Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

DIE ZEIT


WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR


NOTSTANDSGESETZ IN UNGARN WIRTSCHAFTSKRISE

Orbán regiert jetzt ohne Parlament – wegen Corona, natürlich.


Das darf Europa nicht hinnehmen VON MATTHIAS KRUPA


Hilfe für alle bedeutet nicht, dass alles gerecht wird. Der Fall Adidas


zeigt aber, dass nicht jede Kritik berechtigt ist VON ROMAN PLETTER


Vi ktors Vi r us Fa l sc he Fei nde


G


elegenheit macht Diebe, aber
macht Gelegenheit auch Dikta-
toren? Das ungarische Parlament
hat ein Gesetz beschlossen, das es
Viktor Orbán erlaubt, fortan mit
Notstandsverordnungen zu regieren. Ohne par-
lamentarische Kontrolle, ohne zeitliche Begren-
zung, dafür mit der Garantie, dass bis auf Wei-
teres keine Nachwahl mehr die knappe Zwei-
Drittel-Mehrheit der Regierungskoalition ge-
fährdet. Das alles, natürlich, um die Corona-
Epidemie zu bekämpfen.
Ungarn? Ach. Die Abgebrühten in Brüssel und
Berlin winken ab. So sei er halt, der ungarische
Regierungschef. Immer gehe Orbán ans Limit.
Manche Christdemokraten und Christsoziale
duzen »den Viktor« noch aus der Zeit, in der
dieser ein Freiheitskämpfer gegen den Kommunis-
mus war. Aber das ist lange her, und was in Ungarn
in diesen Tagen geschieht, ist mehr als nur die
jüngste Volte eines notorischen Quertreibers.
In Budapest wird auch die Zukunft Europas
verhandelt – jenes freiheitlich und rechtsstaatlich
verfassten Europas, wie wir es bislang kannten.

Im Zeichen der Seuche spitzt sich
die Systemfrage zu

Orbáns jüngster Coup fügt sich in eine große
Auseinandersetzung. Die liberalen Demokra-
tien standen schon vor der Corona-Krise unter
Druck, herausgefordert von Populisten und
Autoritären. Nun, im Zeichen der Seuche,
spitzt sich die Systemfrage zu. Menschen dürfen
ihre Geschäfte nicht mehr öffnen, nicht mehr
gemeinsam demonstrieren oder beten. Diese
Einschränkungen fallen autoritären Regimen
wie dem chinesischen nicht schwer, sie entspre-
chen ihrem Selbstverständnis. Westliche Demo-
kratien hingegen trifft die ungeahnte Beschrän-
kung von Freiheits- und Bürgerrechten ins
Mark, sie rührt an ihren Fundamenten.
Viktor Orbán hat schon lange vor dem Aus-
bruch der Corona-Epidemie von einer »illiberalen
Demokratie« geträumt. Er hat keine Gelegenheit
ausgelassen, die EU zu verhöhnen und die auto-
ritären Herrscher in Peking oder Moskau zu
hofieren. Auch jetzt preist er die Hilfe, die sein
Land aus China erhalte, und attackiert die »Que-
rulanten« aus Brüssel: Es sei nicht die Zeit, juris-
tische Fragen zu erörtern. Orbán weist jede Kritik
an seiner Selbstermächtigung mit dem Hinweis

