Handelsblatt - 27.03.2020

(Tina Meador) #1
Franz Hubik, Martin Murphy
München, Frankfurt

D


as Coronavirus hat ge-
schafft, was weder im
Zuge der Finanzkrise,
des Dieselskandals
noch einer Naturkata-
strophe eingetreten ist: Die Arbeit in
den deutschen Automobilwerken
liegt nahezu gänzlich brach. BMW,
Daimler, VW, Opel oder Ford hatten
selbst nach dem Einbruch der Kapi-
talmärkte infolge der Pleite der In-
vestmentbank Lehman Brothers
2008 die Bänder am Laufen gehal-
ten. Seit Anfang dieser Woche aber
herrscht Ruhe in den Fabriken.
Und diese Ruhe dürfte noch län-
ger anhalten als ursprünglich ge-
dacht. Jedenfalls verlängerte Daim-
ler am Donnerstag die Schließzeiten
für seine europäischen Werke um
weitere zwei Wochen. Bis zum 17.
April wird der weltgrößte Hersteller
von Premiumautos und Lastwagen
nun die Produktion stoppen. „Das
ist nötig geworden, weil im Moment
die Nachfrage nicht da ist“, sagte
Daimler-Betriebsratschef Michael
Brecht dem Handelsblatt.
Die Schwaben stehen mit ihrer
Entscheidung nicht allein. Parallel zu
Daimler bestätigte am Donnerstag
auch die PSA-Tochter Opel, Tausende
Mitarbeiter in Kurzarbeit zu schi-
cken. Die Beschäftigten in den Wer-
ken in Rüsselsheim, Kaiserslautern
und Eisenach sollen „vorsorglich“
gleich für ein halbes Jahr ihre Arbeits-
zeit verkürzen. „Wir hoffen jedoch
sehr, diese früher beenden zu kön-
nen“, erklärte ein Unternehmens-
sprecher. Zuvor hatte bereits Volks-
wagen angekündigt, rund 80 000
Mitarbeiter in Deutschland in den
Zwangsurlaub zu schicken.
In Summe müssen sich mehr als
200 000 Beschäftigte in Deutsch-
lands größter Industrie auf kleinere
Gehaltseinbußen einstellen. Selbst im
schlechtesten Fall bekämen aber bei-
spielsweise die Mitarbeiter von Daim-
ler während der Phase der Kurzar-
beit immer noch 80 Prozent ihres
Nettolohns ausbezahlt. Auf die Be-
schäftigten allein sollen die Lasten
aber nicht abgewälzt werden.

Debatte um Boni
„Wir müssen jetzt auch schnell eine
Diskussion über einen Beitrag der
Führungskräfte führen“, sagte Daim-
ler-Betriebsrat Brecht. Auch bei VW
regen sich entsprechende Gedanken.
Die Bonuszahlungen für die Füh-
rungskräfte des Mehrmarkenkon-
zerns summieren sich auf rund eine
Milliarde Euro, wie es in Kreisen des
Unternehmens hieß.
Wenig wahrscheinlich ist es, dass
die Dividende für das vergangene
Jahr gestrichen werden könnte. „Da-
mit könnten wir zwar die Liquidität
unseres Konzerns schonen“, sagte
ein Vorstand eines großen Herstel-
lers, der anonym bleiben wollte. Der
Druck auf die Aktienkurse würde da-
mit aber noch weiter ansteigen.
Der Einbruch an den Börsen sorgt
schon jetzt für wilde Spekulationen
über eine mögliche Übernahme von
Daimler durch die chinesischen
Großaktionäre BAIC und Geely-Grün-
der Li Shufu. Finanzexperten halten
eine solche Übernahme zwar für
sehr unwahrscheinlich. Brecht beton-
te aber: „Unser Börsenkurs ist ein
Schnäppchen, wir werden daher
wachsam sein müssen.“
Daimlers oberster Arbeitnehmer-
vertreter mahnt aber auch an ande-

rer Stelle: „Es gibt ein Leben nach
Corona. Dafür müssen wir uns rüs-
ten.“ So tüfteln etwa Mercedes-Inge-
nieure trotz Produktionsstopp weiter-
hin an der Fertigstellung der neuen
S-Klasse. Das Flaggschiff der Marke
mit dem Stern soll Ende des Jahres
vom Band rollen.
Brecht fürchtet, dass der Shut-
down der deutschen Automobilpro-
duktion noch über Mitte April hinaus

