Handelsblatt - 27.03.2020

(Tina Meador) #1

B


ereits vor der Coronakrise befanden
sich weite Teile der deutschen In-
dustrie in einer Rezession. Die Auto-
mobilindustrie kämpft schon seit ei-
nem Jahr mit rückläufigen Umsät-
zen. Dazu kommen die hohen Aufwendungen für
die Transformation hin zur Elektrifizierung und
zum automatischen Fahren.
Die Margen der Hersteller und Zulieferer hat-
ten sich schon vor Corona halbiert. Ähnlich er-
geht es anderen Bereichen: Der stark wachsende
Onlinehandel etwa setzt Ladenbesitzer seit Jah-
ren unter Druck.
So trifft der Shutdown große Teile der deut-
schen Wirtschaft in einer Phase der Schwäche.
Die gleichzeitigen Schocks auf der Angebots- und
der Nachfrageseite stellen eine noch nie da gewe-
sene Herausforderung dar. Insofern sind die
Maßnahmen unserer Bundesregierung wichtig
und richtig – bis jetzt hat sie einen guten Job ge-
macht.
Die Rettungsprogramme nehmen historische
Ausmaße an – aber Deutschland kann sich das
leisten. Jetzt zahlt es sich aus, dass gegen viele
Anfeindungen die solide Haushaltsführung mit
der „schwarzen Null“ und der Schuldenbremse
durchgehalten wurde.
Entscheidend aber wird sein, wie lange der
Shutdown dauert. Das Ifo-Institut hat die Grö-
ßenordnung des volkswirtschaftlichen Schadens
in verschiedenen Szenarien abgeschätzt. Das
Hochfahren nach dem Shutdown wird nicht pro-
blemlos verlaufen, weil beispielsweise in der Au-
tomobilindustrie die Versorgungspipelines leer
sind.
Ein weiteres Problem kann durch die phasen-
versetzte Stilllegung der Betriebe in den ver-
schiedenen Ländern entstehen. Wenn wir wieder
hochfahren wollen, sind Zulieferer in den USA
möglicherweise noch im Shutdown.
Ein Shutdown von drei Monaten führt aber
nicht nur zu riesigen finanziellen Herausforde-
rungen für die Staaten. Ein so langer Stillstand
der Wirtschaft wird zum Sterben Tausender Un-
ternehmen führen. Dies wäre dann ein irrepa-
rabler Schaden, der mit Rettungsgeldern nicht
behoben werden kann.
Insofern ist die Dauer des Shutdowns entschei-
dend. Es bleibt zu hoffen, dass die jetzt konse-
quent umgesetzten Regelungen zur Kontaktredu-
zierung möglichst schnell zu massiv rückläufigen
Infektionszahlen führen. Idealerweise sollte die
Wirtschaft nach der Osterwoche wieder gestartet
werden. Dann wäre der Schaden dieser Krise
noch erträglich. Jede weitere Woche führt zu
überproportionalen Langzeitschäden.


Es wird schwierig sein, die Wirtschaft
zu revitalisieren


Da nach Beendigung des Shutdowns das Virus
noch nicht vollständig verschwunden sein wird,
kommt es sehr darauf an, welche Regelungen
dann zu gelten haben. Realistischerweise wird
noch Monate nach Beendigung des Stillstands
keine Impfung verfügbar sein. In dieser kriti-
schen Phase wird man nicht umhinkommen, be-
sondere Schutzmaßnahmen für ältere Menschen
und Personen mit geschwächtem Immunsystem
oder Lungenerkrankungen zu ergreifen. Idealer-
weise würden schon jetzt die Kriterien für die
verschiedenen Risikogruppen erarbeitet. Ande-
rerseits ist es undenkbar, den Shutdown so lange


