Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

L


ondon im Herbst 2018. Die
Schachweltmeisterschaft läuft. Man
sollte sich das nicht zu glamourös
vorstellen. Eine frühere Kunst-
schule im Stadtteil Holborn, darin
ein paar Hundert Männer, die
schweigend oder höchstens flüs-
ternd auf irgendetwas starren. Auf der Bühne,
hinter Schallschutzglas, sitzen der Weltmeister und
sein Herausforderer. Sie starren auf ihr Brett. Vor
ihnen sitzen die Fans; sie starren auf die Spieler. Im
Presseraum sitzen die Fachleute und starren auf
ihre Computer. Männer in Cordhosen und Hoo-
dies, Männer mit Zauselbärten. »Komm mit«, sagt
ein Journalist zum anderen, »nebenan kommen-
tiert Judit«. Er muss nicht sagen, welche Judit. Es
gibt nur eine Judit: die bis heute erfolgreichste Frau
der Schachgeschichte, die einzige, die es je in die
Top Ten der Weltrangliste geschafft hat.
Im Analyseraum hat Judit Polgár gerade ihr Mi-
krofon angesteckt. Eine lebhafte Frau Anfang vier-
zig mit großen Ohrringen und langem Haar, das
auf die Schultern ihrer Lederjacke fällt. Polgár er-
klärt hier, was in der letzten, entscheidenden Partie
der Weltmeisterschaft vorgeht, was die zwei Männer
im Glaskasten wohl gerade denken.
Sie spricht ein melodisches, schnelles Englisch.
Und noch schneller zeigt sie auf dem Großbild-
schirm Varianten – die Züge hinter den Zügen.
Das, was nicht aufs Brett kam, weil es schlecht
gewesen wäre. Oder das, was vielleicht noch
kommt. Sie lässt die Figuren fliegen: Kombina-
tionen, Figurenopfer, Zwischenzüge und Matt-
Angriffe. Großes Kino für Nerds. Zeitweilig hat sie
mehr Publikum als die Spieler selbst.
In einer spannenden Angriffsstellung bietet der
Weltmeister seinem Gegner Remis an. Der nimmt
an, verblüfft und erleichtert. Judit Polgár gerät fast
in Rage. So viele Ideen, so viel Schönheit – mit
einem Handschlag begraben.
Budapest im Frühjahr 1989, wenige Monate vor
der Öffnung der Grenze. Die Abordnung eines
deutschen Provinzclubs (darunter der Autor dieser
Zeilen) besucht den MTK Budapest, einen der
stärksten Schachvereine der Welt. Schach ist eine
große Sache im Ostblock – ein propagandataugliches
und preiswertes Mittel, den Klassenfeind intellek-
tuell in seine Schranken zu weisen. Was hier auch
geschieht. Für den Freundschaftskampf haben die
Budapester ihre Großmeister aufgestellt. Nur die drei
neuen Stars fehlen: die Polgár-Schwestern, drei
Mädchen im Alter von 19, 14 und 12 Jahren. Ihre
Teilnahme hätte Geld gekostet, die Rede war von
zehntausend D-Mark. Aber ihr Vater ist gekommen;
für sich selbst berechnet er nichts. Ein unscheinbarer
Mann, bis er ins Reden kommt. Dann entwickelt er
die Aura eines Sektenpredigers. Zwischen Rosetten
und Wimpeln in Grün-Weiß-Rot erzählt er von
seinem »Experiment«.
Genie, erklärt er den Besuchern, sei reine Erzie-
hung. Mit der richtigen, seiner Methode, könne
man alles aus jedem Kind machen. Darum hat er
seine Töchter selbst unterrichtet, daheim. Keine
Freunde, keine Puppen und nur ein einziges Spiel.
Dabei liegt Schach László Polgár nicht einmal be-
sonders am Herzen. Er hat es bloß gewählt, weil
hier der Genius messbar ist. Ein Mozart am Brett
braucht keine Gönner, kein empfängliches Publi-
kum. Er setzt so lange Gegner matt, bis man ihn zur
Kenntnis nimmt.
Nun kennt die Schachwelt 1989 ein paar Mo-
zarts, aber keine einzige Clara Schumann. Eine Frau
im Schachclub ist eine Kuriosität. Es gibt ein paar
weibliche Profis, aber gegen die besten Männer ha-
ben sie kaum eine Chance. Die meisten Erklärun-
gen dafür klingen im Rückblick krude und sexis-
tisch. Nicht nur die von Männern übrigens: Auch
die Damen-Weltmeisterin Nona Gaprindaschwili
zum Beispiel war sicher, dass Frauen nie gleichzie-
hen könnten – es fehle ihnen einfach an Ausdauer
und Willensstärke.
Vielleicht spornt das den Vater und Versuchslei-
ter Polgár zusätzlich an: diesen ganzen Unfug über
die Natur des Menschen beiseitezuwischen. Tat-
sächlich wurden alle drei Polgár-Schwestern sehr
starke Spielerinnen. Doch nur Judit, die jüngste,
schaffte den Durchbruch.
Dreißig Jahre später lebt Judit Polgár noch immer
in Budapest; ihr kleines Büro auf dem Gellértberg
blickt auf die Stadt herab. Es ist vollgestopft mit
Trophäen, Urkunden, gläsernen Figuren in Vitrinen,
alten Fachzeitschriften. Wer Polgárs Lebenslauf
kennt, rechnet damit, hier auf einen speziellen Men-
schen zu treffen. Eigentlich, das sagt sie selber, besitzt
sie ja nicht mal einen: keine Schule, kein Studium,
kein Beruf, keine Hobbys jenseits vom Schach. Doch
die Frau, die eine Strickjacke vom Sofa räumt und
Masala-Tee kocht, wirkt auf sympathische Weise
normal. Nur dass jede Antwort von ihr kommt,
kaum dass man die Frage beendet hat – a tempo,
wie Schachspieler sagen.
Einen dressierten Hund hat der Ex-Weltmeister
Garri Kasparow sie einmal genannt. Die ersten ver-
öffentlichten Fotos zeigen ein fünfjähriges Pummel-
chen im Strickpullover, das mit eiserner Miene über

