Gastbeitrag
Der Sieger dieser Tage steht schon fest: Amazon!
Von Raoul Roßmann
A
bhängig von Branche und
Blickwinkel, ob man Arbeit-
nehmer oder Unternehmer
ist, verändert sich die gefühlte Corona-
Zeitzone, in der jeder Einzelne von
uns aktuell steckt.
Im Zuge der ersten Coronawelle in
China trafen uns Anfang Februar die
ersten Ausläufer der Krise. Aktionswa-
re wurde verschoben oder aus ande-
ren Ländern bezogen. Ende Februar,
mit dem Überspringen des Virus nach
Italien, setzte die zweite Phase für uns
als Handelsunternehmen ein: Der Ver-
kauf von Seifen und Desinfektionsmit-
teln zog deutlich an. Erste Mitarbeiter
und Journalisten stellten die Frage, ob
wir auch in der Krise handlungsfähig
sein werden. Am 26. Februar bildete
sich unser Krisenstab und verabschie-
dete erste Hygienemaßnahmen.
Am 25. Februar begann die dritte
Phase, die vorerst bis zum 20. März an-
dauern sollte. In dieser Zeit erlebten
fast alle Sortimente eine geradezu vor-
weihnachtliche Nachfrage – aber natür-
lich unter einem anderen Vorzeichen.
Viele Mitarbeiter sahen sich Anfein-
dungen, Pöbeleien und in einigen Fäl-
len sogar körperlichen Übergriffen aus-
gesetzt. Unvergessen bleibt die Anliefe-
rung einer Ladung Toilettenpapier in
Duisburg unter Polizeischutz. Trotz sol-
cher Momente zeigte sich eine nie vor-
her da gewesene Solidarität und der
Stolz darauf, für die Grundversorgung
des ganzen Landes sorgen zu dürfen.
In der Firmenzentrale zog dagegen
eine unheimliche Ruhe ein. Verwais-
te Flure, der sonst so pulsierende
Bienenstock war ausgeflogen, aber
dennoch ist die auf gefühlte Klassen-
fahrtgröße zusammengeschmolzene
Truppe, die sich täglich sieht, ge-
meinschaftsstiftend, wie es vielleicht
nur zu Pionierzeiten von Rossmann
der Fall war. Tatendrang ist das beste
Mittel gegen Angst.
Viele Mitarbeiter sind im Homeof-
fice oder ausgerückt, um in unseren
Filialen zu helfen. Möglich wurde dies,
weil wir alles Unwesentliche einstell-
ten – Werbungen wurden gestrichen,
Social-Media-Postings auf die wichtigs-
ten Informationen reduziert, Kampa-
gnen verschoben. Der Schutz der Mit-
arbeiter und die Sicherstellung des
Warenflusses hatten und haben seit-
dem höchste Priorität. Die Lieferanten
produzieren durch zusätzliche Schich-
ten und die Konzentration auf wenige
Referenzen so viel wie noch nie – aber
die Hysterie wuchs leider schneller als
das Angebot.
Der Föderalismus und seine Sonder-
locken kommen erschwerend hinzu.
Ordnungsämter überbieten sich in er-
weiterten Allgemeinverfügungen. Die
Stadt Leverkusen verlangte die Auf-
nahme aller Kontaktdaten, Lüneburg
schrieb die Benutzung von Einkaufs-
wagen zur Einhaltung von Mindestab-
ständen vor – Handhygiene ade! Einige
Bundesländer untersagten zeitweise
den Verkauf drogeriefremder Sorti-
mente in unseren Filialen.
In Zeiten des Kalten Krieges und
noch lange danach hortete Deutsch-
land tonnenweise Lebensmittel, um
für den Fall der Fälle eine Notfallreser-
ve bereitstellen zu können. Das Schre-
ckensszenario des Kalten Krieges war
durch die Erlebnisse des Zweiten Welt-
kriegs keine abstrakte Bedrohung –
ganz anders als die Warnungen heute
von Wissenschaftlern und Menschen
wie Bill Gates vor einer Pandemie.
Erschreckend ist, dass es kein zen-
trales Beschaffungsmanagement auf
Bundesebene für dringend benötigte
Schutzausrüstung gibt, das Pflegekräf-
te, Ärzte und Feuerwehr mit dem Not-
wendigsten versorgt. Allein Rossmann
vermittelte in den letzten Wochen
über 100 000 FFP2-Masken und große
Mengen an Handdesinfektion zum
Selbstkostenpreis an die Einrichtun-
gen der Region Hannover. Andere, die
nicht das Glück eines großen Handels-
unternehmens vor Ort haben, wie der
Landkreis Heinsberg, wenden sich in
ihrer Verzweiflung an China.
Seit der Verhängung der Kontakt-
sperre und der Klarstellung, welche
Einzelhändler weiterhin öffnen dür-
fen, scheint sich die Lage etwas zu be-
ruhigen. Im Gegensatz zu anderen
Landesgesellschaften scheint der
Rückfall der Umsätze eher geringer
auszufallen, da die Kontaktsperre als
weniger dramatisch wahrgenommen
wird als die allgemeinen Ausgangs-
sperren anderer Länder. Es bleibt zu
hoffen, dass wir einer weiteren Ver-
schärfung entgehen.
Der Sieger dieser Tage steht schon
fest: Amazon! Studiert man die Goo-
gle-Anfragen der letzten Wochen,
wird deutlich, dass Amazon in den
USA ein ähnlich starkes Interesse auf
sich zieht wie sonst nur kurz vor
Weihnachten. Da der gesamte Spiel-
warenfachhandel eine Zwangspause
einlegt, konzentriert sich das Oster-
geschäft fast vollständig auf einen
einzigen Händler. Viele Einzelhändler
waren bereits vor der Krise angezählt
und hatten mit der wachsenden Kon-
kurrenz des Onlinehandels zu kämp-
fen. Der Traffic-Vergleich verschiede-
ner Portale, wie beispielsweise
Douglas.de, zeigt aber auch, dass der
Onlinehandel nicht zwangsläufig von
den flächendeckenden Schließungen
profitieren kann.
Die Menschen halten ihr Geld zu-
sammen. Die Schließungen der letzten
und der noch kommenden Wochen
werden für viele stationäre Händler, al-
ler Voraussicht nach, das Ende bedeu-
ten, und unsere Innenstädte werden
so weiter an Bedeutung verlieren.
Eine Frage bleibt: Wie soll die
Menschheit eine angemessene und
schnelle Reaktion auf die viel abstrak-
tere Gefahr des Klimawandels finden,
wenn bereits eine laufende Pandemie
in einer globalisierten Welt bis zuletzt
auf so viel Skepsis stößt? Welches Fa-
nal braucht es, dass wir entschlossen
auf den Klimawandel reagieren? Viel-
leicht hilft auch die aktuelle Situation
bei der Bewältigung dieser Krise. Mel-
dungen über kristallklares Wasser in
den Lagunen Venedigs durch die Aus-
setzung des Schiffverkehrs und auch
die Linderung von Atemwegserkran-
kungen durch den Rückgang an Smog
zeigen, was es zu gewinnen gibt, wenn
die Welt in diesen Tagen innehält.
WITTERS
Raoul Roßmann
ist Geschäftsführer
der inhaberge -
führten Drogerie -
marktkette
Rossmann und
Sohn von Gründer
Rossmann Dirk Roßmann.
Unvergessen
bleibt die
Anlieferung
einer Ladung
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papier unter
Polizeischutz.
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