Handelsblatt - 27.03.2020

(Tina Meador) #1
Schritte in den Shutdown
Maßnahmen zur Infektionseindämmung
in Deutschland


  1. Februar
    Die ITB Berlin, die
    weltgrößte Reisemesse,
    wird abgesagt. Viele
    weitere Messen folgen.

  2. März
    Auf Empfehlung von
    Bundesgesundheits -
    minister Jens Spahn
    verbieten die Bundes -
    länder Veranstaltungen
    mit mehr als 1 000

  3. März Teilnehmern.
    Die Fußballbundesliga
    stellt den Spielbetrieb
    ein. Viele Theater,
    Konzerthäuser und
    Kinos schließen.

  4. März
    Viele Konzerne
    stellen ihre
    Produktion ein.

  5. März
    Bund und Länder einigen
    sich auf weitere Maßnah-
    men: Kontakte sollen auf
    ein Minimum reduziert
    werden, Treffen im öffent-
    lichen Raum sind in der
    Regel auf zwei Personen
    begrenzt. Gastronomie -
    betriebe werden geschlos-
    sen. Ordnungsämter und
    Polizei kontrollieren
    verstärkt.

  6. März Bund und Länder
    einigen sich auf umfang-
    reiche Maßnahmen: Die
    meisten Schulen schließen.
    Viele Geschäfte, Freizeit-
    einrichtungen, und Sport-
    stätten dürfen nicht mehr
    öffnen. Urlaubsreisen
    werden verboten.
    Gaststätten dürfen nach
    18 Uhr nicht mehr geöffnet
    haben. An Grenzen wird
    kontrolliert.

  7. März:
    In einer TV-Ansprache
    mahnt Bundeskanzlerin
    Angela Merkel Solidarität
    und Disziplin im Kampf
    gegen das Coronavirus an.
    Soziale Kontakte müssten
    minimiert werden.


hörden haben in der Bevölkerung umfangreich auf
das Virus getestet, die infizierten Menschen
schnell isoliert, potenzielle Kontaktpersonen aus-
findig gemacht und Betroffene früh behandelt.“
Auch der Chef der Wirtschaftsweisen, Lars Feld,
sagte dem Handelsblatt: „Es wäre gut, wenn es uns
gelänge, wie in Südkorea flächendeckend zu testen
und das Tracking der Kontakte von Infizierten da-
tenschutzkonform auszugestalten.“
Spahn wollte bereits in dieser Woche eine Geset-
zesänderung beschließen lassen, um für die Nach-
verfolgung von Risikokontakten auf Bewegungs-
profile von Mobilfunknutzern zugreifen zu können.
Angesichts von Datenschutzbedenken ruderte er
zurück und möchte eine Neuregelung zunächst
breiter diskutieren lassen. Am Donnerstag sagte er,
es gehe darum, „wie in Südkorea“ Handydaten zu
nutzen, um Infektionsketten zu brechen. Das kön-
ne den Bürgern ermöglichen, „bestimmte Freihei-
ten des Alltags leichter zurückzubekommen“.


App soll helfen


Digitalstaatsministerin Dorothee Bär sagte dem
Handelsblatt, dass es in der Bundesregierung Über-
legungen für eine „Corona-Tracking-App“ gibt. „So
eine digitale Anwendung wäre sinnvoll, um das Vi-
rus zielgerichtet einzudämmen.“ Datenschutzrecht-
lich spräche nichts dagegen, „da der Nutzer durch
den Download der App der Datennutzung zu-
stimmt“. Auch der Bundesdatenschutzbeauftragte
Ulrich Kelber hält eine Anti-Corona-App für mög-
lich. „Wenn die Nutzer einer App ihre freiwillige
Einwilligung zur Datenverarbeitung geben, könnte
eine technische Lösung zur Identifikation von Infek-
tionsketten sicher ein sinnvoller Beitrag zur Krisen-
bewältigung sein“, sagte Kelber dem Handelsblatt.
Bund und Länder sind bereits in der Abstim-
mung, die Voraussetzungen für eine schrittweise
Öffnung zu schaffen. In einer Telefonkonferenz ver-
einbarten Kanzleramtschef Braun und Vertreter