»Du blutest nicht, wenn du verlierst«


Frauen fehle es an Ausdauer und Willensstärke, darum kämen sie nicht an die Spitze im Schach, hieß es einst. Dann kam Judit Polgár


und wurde die erste Frau, die nur noch gegen Männer spielte. Teil 11 der ZEIT-Serie über Pionierinnen VON MICHAEL ALLMAIER


SERIE: DIE ERSTE (11)


Foto: Philipp Horak/Anzenberger; ZEIT-GRAFIK/Quelle: FIDE


Zur Wendezeit, sie ist erst 15, steht Judit die
Welt offen. Sie kann genügend Turniererfolge vor-
weisen, um den Titel Großmeister zu führen. Das
hat so jung noch niemand geschafft, nicht einmal
der legendäre Bobby Fischer. Und sie fällt eine
Entscheidung: nicht länger an Frauenturnieren
teilzunehmen. Das hat es in der Geschichte dieses
Sports noch nicht gegeben – dass eine Frau, ein
Mädchen, den ihr zugedachten Schutzraum ver-
lässt und die Tür hinter sich zuknallt. Polgár sagt:
»Es war logisch. Ich wollte von den Besten lernen,
und das waren nun mal keine Frauen.«
Sexismus im Schach? »Ja, gibt es, immer wieder
einmal.« Aber dann fällt ihr doch wenig ein. Geg-
ner, die nach einer Niederlage wütend aus dem
Saal stürmten oder sonderbare Erklärungen dafür
fanden, wie eine Frau sie übertölpeln konnte.
Und was ist mit Anatoli Karpow, dem Welt-
meister vor Kasparow? Der hat sie mal während
einer Partie gerügt, weil sie in scheinbar hoff-
nungsloser Stellung einfach nicht aufgeben wollte:
»Du weißt schon, dass das sehr unhöflich ist?« In
der Klosterstille eines Schachturniers ist das ein
bizarrer Übergriff. Man darf seinen Gegner nicht
anquatschen, schon gar nicht bedrängen.
Polgár winkt ab: »Ach, der ist so. Zu einem
jungen Mann hätte er wahrscheinlich das Gleiche
gesagt.« Sie hat die Partie dann noch gewonnen.
Auf diese Art antwortet sie am liebsten.
In den Neunzigern wird sie bei Schachfans zum
Superstar – nicht nur wegen ihres Geschlechts und
ihrer Rekorde, sondern auch wegen ihrer Art zu
spielen. Prä-Polgár sagte man Frauen nach, es
mangele ihnen an Biss. Sie beschützten ihre Figu-
ren wie die eigenen Kinder und willigten aus an-
geborener Friedfertigkeit gerne ins Remis ein.
Judit Polgár nicht. Sie kämpft am Brett, immer
aggressiv, immer bereit, den spannendsten Zug zu
machen. »Schach ist letztlich nur ein Spiel«, sagt
sie. »Du blutest nicht, wenn du verlierst.« Doch die
Profis von heute suchen am Brett nicht Schönheit,
sondern Kontrolle. Judit Polgár lernt auch das, um
ihr Ziel zu erreichen: einen Platz in den Top Ten.
»Wenn ich am Brett sitze«, sagt sie heute, »wer-
de ich ein anderer Mensch. Dann sieht man mich
nicht mehr lächeln. Ich habe mal in einem indi-
schen Waisenhaus gegen mehrere Gegner gespielt.
