Handelsblatt - 27.03.2020

(Tina Meador) #1
Die Euro-Frage
WOCHENENDE 27./28./29. MÄRZ 2020, NR. 62
52

Y


uval Harari ist pünktlich: Um exakt
10.30 Uhr ruft der israelische Star-
Autor wie vereinbart an. Persönliche
Treffen werden auch in Israel wegen
der Ansteckungsgefahr derzeit ver-
mieden. Welche Konsequenzen zieht der Histori-
ker, der als einer der einflussreichsten Denker
unserer Zeit gilt, aus der Corona-Pandemie?
Harari, dessen Terminplan bis auf die letzte
Minute durchorganisiert ist, wird im Interview
seinem Ruf gerecht, Trends aufzuspüren und
pointiert in einen größeren Zusammenhang zu
stellen. „Krisen beschleunigen historische Pro-
zesse“, sagt er. „Ganze Länder sind jetzt ein riesi-
ges soziales Versuchslabor.“
Gerade deshalb kritisiert der Autor die fehlen-
de internationale Kooperation in der Krise – und
die fehlende gegenseitige Hilfe innerhalb der Eu-
ropäischen Union. „Gerade jetzt hätte die Euro-
päische Union ihren Nutzen unter Beweis stellen
sollen.“ Wenn sich die Zusammenarbeit und So-
lidarität in der EU nicht verbessere, warnt Harari,
verstärke dies die Krise. Und: „Es wäre auch ein
schrecklicher Rückschlag, vielleicht sogar ein
tödlicher für das Projekt der europäischen Ein-
heit.“

Herr Harari, in Ihrem Buch „21 Lektionen für
das 21. Jahrhundert“ schreiben Sie, die Mensch-
heit sei nie zuvor stärker gewesen als jetzt. Sind
Sie angesichts der Coronakrise immer noch so
zuversichtlich?
Wir haben zwar ein System aufgebaut, das die
Möglichkeiten von Epidemien ignoriert. Wir ha-
ben sie beim Bau unserer Welt nicht berücksich-
tigt, weil wir glaubten, dass das Gesundheits -
system in der Lage sein werde, der Ausbreitung
der Epidemie einen Riegel vorzuschieben. Wir
sind mächtig und stark – aber eben nicht derma-
ßen mächtig und stark. Unsere komplexe Gesell-
schaft ist viel zerbrechlicher als diejenige im Mit-
telalter. Aber wir sind besser ausgerüstet als je zu-
vor in der Geschichte der Menschheit, um Ant-
worten auf diese Art von Epidemie zu finden.
Wenn man sich mitten in der Krise befindet,
sieht es natürlich nicht danach aus. Doch wir ha-
ben alles, was wir benötigen, um sie zu überwin-
den.

Was macht Sie da so sicher?
Während früheren Epidemien war die Unwissen-
heit das Schlimmste, zum Beispiel während der
Pest im Mittelalter. Niemand wusste damals, wes-
halb die Menschen starben, wie sich die Krank-
heit ausbreitete und was man dagegen unterneh-
men könnte. Heute ist das anders. Es dauerte
bloß zwei Wochen, bis das Virus und dessen ge-
netische Sequenz identifiziert waren, das die Epi-
demie verursacht, und eine verlässliche Testme-
thode zu entwickeln, um die Krankheit zu identi-
fizieren.

Diese Kenntnis vermag freilich noch nicht wirk-
lich zu beruhigen ...
Weil wir im Laufe unseres Lebens noch nie so et-
was erlebt haben. Sogar meine Großmutter, die
jetzt 98 Jahre alt ist, hat eine derartige Krise nie
durchgemacht. Sie wurde kurz nach der Spani-
schen Grippe von 1918 geboren.

Sehen Sie eine neue Ära der Selbstversorgung –
und ein Ende der Globalisierung?
Das wäre eine große Katastrophe. Denn viele
Länder sind heute nicht in der Lage, sich selber
zu ernähren. Wenn man den internationalen
Handel unterbindet, würde das zu einer Massen-
Hungersnot und zu Unruhen auf den Straßen
führen. Wer glaubt, dass nach dem Ende der Epi-
demie jedes Land zum Selbstversorger werden
muss, zieht die falschen Schlüsse.

