 Millio-
nen Haushalte zu schicken.“
Für Miranda Miller kann das nicht
schnell genug gehen. Am Montag hat
sie es endlich geschafft, ihren Antrag
auf Arbeitslosenversicherung zu stel-
len. Die Systeme im Bundesstaat Colo-
rado sind völlig überfordert. Von Mon-
tag bis Donnerstag vergangener
Woche sind die Anträge auf Arbeitslo-
sengeld um 1 450 Prozent auf über
20 000 gestiegen. Bürger, deren Nach-
namen mit den Buchstaben A bis M
beginnen, dürfen neuerdings ihre An-
träge nur noch sonntags, dienstags,
donnerstags oder samstags nach 12
Uhr einreichen. „Jeder Dollar zählt“,
sagt Miller. Der nächste Schritt sei nun,
mit Banken zu verhandeln, Zahlungen
aufzuschieben und Strafgebühren zu
vermeiden.
Ob die Staatshilfen ausreichen, um
eine drohende Welle an Unterneh-
menspleiten und Privatinsolvenzen
aufzufangen, ist ungewiss. Allein der
Flugzeughersteller Boeing verlangt 60
Milliarden Dollar Staatshilfe, die Air-
lines 58 Milliarden Dollar. Die Handels-
branche kam großteils zum Erliegen.
Zwar feierte US-Präsident Donald
Trump vor dem Ausbruch des Corona-
virus immer neue Rekorde auf dem
Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenquote
lag noch im Februar mit 3,5 Prozent
auf dem tiefsten Stand seit 50 Jahren.
Doch schon damals übertünchten die
rosigen Zahlen die eigentliche Stim-
mung in der Be völkerung. 40 Prozent
haben nicht genügend Ersparnisse,
um uner wartete Ausgaben von 400
Dollar oder mehr zu stemmen, wie
Daten der Notenbank von 2019 zeigen.
Auf lange Verdienstausfälle sind die
Amerikaner schlicht nicht vorbereitet.

US-Arbeitsmarkt


Das historische


Hilfspaket könnte


zu spät kommen


US-Unternehmen entlassen ihre Mitarbeiter


schneller, als es in Europa üblich ist.


Die Hilfe ist noch nicht da.


Viele Menschen sind schon arbeitslos.


Menschen in Las Vegas warten, um
ihr Arbeitslosengeld abzuholen: In
den USA bedeutet der Jobverlust
oft direkte Existenznot.

AP, Polaris/laif

3,


MILLIONEN
Amerikaner stellten
innerhalb einer
Woche Antrag auf
Arbeitslosengeld.

Quelle:
US-Arbeitsministerium

Wirtschaft & Politik
WOCHENENDE 27./28./29. MÄRZ 2020, NR. 62
12
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