Eine Wohltätigkeitsveranstaltung, es gingt um
überhaupt nichts, aber ich wollte unbedingt ge-
winnen. Die Leute sagten hinterher, sie hätten
mich nicht wiedererkannt.«
2003, mit 26, hat Polgár ihr Lebensziel erreicht:
Sie ist Nummer acht der Weltrangliste, Sphären
entfernt von der nächsten Frau und auch von ih-
ren Schwestern. Sie schlägt einmal sogar Kasparow,
den Muhammad Ali des Schachs. Es gratuliert
Yoko Ono – für die Künstlerin ist mit diesem Sieg
eine Schlacht geschlagen: Das war’s mit dem My-
thos vom überlegenen männlichen Verstand.
Judit Polgár erzählt auch heute noch gern von
dieser unverhofften Fanpost. Aber letztlich prallt das
Lob ebenso ab wie Kasparows Pöbelei mit dem dres-
sierten Hund. Sie weiß ja, wie es weiterging: Die
nächsten Partien gewann wieder er.
Ihr Vater gab sich nicht zufrieden. Er sah seine
jüngste Tochter als kommende Weltmeisterin. »Aber
auch zu meiner besten Zeit war ich nicht mal in der
Nähe. Die letzten paar Meter an die Spitze können
unheimlich weit sein.«
Im Jahr 2000 heiratet sie ihren Freund, einen
Tierarzt (»Nichts gegen Schachspieler, manche
sind nett, aber irgendwo ist es genug«), und be-
kommt zwei Kinder, 2005 und 2007. Die beiden
gehen heute auf eine internationale Schule in
Budapest. Kein Schach, kein Privatunterricht.
Das Experiment ist abgeschlossen.
2014 zieht sich Judit Polgár aus dem Turnier-
schach zurück. »Es fiel mir schwer; ich dachte im-
mer, ich würde mein Leben lang spielen. Aber ich
merkte immer mehr, wie viele andere Dinge man
im Leben machen kann.« Sie leitet heute eine Stif-
tung, wirbt für Schach an Schulen, trainiert die un-
garische Nationalmannschaft, lauter Männer.
Ein Opfer bringen, das heißt in der Schachwelt
nichts Schlechtes. Man tut das, weil man es will.
Trennt sich von dem, was verzichtbar ist, um schnel-
ler voranzukommen. Judit Polgár hat in ihrem Leben
eine Menge geopfert – Türme, Damen, Tausende
Bauern. Ihre Kindheit für die Karriere, die Karriere
für ihre Kinder und ein normales Familienleben.
Ohne das Coronavirus wäre sie aktuell in Sibi-
rien, in Jekaterinburg. Dort lief das Kandidaten-
turnier, aus dem der nächste Herausforderer des
Weltmeisters hervorgehen sollte, bis es vergange-
ne Woche unterbrochen wurde. Sie hätte das
Gleiche gemacht wie in London – kommentieren,
kombinieren, Amateure fürs Schachspielen be-
geistern. Stattdessen twitterte sie von daheim –
Applaus für die besten Züge.
Was ist Schönheit im Schach, Frau Polgár? Die
erste Antwort, die nicht ganz a tempo kommt.
»Schön ist das Unerwartete. Das, was nicht den
Mustern entspricht und trotzdem funktioniert.«
In diesem Sinne könnte man sagen: Sie führt ein
schönes Leben.

