Die Euro-Frage
WOCHENENDE 27./28./29. MÄRZ 2020, NR. 62
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bei und deren Hauptstadt Wuhan mit ökonomi-
scher Hilfe, medizinischen Geräten oder Nah-
rungsmitteln. In Europa bestünde die Chance,
dasselbe zu tun. Falls sich die einzelnen Staaten
nicht gegenseitig helfen, verschlimmern sie nicht
nur die gegenwärtige Krise. Es wäre auch ein
schrecklicher Rückschlag, vielleicht sogar ein
tödlicher für das Projekt der europäischen Ein-
heit. Falls in einer derartigen Krise jedes EU-
Land nur für sich selber sorgt, werden die Staa-
ten, wenn die Krise einmal vorbei ist, ihre Konse-
quenzen ziehen, weil sie realisieren, dass es nicht
funktioniert.
Grundfreiheiten werden eingeschränkt. In Isra-
el oder Taiwan werden zum Beispiel Handy -
daten eingesetzt, um Bewegungsdaten zu erhal-
ten, auch in anderen Ländern wird das Digital
Tracking diskutiert. Werden Überwachungs-
technologien künftig hemmungsloser eingesetzt
als bisher?
Es ist eine große Gefahr, dass das, was jetzt als
Notmaßnahme beschlossen wird, auch nach
der Überwindung der Krise praktiziert wird.
Dass Regierungen und Unternehmen neue
Technologien benutzen, um Bürger oder Kon-
sumenten zu überwachen und zu manipulie-
ren, ist zwar nicht neu. Wenn wir aber nicht
auf der Hut sind, könnte diese Krise eine wich-
tige Wende in der Geschichte der Überwa-
chung bedeuten. Die Leute haben sich dann ja
bereits daran gewöhnt, dass sie überwacht
werden und dass es für ihre Gesundheit von
Vorteil ist, und werden es deshalb eher akzep-
tieren. Was wir vor zehn Jahren noch für Sci-
ence-Fiction hielten, sind heute bereits News
von gestern.
Ist das das Ende des Liberalismus?
Ich hoffe nicht. Wer glaubt, dass Diktaturen bes-
ser mit dieser Art von Krisen umgehen können
als Demokratien, liegt falsch. Das Gegenteil ist
der Fall. Eine gut informierte Bevölkerung, die
versteht, was getan werden muss und die mit den
Behörden freiwillig kooperiert, ermöglicht eine
viel effizientere Abwehr als eine schlecht infor-
mierte Bevölkerung, die von der Polizei über-
wacht werden muss. Man kann ja nicht in jede
Wohnung einen Polizisten abkommandieren, der
kontrolliert, ob man die Hände gut genug wäscht.
Bietet diese einschneidende Krise denn auch
Chancen?
Eine große Chance sehe ich darin, dass die globa-
le Kooperation intensiviert wird, weil man be-
greift, dass bei künftigen Krisen ebenfalls eine
globale Kooperation nötig sein wird. Zudem ex-
perimentieren die Menschen jetzt auf der Mikro-
ebene mit neuen Technologien, und nicht alle
sind schlecht.
Geben Sie uns ein Beispiel.
Meine Universität ...
... die Hebräische Universität in Jerusalem ...
... ist wegen der Ansteckungsgefahr dazu überge-
gangen, die Kurse online zu stellen. Ich hoffe na-
türlich, dass wir eines Tages wieder zu den inti-
meren Vorlesungen im Hörsaal zurückfinden
werden. Aber es ist ein riesiges Experiment, das
wir sonst nicht gewagt hätten, und wir können
daraus viel lernen für die Zeit nach der Krise.
Denn Krisen beschleunigen historische Prozesse.
Ganze Länder sind ja jetzt ein riesiges soziales
Versuchslabor.
Welche Prozesse werden in diesen Versuchs -
laboren noch beschleunigt?
In vielen Fällen ersetzen Roboter Menschen, und
sie werden nicht verschwinden, wenn die Krise
einmal vorbei ist. Denn Roboter haben den Vor-
teil, dass sie nicht infiziert werden können. Die
aktuelle Krise verstärkt jetzt einen Trend, der vor
einigen Jahren bereits eingesetzt hat. In norma-
len Zeiten hätte das vielleicht zehn Jahre gedau-
ert, jetzt aber setzt sich das viel schneller durch.
Wir werden in einer anderen Welt leben, wenn
die Krise vorbei ist.
Herr Harari, vielen Dank für das Interview.
Die Fragen stellte Pierre Heumann.
Inspektion von Schutzmasken in China: „Diktaturen können nicht
Xinhua / eyevine / laif besser mit dieser Art von Krisen umgehen als Demokratien.“
Wir werden
in einer
anderen Welt
leben,
wenn die Krise
vorbei ist.
Der Autor Der 44 Jahre alte Histori-
ker verknüpft in seiner Bestseller-
Trilogie „Eine kurze Geschichte der
Menschheit“, „Homo Deus“ und „21
Lektionen für das 21. Jahrhundert“
Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft und beschreibt makrohistori-
sche Prozesse. Unter anderem geht
es ihm um das Verhältnis zwischen
Geschichte und Biologie. Die ersten
beiden Bücher wurden in rund 50
Sprachen übersetzt. 2017 wurde
„Homo Deus“ mit dem Deutschen
Wirtschaftsbuchpreis des Handels-
blatts für das nachdenklichste und
einflussreichste Wirtschaftsbuch des
Jahres ausgezeichnet.
Der Historiker Harari ist Geschichts-
professor an der Hebräischen Univer-
sität in Jerusalem. Während seines
eigenen Studiums dort spezialisierte
er sich auf die Geschichte des Mittel-
alters und Militärgeschichte. Nach
der Promotion am Jesus College in
Oxford verlagerte er seine Forschung
auf makro-geschichtliche Fragen.
Seine Vorlesungen zur Weltge-
schichte wurden auf Youtube zum
Hit. Der vegan lebende Harari
schreibt regelmäßig Kolumnen für
die israelische Zeitung „Haaretz“.
Vita Yuval Noah Harari
Yuval Noah
Harari: 21 Lektio-
nen für das 21.
Jahrhundert
C.H. Beck
459 Seiten
24,95 Euro