Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

WISSEN


TITELTHEMA: WIE SCHÜTZEN WIR DIE SCHWACHEN?


Die Unsichtbaren


Kinder aus belasteten Familien sind ihren Eltern in der Zeit der Isolation oft schutzlos ausgeliefert. Das kann zur Gefahr werden. Wer schaut jetzt nach ihnen?


Eine Spurensuche bei Pädagogen, Sozialarbeitern, Medizinern und Forschern VON JEANNETTE OTTO UND JOHANNA SCHOENER


W


o sind die Kinder geblie-
ben? Seit Wochen sind
sie aus dem öffentlichen
Leben verschwunden.
Auf den Spielplätzen
hängen die Schaukeln
verwaist, im Sandkasten
streitet niemand um Eimer und Schaufel, rot-
weißes Absperrband flattert im Wind, sonst regt
sich nichts. In den Bussen keine quatschenden
Schülerinnen, vor der Supermarktkasse kein
Knirps, der um Süßkram bettelt. Stattdessen über-
all Plexiglas, Sicherheitsabstand, gedämpfter All-
tag. Ab und zu noch sieht man kleine Gestalten aus
der Ferne, sie huschen über die leeren Plätze,
schnell frische Luft schnappen, eine Runde Lauf-
rad fahren. Und schon verschwinden sie wieder
hinter verschlossenen Haustüren.
Während im öffentlichen Raum eine fast un-
heimliche Stille herrscht, schrillen an anderen
Orten die Telefone. Die »Nummer gegen Kum-
mer«, das größte kostenfreie Beratungsangebot für
Kinder, Jugendliche und Eltern in Deutschland,
wird in diesen Tagen öfter gewählt als sonst. Beim
»Elterntelefon« gibt es eine Steigerung zu den Vor-
monaten um 21 Prozent, die Chat-Beratung für
Kinder verzeichnet einen Zuwachs von 26 Prozent.
Auch bei der vom Bundesfamilienministerium
geförderten medizinischen Kinderschutzhotline
melden sich jetzt vermehrt Jugendliche, die sich
eine Inobhutnahme durch das Jugendamt wün-
schen – weil sie es so abgeschottet in ihren Familien
nicht mehr aushalten.
»Meine Mutter hat mich aus der Wohnung
geschmissen. Sie ist schizophren und hat ein
Alkoholproblem. In der Quarantänezeit hat sie
mich fast jeden Tag bedroht und schikaniert. Sie
wurde gewalttätig. Ich schlafe seit sechs Tagen in
meinem Auto. Bitte um Rückruf!« So die Nach-
richt eines Jugendlichen an einen Streetworker der
Organisation Off Road Kids. »Ich hab noch acht
Euro. Was sollen wir jetzt essen?«, fragt eine Mut-
ter die Mitarbeiter des Berliner Hilfsprojektes
Arche am Telefon. »Es ist ganz schlimm, euch
nicht zu sehen. So macht das Leben keinen Spaß«,
schreibt eine Schülerin an ihre Sozialarbeiter.
Drei von Hunderten Hilferufen, wie sie Orga-
nisationen und Notrufnummern seit Tagen von
Kindern, Jugendlichen und Eltern erhalten. Es ist
Woche drei, nachdem Kitas und Schulen über-