seine Figuren hinwegblickt. Schon damals trainierte
sie sieben Stunden am Tag. Fühlt sie sich selber als
ein gemachtes Genie, als geglücktes Experiment?
»Mein Vater liebt große Worte«, sagt Polgár.
»Sein ›Experiment‹ – ich würde eher von einer Le-
bensweise sprechen – mag extrem gewesen sein. Mir
kam sie nicht so vor. Du wunderst dich nicht, wa-
rum du Schach lernen sollst, wenn deine zwei gro-
ßen Schwestern kaum etwas anderes tun. Es kam so
selbstverständlich zu mir, wie man laufen lernt.«
Schon als Kind besiegt Judit erwachsene Meis-
terspieler auf Turnieren in Brüssel, New York,
Adelaide. Sie bringt ein Maskottchen mit ans
Brett, einen Löwen, »den drehte ich immer zum
Gegner«. Wenn sie verliert, weint sie oft. Danach
spielt sie alles noch einmal durch, bis sie weiß, was
sie falsch gemacht hat.
Man sollte meinen, dass die Volksrepublik Un-
garn auf ihre drei Wunderkinder stolz war. Bestä-

tigten sie nicht den sozialistischen Glauben an die
beinahe grenzenlose Erziehbarkeit des Menschen?
Aber László Polgár war kein Mustersozialist, son-
dern ein Einzelgänger mit jüdischen Wurzeln und
gewaltigem Sendungsbewusstsein. Das ließ man
die Polgárs spüren, wie seine Tochter erzählt: Mal
zogen Behörden ihre Pässe ein, mal wurde Zsuzsa,
die Älteste, von bewaffneten Polizisten in die
Schule eskortiert.
Das schweißte die Familie zusammen. In ihrer
2012 erschienen Autobiografie beschreibt Polgár,
wie die Enge des kommunistischen Staats die klei-
ne Welt auf dem Schachbrett größer und gerechter
erscheinen ließ. Hier ging es trotzdem nicht um
Eskapismus, sondern um ganz reale Freiheit – zu
reisen, sein Leben zu leben, Devisen zu verdienen.
Die Voraussetzung dafür: Siege. Was wäre passiert,
wenn sie keinen Erfolg gehabt hätte? Judit Polgár
muss lachen: »Das war keine Option.«

Der Vergleich

1 Frau
(Yifan Hou, Rang 86)

99
Männer sind unter den
hundert besten aktiven
Schachspielern der Welt

Nächste Woche Teil 12 der Serie: Die erste Fernsehsender-Chefin Deutschlands Zuletzt erschienen: Die Darts-Spielerin Fallon Sherrock

1976
Polgár wird in Budapest
geboren

Judit Polgár


1992
Im Alter von 15 Jahren wird
sie Schachgroßmeisterin

2003
Sie erreicht Platz 8 der
Weltra ng liste

2014
Sie zieht sich aus dem
Turnierschach zurück

26 WIRTSCHAFT 2. APRIL 2020 DIE ZEIT No 15

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