zurück, ähnliche Maßnahmen seien auch in
Deutschland oder Frankreich ergriffen worden.
Doch was ähnlich aussehen mag, ist noch lange
nicht dasselbe. In rechtsstaatlichen Demokratien
dürfen Grundrechte, wenn überhaupt, nur zeitlich
befristet außer Kraft gesetzt werden; die Parla mente
müssen weiter tagen; und der Raum für öffentliche
Debatten muss offen bleiben. In Ungarn ist das
Parlament vorerst geschlossen; die Notstandsgesetz-
gebung gilt bis auf Widerruf (durch das Parlament,
das nicht mehr tagt); und die Meinungsfreiheit wird
zusätzlich bedroht durch ein Gesetz, das die Ver-
breitung von falschen sowie von »wahren, aber ver-
zerrt dargestellten Nachrichten« verbietet, falls
diese den Kampf gegen die Epide-
mie behindern. Wer entscheidet,
welche Nachrichten falsch oder ver-
zerrt sind, bleibt offen.
Die gegenwärtige Krise ist eine
Versuchung für viele, die in der
Demokratie vor allem ihren eige-
nen Vorteil suchen. Das gilt für den
israelischen Ministerpräsidenten
Netanjahu wie für den polnischen
Präsidenten Duda. Beide versuchen, den Aus-
nahmezustand zu nutzen, um ihre Macht zu festi-
gen – und nehmen dafür in Kauf, dass die Demo-
kratie in ihren Ländern erodiert. Orbán sieht die
Corona-Epidemie offenbar als Chance, den Umbau
des ungarischen Staates, den er vor zehn Jahren
begonnen hat, entscheidend voranzutreiben.
Orbáns Ungarn ist noch keine Diktatur, aber es
ist ein autoritär geführtes, unfreies Land. Kein
Staat, den die EU heute noch aufnehmen würde.
Dass es so weit kommen konnte, hat vor allem
die Europäische Volkspartei zu verantworten. Bis
heute sitzen Abgeordnete von CDU und CSU und
Vertreter der ungarischen Regierungspartei Fidesz
im Europaparlament in derselben Fraktion. Auch
Angela Merkel oder Ursula von der Leyen haben
eine scharfe Abgrenzung von Orbán immer gemie-
den. Unausgesprochen galt: Der Ungar darf zu
Hause über die Stränge schlagen, solange er in
Brüssel halbwegs kooperativ bleibt.
Aber dieses Appeasement funktioniert nicht
mehr. Wenn die EU den Autoritarismus in ihren
eigenen Reihen duldet, kann sie die Auseinander-
setzung mit den autoritären Regimen in Peking
oder Moskau nicht bestehen. Es wird Zeit, Orbán
seine Grenzen aufzuzeigen.

A http://www.zeit.deeaudio

H


underte Milliarden Euro werden
nun verteilt an Arbeitnehmer und
Unternehmer, Gesetze geschrieben
zum Schutz von Mietern, Regeln
erlassen zum Schutz von Kranken,
und dies alles in wenigen Tagen. Das soll den Opfern
der Virus-Wirtschaftskrise schnell helfen. Bei so
einer Politik auf Speed geht es unweigerlich nicht
immer gerecht zu, worüber noch viel zu reden sein
wird, damit die Maßnahmen zum Schutz der
Gemeinschaft sie nicht irgendwann durch Miss-
trauen aus ein an der trei ben.
Es ist ein Jammer, dass diese wichtige Debatte
nun mit einem dankbaren, aber halt auch fal-
schen Feindbild begonnen hat:
Der Sportartikelkonzern Adidas
stellt Teile seiner Mietzahlungen
wegen der Corona-Krise ein. Erst
Mil liar den ge win ne und nun arme
Vermieter knechten! Da hüpft
nicht nur das aufgeregte Anti-
kapi ta lis ten herz. Selbst Verkehrs-
minister Andreas Scheuer (CSU),
der vor wenigen Wochen noch
angeschlagen durch das Bundeskabinett stolper-
te, haut via Bild-Zeitung drauf: »Ich bin ent-
täuscht von Adidas. Sehr enttäuscht.«
Erst mal zu den Fakten. Es kann ja nicht scha-
den, sie zu kennen: Ein eigens geschaffenes Gesetz
erlaubt es Mietern, wegen der Krise ihre Miet-
zahlung aufzuschieben. Erlassen ist damit nichts.
Adidas war mit den Vermietern ohnehin schon im
Gespräch über eine Stundung, bevor es das Gesetz
gab. Das ist kein ungewöhnlicher Vorgang.

Im politischen Berlin ist eine gewisse
Rettungsbreitbeinigkeit zu beobachten

Die Empörung über den Konzern bis hin zu Boy-
kottaufrufen entfaltete auch deshalb große Wucht,
weil eine ganze Reihe SPD-Politiker meinungsstark
und faktenarm den Ton verschärften, darunter
Justizministerin Christine Lambrecht: »Wenn jetzt
finanzstarke Unternehmen einfach ihre Mieten
nicht mehr zahlen, ist dies unanständig.« Natürlich
hat das einen Subtext, seit sich gierige Banker die
Boni vom Staat sichern ließen: Die Großen werden
gerettet, die Kleinen müssen zahlen.
Nur: Die Empörung ist fehl am Platz. Adidas
hatte tatsächlich Ende 2019 zwei Mil liar den
Euro flüssige Mittel in der Bilanz. Aber der Kon-
zern hatte auch fast 22 Mil liar den Euro Kosten