anhalten könnte. „Wir werden sehen
müssen, wie die Gesamtsituation und
damit die Nachfrage sich entwi-
ckeln.“ Die Frage, wie lange die Ar-
beit in den Fabriken ruhen müsse,
könne heute niemand realistisch be-
antworten.
Klar ist aus seiner Sicht, dass die
Produktion nach dem abrupten
Stopp eher schleppend anlaufen
dürfte. „Gleich auf Volllast werden

wir nicht gehen können“, sagte
Brecht. Alleine schon aufgrund der
verschärften Hygienemaßnahmen
müsste die Arbeit am Band entzerrt
werden. Er erwartet zudem Engpäs-
se bei den Zulieferern. „Da ist es wie
nach einer Vollsperrung auf der Au-
tobahn. Wenn die aufgehoben wird,
dann rollt der Verkehr nach dem
Stau erst nach und nach an.“
Gerade in Italien und Spanien, den
beiden europäischen Ländern, die
besonders mit der Eindämmung der
Pandemie zu kämpfen haben, steht
die Produktion für unbestimmte Zeit
still. Daimler ist wie VW und andere
Hersteller auf eine Zulieferung aus
diesen beiden Staaten angewiesen.
Derzeit werde nach Alternativen ge-
sucht, mit denen die Ausfälle kom-
pensiert werden könnten, hieß es in
den Reihen der Unternehmen.
Noch wichtiger für die Autoindus-
trie ist aber, dass die Nachfrage zügig
wieder anspringt. Aktuell haben Eu-
ropäer und Amerikaner andere Sor-
gen, als sich über eine Anschaffung
eines Neuwagens Gedanken zu ma-
chen. Konkrete Absatzzahlen haben
die Unternehmen bislang nicht be-
kanntgegeben. Als in China aber die
Fabriken bereits Anfang Februar we-
gen des Coronavirus schließen muss-
ten, war die Nachfrage um über 80
Prozent gefallen. In Europa und den
USA dürfte es kaum besser aussehen.

Hoffen auf China
Mittlerweile gilt China aber vielen in
der Industrie als Blaupause für die
weitere Entwicklung. So sieht etwa
Daimler-Chef Ola Källenius das Ge-
schäft in Fernost nach dem herben
Einbruch mittlerweise fast wieder auf
dem normalen Niveau angekommen.
Die Mercedes-Fabriken in Peking
dürften in einigen Wochen schon
wieder mit voller Auslastung produ-
zieren, erklärte Källenius Anfang der
Woche im Handelsblatt-Interview:
„Tag für Tag kommen mehr Men-
schen in die Autohäuser. Die Nachfra-
ge zieht an.“
Doch Skepsis ist angebracht. An-
dreas Radics, Partner bei Berylls Stra-
tegy Advisors, geht davon aus, dass
der globale Autoabsatz dieses Jahr
um etwa zehn Prozent schrumpfen
wird. Es sei aber nach wie vor zu
früh, den Einfluss der Pandemie auf
die Autoindustrie genau zu beziffern,
mahnt der Branchenexperte. „Aber
ich gehe davon aus, dass wir bisher
nur einen Bruchteil der Verwerfun-
gen sehen. Nicht zuletzt, weil sich
mittelfristig auch das Verhalten der
Konsumenten ändern wird“, sagt Ra-
dics. „Nur Hersteller, die schnell eine
neue Strategie für Produktion, Han-
del und Modellportfolio entwickeln
und damit auf die Krise flexibel rea-
gieren können, werden mit einem
blauen Auge davonkommen.“
Daimler hat immerhin die Zeit ge-
nutzt, als in China die Werke bereits
stillstanden, um sein Luxusmodell
S-Klasse in Europa vorzuproduzie-
ren, heißt es in Konzernkreisen. Die-
se Lagerbestände würden nun nach
Asien verschifft, um die anziehende
Nachfrage dort zu bedienen. Der
Konzern baut seine Edellimousine
ausschließlich in seiner Fabrik in Sin-
delfingen, die jetzt auch stillgelegt
wird. Mit dem Export der S-Klasse
bekommt Daimler nun zumindest et-
was Geld in die Kasse. Liquidität si-
chern hat höchste Priorität. „Cash is
king“, bemerkte ein Vorstand dazu.

Automobilindustrie


Die Bänder stehen


noch länger still


Daimler macht seine Fabriken in Europa für zwei weitere


Wochen dicht. Der Mercedes-Hersteller schickt wie VW


und Opel Zehntausende Mitarbeiter in Kurzarbeit.


Mercedes-Lkw:
Die Arbeit in den
Fabriken der Marke
mit dem Stern ruht.

Daimler AG

Unternehmen & Märkte
WOCHENENDE 27./28./29. MÄRZ 2020, NR. 62
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