Handelsblatt - 27.03.2020

(Tina Meador) #1
Barbara Gillmann, Dietmar Neuerer, Moritz
Koch, Donata Riedel, Gregor Waschinski Berlin

N


ach Ostern könnte es so weit sein. Die
drastischen Einschränkungen, die Ge-
sellschaft und Wirtschaft in der Coro-
nakrise auferlegt wurden, könnten
gelockert werden. Die Bundesregie-
rung arbeite an einem „Gesamtkonzept“ für einen
Ausstieg aus dem kollektiven Stillstand, sagte Bun-
desgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Don-
nerstag. Die Voraussetzung sei aber, dass die Aufla-
gen der Behörden bis dahin „konsequent“ einge-
halten würden, mahnte er. Und ob die erlassenen
Maßnahmen wirken, werde sich erst in einigen Ta-
gen in der Infektionsstatistik niederschlagen. Es
gibt also Hoffnung für eine vorsichtige Rückkehr
zur Normalität. Eine Garantie dafür gibt es nicht.
Bund und Länder meiden konkrete Aussagen zu
ihrer Exitstrategie, sie wollen nicht zu früh zu viele
Erwartungen wecken. Doch fest steht: Wenn die
Politik Deutschland wieder öffnet, wird das stufen-
weise erfolgen. Außerdem müssen die Rahmenbe-
dingungen für einen kontrollierten Abbau der Frei-
heitsschranken stimmen: Dazu gehören umfangrei-
che Testmöglichkeiten sowie mehr Personal in den
Gesundheitsämtern und digitale Lösungen, um
Kontakte von Infizierten nachzuverfolgen. Die In-
tensivkapazitäten in Krankenhäusern müssen deut-
lich aufgestockt sein, um jene Patienten am Leben
halten zu können, bei denen die vom Coronavirus
ausgelöste Atemwegserkrankung einen schweren
Verlauf nimmt.
„Es wird auch eine Zeit nach Corona geben“, sag-
te Spahn. „Und es wird eine Zeit geben, in der wir
weiter gegen das Virus kämpfen, uns aber schritt-
weise normalisieren.“ Die große Frage ist aber,
wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, diesen
Prozess einzuleiten. In der Antwort versteckt sich
auch jene makabre Güterabwägung, die gegenwär-
tig alle vermeiden wollen: Wie hoch muss das Risi-
ko für Menschenleben sein, damit weiterer wirt-
schaftlicher Schaden und die Gefahr von sozialem
Unfrieden gerechtfertigt sind?

Bürger bleiben ruhig
In der Bevölkerung treffen die für die Bundesrepu-
blik beispiellosen Einschränkungen der persönli-
chen Freiheit noch auf große Zustimmung. In einer
Erhebung des Meinungsforschungsinstituts YouGov
für die Deutsche Presse-Agentur zeigten sich 88
Prozent der Befragten mit den Maßnahmen einver-
standen. Jeder Dritte wünscht sich sogar noch här-
tere Einschränkungen. Und fast zwei Drittel der Be-
fragten rechnen auch damit, dass die Regeln noch
einmal verschärft werden.
Doch in den vergangenen Tagen mehrten sich
auch die Forderungen, einen Weg aus dem Aus-
nahmezustand zu finden. Der Städte- und Gemein-
debund warnte, man dürfe nicht das gesamte Land
„langfristig lahmlegen“. Das betreffe vor allem die
Frage, ob Schulen und Kindergärten nach den
Osterferien wieder öffnen können. Auch Deutsch-
lands Spitzenökonomen wünschen sich eine Per-
spektive. Der Wirtschaftsweise Volker Wieland sag-
te dem Handelsblatt: „Eine Exitstrategie aus dem
Shutdown kann aber nicht nur nach ökonomi-
schen, sondern muss vor allem auch nach epide-
miologischen Kriterien bestimmt werden. Das
muss man sorgsam ausbalancieren.“ Unionsfrakti-
onsvize Carsten Linnemann forderte, die Wirt-
schaft in Deutschland spätestens nach Ostern
„schrittweise“ wieder hochzufahren.
Dagegen hält Bundesinnenminister Horst Seeho-
fer (CSU) nichts davon, die strengen Ausgehbe-
schränkungen vorzeitig wieder zu lockern. „Solan-
ge das Virus so wütet, ist der Schutz der Menschen
alternativlos“, sagte Seehofer der „Süddeutschen
Zeitung“. Auch die Weltgesundheitsorganisation
(WHO) warnte davor, Maßnahmen zu früh wieder
aufzuheben: „Das Letzte, was Länder nun brau-
chen, ist, dass Schulen und Unternehmen öffnen,
nur um dann wegen eines Wiederauflebens des Vi-
rus erneut zur Schließung gezwungen zu werden.“
Einen klaren Kompass kann in dieser schwieri-
gen Frage auch die Wissenschaft nicht geben. Eine
viel zitierte Studie des Londoner Imperial College

legt nahe, dass es noch über viele Monate die dras-
tischen Einschränkungen geben müsse, um die
Ausbreitung bis zur Entwicklung eines Impfstoffs
zu unterbinden. Aber ist das vorstellbar? Der Direk-
tor des Instituts für Virologie an der Universität
Bonn, Hendrik Streeck, sagt dagegen: „Es werden
viele Menschen mit dem Virus infiziert werden und
an Covid-19 erkranken, aber wir wollen die Infek-
tionen ja nicht komplett unterbinden und eine
breite Immunität in der Gesellschaft erreichen.“
Sonst würden die Probleme nur verschoben, dann
komme es irgendwann zu einem neuen Ausbruch.
„Zu dieser Exitstrategie fehlen bislang konkrete
Aussagen der Bundesregierung.“
Allerdings kristallisiert sich ein Weg heraus, den
Deutschland gehen könnte. Spahn sagte diese Wo-
che in einem „Zeit“-Interview: „Ich denke an Be-
schleunigen und Bremsen, an eine sorgfältige Ba-

lance zwischen Eigenverantwortung und staatli-
cher Kontrolle.“ Je nach regionaler Lage könne es
immer wieder zeitlich begrenzte Ausgangsbe-
schränkungen geben. Das öffentliche Leben könne
behutsam wieder anlaufen, aber nicht für alle. Für
Risikogruppen wie alte und chronisch kranke
Menschen könne es „möglicherweise über mehre-
re Monate“ die Vorgabe geben, ihre Kontakte stark
einzuschränken und im Zweifel zu Hause zu blei-
ben. Auch Kanzleramtschef Helge Braun (CDU)
sagte: „Die nächste Phase lautet natürlich: Junge
Menschen, die nicht zu den Risikogruppen gehö-
ren, dürfen wieder mehr auf die Straße.“
Außerdem blickt die Bundesregierung nach Süd-
korea, das den Ausbruch des Coronavirus ohne
Ausgangssperren in den Griff bekommen hat.
Nach Einschätzung des Virologen Streeck beruht
der Erfolg des Landes auf vier Pfeilern: „Die Be-

Ausweg aus dem

Corona-Koma

Die Rufe nach einer Lockerung der Maßnahmen gegen das Virus


werden lauter. Bund und Länder arbeiten bereits an einem


Exit-Plan. Spätestens nach Ostern soll die Entscheidung fallen.


Brandenburger Tor
ohne Touristen: Die
Einschränkungen
werden noch einige
Wochen anhalten.

Es wird eine


Zeit geben,


in der wir uns


schrittweise


normalisieren.


Jens Spahn
Bundesgesundheits -
minister

Wirtschaft


& Politik


WOCHENENDE 27./28./29. MÄRZ 2020, NR. 62
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