im Jahr. Man muss kein Mathematikgenie sein,
um zu sehen: Das Bare reicht ohne Umsatz nicht
lange aus, um die Kosten zu decken. Dabei gibt
es zurzeit nur drei Länder, in denen der Konzern
seine Ware noch verkaufen kann. Anderswo liegt
sie in Lagern und bei Händlern herum.
Es geht Adidas da nicht anders als dem kleinen
Unternehmen an der Ecke. Warum nun aber ein
Konzern böse sein soll und nur die kleine Firma
bemitleidenswert, ist insofern schwer nachzuvoll-
ziehen, als dass es nicht darum geht, reiche Kon-
zerne reicher zu machen, sondern darum, dass bei
jedem einzelnen Konzern Tausende Menschen
Arbeit haben. Es wird zudem die Steuereinnah-
men aus diesen Arbeitsplätzen brauchen, um für
die Rettungskredite aufzukommen. Das Geld
stammt ja nicht von den Privatkonten der Minis-
ter – auch wenn im sogenannten politischen Ber-
lin gerade eine gewisse Rettungsbreitbeinigkeit zu
beobachten ist, die diesen Eindruck erweckt.
Womit man beim Thema ist, um das es hier
in Wahrheit geht: Solidarität. Der Fall Adidas
zeigt, dass immer jemand einen Preis zahlt, Mit-
arbeiter, Vermieter oder Aktionäre. Es wird auch
bei der öffentlichen Hilfe nicht anders sein. Die
Regierung finanziert sie gerade mit mehr Schul-
den, als es sich die härtesten keynesianischen
Ökonomen in ihren wildesten Träumen nur aus-
malen konnten. Sie versucht redlich, auf diese
Weise allen Menschen in Deutschland zu helfen.
Mit der Goldwaage der Gerechtigkeit anzurü-
cken würde aber zu viel Zeit kosten, um dieses
Versprechen einzulösen, was wiederum dazu füh-
ren wird, dass hier und da mal jemand profitiert,
der Hilfe weniger nötig hätte als andere.
Diese Krise wird darum auch ein Test werden
für die Verantwortungs-Sonntagsreden vieler
Unternehmer, ob sie etwa abgeschöpfte Gewinne
zurück in ihre Firmen schießen – oder ob sie ihre
Kosten Schwächeren, zu denen oft ihre Mitarbei-
ter gehören, aufbürden. Es wird für den sozialen
Frieden ohnehin wichtig sein, dass die Schwächs-
ten im Land nicht am wenigsten bekommen.
Auch Adidas muss sich solchen Fragen stellen
und dazu jener, ob der Konzern sich um des
öffentlichen Klimas willen nicht früher hätte er-
klären müssen. Das hätte auch jenen Politikern
das Leben erschwert, die mit dem antikapitalisti-
schen Impuls den Populisten von morgen das Feld
bereiten – als ob das Virus nicht Feind genug wäre.

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Titelillustration: Dennis Vernooij für DIE ZEIT

Diebe haben von einem Londoner
Sammler Waffen gestohlen, mit
denen James Bond geschossen hat,
darunter der Revolver Smith &
Wesson 44 Magnum aus dem Film
Leben und sterben lassen (1973).
Die Waffen sollen 110.000 Euro
wert sein. Wie viel wären dann die
berühmten Schwerter wert, Sieg-
frieds Balmung oder König Artus’
Excalibur? Wenn man nur wüsste,
wo die Dinger sind. GRN.

Zu den Waffen!


PROMINENT IGNORIERT

kl. Fotos: Grassani/The New York Times/Redux/
laif; Gene Glover/Agentur Focus; Interfoto (v. o.)

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Die nächste Ausgabe


Nein ist öde!


Eckart von Hirschhausen
über Politik,
Dummheit und Küsse
Wissen, Seite 35

Deutsche Intellektuelle
appellieren an die
Regierung, den Süden
nicht alleinzulassen.
Und Italiens Minister-
präsident Giuseppe
Conte schreibt für
die ZEIT über
die Not seines
Landes
Politik und
Feuilleton

HELFT


ITALIEN!


Ein Gespräch mit
der Schriftstellerin,
deren Romane eigentlich
alle Krimis sind
Recht & Unrecht, Seite 18

Juli Zeh über


Mordgelüste


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