Weshalb genau?
Erstens wird das keinen Schutz vor künftigen Epi-
demien bieten. Epidemien breiteten sich schon

im Mittelalter aus, als es weder Flugzeuge noch
Kreuzfahrtschiffe gab, sondern bloß Pferde oder
Esel, um sich fortzubewegen. Man muss bis ins
Steinzeitalter zurückgehen, um eine Gesellschaft
zu finden, die vor Epidemien vollkommen ge-
schützt war, weil sie isoliert war.

Und zweitens?
Zweitens ist nicht Isolation, sondern Information
das Gegenmittel zur Epidemie. Wir brauchen ver-
lässliche und gute Informationen, die sowohl auf
der Länderebene als auch auf der Ebene der In-
dividuen geteilt werden. So können Länder, die
mit der Epidemie bereits Erfahrung gesammelt
haben, andere Länder über die Symptome und
effektive Gegenmaßnahmen informieren. Natür-
lich müssen wir die Grenzen im Epidemiefall
schließen, aber das sollte nur auf der Basis einer
internationalen Kooperation erfolgen.

Was bedeutet die Kooperation genau?
Dass man die Informationen austauscht. Denn
die Probleme europäischer Regierungen sind die-
selben, mit denen China, Südkorea oder Taiwan
konfrontiert sind. Deshalb kann Europa von die-
sen Ländern lernen.

Obwohl die politischen und wirtschaftlichen
Systeme sehr verschieden sind?
Man muss ja nicht alles 1:1 kopieren. Ein demokra-
tisches Land wie Taiwan ist gegen die Epidemie
sehr effizient, aber anders vorgegangen als China.
Es braucht deshalb eine globale Kooperation.

Wird es nach „Corona“ eine neue Weltordnung
geben?
Das halte ich für sehr wahrscheinlich.

In welche Richtung könnte sich diese entwi-
ckeln?
Es kann zu mehr Isolationismus mit weniger ge-
genseitigem Vertrauen führen – eine Entwick-
lung, die wir bereits in den vergangenen Jahren
beobachtet haben. Der Trend könnte aber auch
in die gegenteilige Richtung gehen, falls die Län-
der realisieren, wie stark wir alle voneinander
abhängig und dass sie denselben Gefahren aus-
gesetzt sind. Ich hoffe deshalb, dass diese Krise
zu einer stärkeren globalen Solidarität führen
wird.

Diese Krise ist weltweit ein Stresstest für alle
Ideologien. Wie schneiden diese im Vergleich
ab?
Ich kann den einzelnen Ländern keine Noten ge-
ben, dazu fehlen die Daten. Aber eines kann ich
sagen: Die internationale Kooperation ist
schlecht. Es wurde kein globaler Plan entwickelt.
Die USA, die in den vergangenen Jahrzehnten die
Rolle eines globalen Leaders innehatten, haben
sich im Jahr 2016 zurückgezogen. Das ist
schlimm, weil wir eine globale Führung brau-
chen.

Auch die EU verfolgt keine gemeinsame Strate-
gie.
Das ist ebenfalls beunruhigend. Denn gerade
jetzt hätte die Europäische Union ihren Nutzen
unter Beweis stellen sollen, und die einzelnen
Staaten hätten einander beistehen müssen. Chi-
na hat die Krise gemeistert, weil es eine ganze
Region abriegeln konnte ...

... Sie sprechen von Hubei.
Andere Regionen unterstützten die Provinz Hu-

Jonas Holthaus/laif

„Wir brauchen

eine globale

Führung“

Der Bestsellerautor über die Frage, welche Folgen


die Corona-Pandemie langfristig für die Europa-Idee,


für die Weltordnung und für unser Verhältnis zur


Technik haben könnte.


Yuval Noah Harari


Wenn wir


nicht auf der


Hut sind,


könnte diese


Krise eine


Wende in der


Geschichte der


Überwachung


bedeuten.

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