auszudehnen, bis ein Impfstoff verfügbar ist.
Dann wäre ein Teil der Wirtschaft nur sehr
schwierig oder gar nicht mehr zu revitalisieren.
So kommt die Politik an der kritischen Abwägung
zwischen der Länge des Shutdowns und dem Ri-
siko für die Bevölkerung nicht umhin.
Dieses Dilemma, entscheiden zu müssen zwi-
schen wirtschaftlicher Sicherheit und der Infekti-
onsgefahr für die Menschen, wird möglicherwei-
se zu einer langwierigen und emotionalen Ausei-
nandersetzung führen. Wichtig wäre, diesen
unvermeidbaren Entscheidungsprozess mög-
lichst frühzeitig zu starten. Sonst besteht die Ge-
fahr, dass die Dauer des Shutdowns allein da-
durch verlängert wird.
Wie wird die Welt nach dieser Coronakrise aus-
sehen? Einige Annahmen lassen sich jetzt schon
treffen. Der Staat wird sich an vielen Unterneh-
men beteiligen, um sie zu stärken. Allerdings
stellt sich dann die Frage, was dieser Staatsein-
fluss für die Unternehmen über die Zeit bedeu-
tet.
Fast alle Länder Europas werden danach eine
sprunghaft angestiegene Verschuldung aufwei-
sen. Die Bilanz der EZB wird massiv ansteigen.
Große Summen werden über den Rettungs-
schirm ESM zu finanzieren sein. Problematisch
ist dabei, dass die hier zugesagten Beträge völ-
kerrechtlich verbindlich sind und am Parlament
vorbei wirksam werden.
Es besteht die große Gefahr, dass bei der gigan-
tischen Rettungsaktion alle Dämme brechen und
alle Regeln beiseitegeschoben werden. Es steht
uns der große Test für die Marktwirtschaft bevor.
Dazu kommt, dass schon in den letzten Jahren
zahlreiche Zombie-Unternehmen und -Banken
durch die Politik des billigen Geldes am Leben
erhalten wurden. Der Selbstreinigungsprozess
der Marktwirtschaft wurde unterdrückt. Es sind
genau diese Unternehmen, die jetzt in so einer
Krise als erste in Schwierigkeiten kommen. Lei-
der rächt es sich immer, notwendige Marktberei-
nigungen zu unterlassen und das Problem weiter
in die Zukunft zu rollen.
Es ist richtig, jetzt einige wichtige Regeln tem-
porär auszusetzen, um schnell und wirksam hel-
fen zu können. Es darf aber nicht sein, dass diese
Krise von politischen Kräften missbraucht wird,
um nun die lange herbeigesehnten Maßnahmen
zur Aushebelung der Marktwirtschaft umzuset-
zen und Europa zu einer Haftungsunion mit ei-
ner Ausrichtung hin zur Planwirtschaft auszu-
bauen. Deshalb sind die schon wieder in Diskus-
sion befindlichen Euro-Bonds strikt abzulehnen.
Ansonsten richten sich Länder wie Italien dauer-
haft in der Bezuschussungsmentalität ein und
stellen ein Fass ohne Boden dar. Weshalb sollen
solide wirtschaftende Länder für die Misswirt-
schaft anderer dauerhaft bezahlen?
Unvermeidbar wird sein, dass die EZB zur fast
allmächtigen Instanz aufsteigen wird. Was
Deutschland anbetrifft, so braucht man keine
große Fantasie, um sich vorzustellen, dass diese
Krise genutzt werden wird, um eine neue Welle
von Forderungen nach Umverteilung einzuleiten.
Denn nun lassen sich im Ausnahmezustand mü-
helos und in Windeseile viele Maßnahmen in
Gang setzen, die lange gefordert, aber nie reali-
siert wurden. Schon bevor die ersten Hilfsgelder
ausbezahlt werden, ist der Ruf nach höheren
Steuern, Einmalabgaben oder einem zusätzli-
chen Soli zu vernehmen.

Statt jetzt im Reflex an Steuererhöhungen zu
denken, sollte möglichst schnell die längst überfäl-
lige große Steuerreform für Unternehmen umge-
setzt werden. Die Steuerquote deutscher Unter-
nehmen rangiert weltweit gesehen ganz oben. Ge-
rade für die Erholungsphase nach dieser schweren
Krise wäre es eine wichtige Erleichterung für un-
sere Wirtschaft, um schnelles Wachstum zu be-
günstigen.