der Landesregierungen, die bei derzeit gut
300 000 Corona-Tests pro Woche liegenden Kapa-
zitäten deutlich zu erhöhen. Dazu könnten zum
Beispiel auch Labore aus dem Bereich der Veteri-
närmedizin genutzt werden, heißt es in einem in-
ternen Vermerk, der dem Handelsblatt vorliegt.
Außerdem sollen die Gesundheitsämter personell
verstärkt werden, mit Freiwilligen und Mitarbei-
tern aus anderen Bereichen der öffentlichen Ver-
waltung: „Das Ziel muss sein, schrittweise pro
20 000 Einwohner mindestens ein Kontaktnach-
verfolgungsteam aus fünf Personen kurzfristig in
den Einsatz bringen zu können.“
Das Bundesforschungsministerium will unterdes-
sen die Universitätskliniken in Deutschland enger
verzahnen, damit sie sich im Kampf gegen Covid-
besser und schneller austauschen können. Dafür
stellt Forschungsministerin Anja Karliczek für die
Jahre 2020 und 2021 insgesamt 150 Millionen Euro
bereit. Die Federführung übernimmt der Virologe
Christian Drosten von der Berliner Charité.
Bund und Länder stehen vor schweren Entschei-
dungen. Das RWI Leibniz-Institut für Wirtschafts-
forschung hat verschiedene Szenarien analysiert:
Würde man in Deutschland alle Kontaktverbote
aufheben und sich das Virus ungebremst ausbrei-
ten lassen, dann müssten innerhalb von sechs bis
sieben Wochen 80 Prozent der Menschen mit in-
tensivmedizinischem Bedarf in den Krankenhäu-
sern abgewiesen werden. Mehrere Hunderttausend
Todesfälle wären dann unvermeidbar. Wenn man
die derzeitigen Maßnahmen beibehielte, die Aus-
breitung des Virus so zu bremsen, dass alle, die es
brauchen, in den Krankenhäusern behandelt wer-
den könnten, seien immer noch 200 000 Todesfäl-
le zu erwarten. Der Shutdown müsste dafür min-
destens ein halbes Jahr durchgehalten werden. Als
einziger Ausweg, der Rezession und Krankenhaus-
überlastung vermeidet, bliebe laut RWI nur die
Südkorea-Strategie.

imago images/Emmanuele Contini

Christian Lindner

„Die Situation ist


unerträglich“


D


ie FDP trägt die drastischen Maßnahmen
der Bundesregierung in der Corona-Pan-
demie mit. Parteichef Christian Lindner
wünscht sich aber eine klarere Perspektive für ei-
ne Rückkehr zur Normalität.

Herr Lindner, auf welchen Virologen hören Sie
in der Krise?
Die Experten wechseln ihre Einschätzungen und
widersprechen sich. Das zeigt, dass wir es mit ei-
ner noch unbekannten Herausforderung zu tun
haben. Aus dem Grund sind die jetzigen Frei-
heitseinschränkungen leider verhältnismäßig,
weil es noch keine wissenschaftlich gesicherte
Gegenstrategie gibt. Es gilt im Moment das Vor-
sichtsprinzip.

Wie lange kann eine freiheitliche Gesellschaft
ohne nachhaltigen Schaden diese Einschnitte
ertragen?
Die Situation ist unerträglich. Die Dauer sollte
nur in Tagen und nicht in Monaten gerechnet
werden. Der Zustand führt zu psychologischen
Belastungen bei den Menschen, kann den sozia-
len Frieden bedrohen und der Wirtschaft irgend-
wann irreparablen Schaden zufügen. Der Staat
kann nicht auf Dauer kompensieren, wenn es so
gut wie keine Wertschöpfung mehr gibt. Es muss
daher eine Exitstrategie eingeleitet werden.

Und wie könnte die aussehen?
Das ist Aufgabe der Fachbehörden, aber Elemen-
te sind erkennbar. Wir müssen die Erfahrungen
zum Beispiel von Südkorea auswerten, die einen
Shutdown vermeiden. Es gilt, die personelle Aus-
stattung der Gesundheitsbehörden durch zeit-
weilige Abordnung zu verbessern, damit schon
rein administrativ Infektionsketten schneller
ermittelt werden können. Wir müssen
schneller und öfter auf Infektionen
testen. Und wir müssen die Intensiv-
medizin ausbauen, um Menschen
mit Komplikationen zu betreuen.
Schließlich sollten wir die Produk-
tion so umstellen, dass dringend
benötigtes Material wie Schutzklei-
dung und Beatmungs geräte herge-
stellt werden.

Wie groß ist der Schaden?
Er wird jeden Tag größer. Selbstständige,
Freiberufler, der Mittelstand und Familienunter-
nehmen könnten sehr schnell in eine existenzbe-
drohende Situation kommen, wenn wir das be-
schlossene Rettungspaket nicht modifizieren.

Was schlagen Sie vor?
Auch Betriebe bis 50 Mitarbeiter sollten erstens
eine direkte Liquiditätshilfe in Höhe von 25 000
Euro bekommen, wie es unser FDP-Wirtschafts-
minister Andreas Pinkwart in Nordrhein-West -
falen umsetzt. Das wäre eigentlich Sache des
Bundes. Zweitens sollte man bei Umsatzeinbruch
einen Antrag beim Finanzamt stellen können, da-
mit unbürokratisch Vorauszahlungen zurück-
überwiesen oder Steuergutschriften ausgezahlt
werden. Wir brauchen Tempo.

Die Fragen stellte Gregor Waschinski.

Der FDP-Chef fordert einen Exit-Plan
bei den Corona-Einschränkungen. Das
Rettungspaket für die Wirtschaft
brauche zudem Nachbesserungen.

Stefan Boness/Ipon

Wirtschaft & Politik


WOCHENENDE 27./28./29. MÄRZ 2020, NR. 62
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