Das größte Problem in dieser Krise
ist Italien
Das ganz große Problem in Europa aber wird Ita-
lien darstellen. Hier wurden über Jahrzehnte über-
fällige Strukturreformen unterlassen und mit billi-
gem Geld der EZB zugedeckt. Die Coronakrise lässt
nun diese Probleme aufbrechen. Corona ist dabei
der Auslöser, nicht aber die Ursache der großen
Schwierigkeiten. In Italien werden immense Grö-
ßenordnungen von Rettungsgeldern zu bezahlen
sein, große Teile davon aber nicht dort ankommen,
wo sie gebraucht werden. So geschehen beim Wie-
deraufbau von Aquila nach dem Erdbeben oder
beim Bau des Sturmflut-Sperrwerks in Venedig.
Europa wird nach dieser Krise ein anderes
Europa sein. Gigantische Schulden und riesige Um-
verteilungsmechanismen sind programmiert. Wenn
dann, wie zu erwarten, das ohnehin schwache
Wachstum der letzten Jahre zu einer Stagnation
führt, ist auch eine hohe Inflation zu befürchten.
Dieses wäre das Szenario, das es mit allen Mitteln
zu verhindern gilt – denn aus einer Stagflation zu
entkommen ist schwer. Deshalb wird es so immens
wichtig sein, den Shutdown, wenn es nur irgendwie
verantwortbar ist, so schnell wie möglich zu been-
den. Möglichst in der Woche nach Ostern sollte die
Wirtschaft wieder in Gang gesetzt werden. Andern-
falls wird der Preis unverhältnismäßig hoch.
Europa darf nicht als Folge dieser großen Krise
zum Kontinent der Umverteilung über eine Haf-
tungsunion werden. Europa kann bei seiner al-
ternden Bevölkerung und den teuren Sozialsyste-
men seinen Wohlstand nur halten mit Innovatio-
nen, neuen Technologien und Freude an
Kreativität. Dazu muss Unternehmertum und Leis-
tung belohnt werden. Die einseitige Interpretation
von Gerechtigkeit als Gleichheit ist Gift für das
Schaffen von Werten und die Motivation der Tüch-
tigen. Die Gefahr ist groß, dass dies in dieser histo-
rischen Krise vergessen werden wird.
Der „Sieger“ dieser einzigartigen Krise aber
steht ohnehin schon fest. The winner is China!
Dort wurde mit großer Disziplin das Virus be-
kämpft, und die Wirtschaft läuft schon wieder
hoch. Während Europa und phasenversetzt die
USA erst am Beginn der Viruswelle stehen, kann
China die Schwächephase des Westens zu seinem
Vorteil nutzen. Die Gefahr besteht, dass einige un-
serer Schlüsselunternehmen zum Schnäppchen-
preis gekauft werden und China Marktanteilsge-
winne realisiert.
Auch deshalb darf unsere Wirtschaft nicht zu
sehr geschwächt aus dieser Krise hervorgehen –
die Wettbewerbsfähigkeit würde massiv leiden.
Es geht bei dieser Krise um mehr als um einige
Hundert Milliarden Euro – es geht um den Wohl-
stand Europas und die Gesellschafts- und Wirt-
schaftsordnung, die unser Leben bestimmen.

Die Welt nach


Corona


Die Pandemie wird nachhaltige Folgen für


unsere Marktwirtschaft haben, wenn wir jetzt


nicht richtig handeln, meint Wolfgang Reitzle.


Es ist wichtig,


den Shut -


down, wenn


es irgendwie


verantwort -


bar ist, so


schnell wie


möglich zu


beenden.


Möglichst in


der Woche


nach Ostern


sollte die


Wirtschaft


wieder in Gang


gesetzt werden.


Andernfalls


wird der Preis


unverhältnis -


mäßig hoch.


Der Autor ist Vorsitzender des Aufsichtsrats
der Continental AG und Vorsitzender des
Board of Directors bei Linde plc.

picture alliance / dpa [M]

Gastkommentar
WOCHENENDE 27./28./29. MÄRZ 2020, NR. 62
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