stürzt schließen mussten, die dritte Woche ohne
Hortbetreuung, Chor und Fußballverein. Zurück-
gezogen hocken die Kinder in ihren Wohnungen –
und langsam wachsen die Zweifel und Sorgen von
Pädagogen, Erzieherinnen, Psychologen und
Ärzten: Welche Folgen werden die rigiden Maß-
nahmen zur Abwehr der Corona-Pandemie für die
Familien nach sich ziehen? Was erleben Kinder ge-
rade in jenen hoch belasteten Haushalten, wo Eltern
nicht selten mit Existenznöten, Drogensucht und
psychischen Erkrankungen zu kämpfen haben und
auf Familienhelfer angewiesen sind? Was ereignet
sich hinter den Türen und Fenstern, in die es keinen
Einblick mehr gibt?
Auch Kita-Erzieher und Lehrer sind nun im
Homeoffice, Jugendämter haben ihren Betrieb re-
duziert, ambulante Hilfen brechen weg. Jetzt wird
der Blick frei für das Risiko, das die Selbstisolation
der Gesellschaft für so manche Familie in schwieri-
ger Lebenslage bedeutet. Darf man Kinder abrupt
in die alleinige Verantwortung ihrer Eltern über-
geben – ohne zu prüfen, ob sie dort sicher sind?
Hundert Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftler aus den Erziehungs- und Sozialwissen-
schaften haben sich Anfang dieser Woche mit
einem Appell für mehr Kinderschutz während der
Corona-Pandemie an Politik und Öffentlichkeit
gewandt. Sie sind alarmiert, weil viele Kinder in
den Familien für die Öffentlichkeit unsichtbar
geworden sind und die Jugendhilfen ihre Stan-
dards ausgerechnet jetzt, in der Kri se, senken.
Sie sind mit ihrer Sorge nicht allein. Allmäh-
lich erwacht auch bei Lehrern, Erziehern und
Sozialpädagogen das Bewusstsein, dass es nicht
ausreicht, Hausaufgaben per E-Mail zu verschi-
cken, Erklärvideos für Mathe und Chemie zu
drehen und sich ausgerechnet im Homeoffice dem
lange verschlafenen digitalen Unterricht zuzuwen-
den. Der Euphorie über eine neue moderne Form
von Schule, die Begeisterung über Podcasts zur
Verkehrserziehung und virtuelle Rundgänge durch
Museen weicht der Ernüchterung: Pädagogen stel-
len fest, dass der Kontakt zu manchen sich selbst
überlassenen Schülern kaum mehr zu halten ist,
dass Lernpakete keine Beziehung ersetzen.

»Ich mache mir solche Sorgen um meine Schüler, ich
kann kaum noch schlafen. Ich weiß ja, wie sie hier in
der Gegend oft leben, in viel zu kleinen Wohnungen
in den Hochhäusern. Diese Kinder haben keinen

Platz, ihre Hausaufgaben zu machen, sie haben oft
nicht einmal ein eigenes Bett. Es gibt keine Struktur
in ihrem Leben. Die Schule ist für diese Kinder ein
geschützter Raum. Der fehlt ihnen nun.«
(eine Lehrerin an einer Grundschule in einem
sozialen Brennpunkt in Nordrhein-Westfalen)

Dass Arbeit und Schule, Lernen und Leben in
vielen Familien nun auf engstem gemeinsamem
Raum zusammengeschrumpft sind, ist für alle
Eltern und Kinder ein Stresstest. Doch die einen
organisieren das neue Familienleben zwischen
Homeoffice und Homeschooling mit der Akribie
eines Unternehmensberaters, erstellen Stunden-
und Einkaufspläne, regeln Pausenzeiten und
Medienkonsum. Andere sind gelähmt von Exis-
tenzangst, überfordert von der Ausnahmesituation,
deren Dauer niemand abschätzen kann. Viele
Kinder erleben nun nicht nur, dass die technische
Ausstattung in ihren Familien nicht reicht, um die
Anforderungen der Schule zu bewältigen, sie erle-
ben auch, dass die Eltern ihnen keinen Halt geben
können, keine Sicherheit.
Jedes Kind einmal die Woche ans Telefon
bekommen – dazu hat man sich jetzt an der Brenn-
punkt-Grundschule in Nordrhein-Westfalen ver-
pflichtet. Die Lehrer rufen in den Familien an, fragen
unter einem Vorwand nach dem Schüler und fangen
an zu plaudern: Wie geht es dir? Was machst du?
Und deine Eltern? Kocht die Mama was? Die Ge-
spräche werden protokolliert. Sollte der Verdacht
aufkommen, dass das Kind vernachlässigt wird oder
Gewalt droht, verständigen die Lehrer das Jugend-
amt oder die Polizei. Für die Kinder gibt es auf der
Schul-Homepage eine neue Seite, die sich nur an sie
richtet. Auch hier die Aufforderung: Ruf uns an,
wenn du Kummer hast, wenn es dir nicht gut geht.
Schulen und Kitas sind seit je die Orte, an
denen auffällt, wenn ein Kind nicht gewaschen ist,
mit blauen Flecken übersät, hungrig, verzweifelt
oder dehydriert.
»Die Wahrnehmung von Problemen ist zurzeit
deutlich herabgesenkt und das Risiko für die
Kinder deutlich erhöht«, sagt Rainer Becker von
der Deutschen Kinderhilfe. »Wir wissen, dass die
Fälle von häuslicher Gewalt vor allem zu Ostern
und Weihnachten besonders ansteigen. Was wir
jetzt haben, ist eine Form von ›Dauer-Ostern‹.«
Die Kriminalstatistik zeigt: Wenn es zu häuslicher
Gewalt kommt, sind zu 50 Prozent auch Kinder

betroffen. Pro Jahr werden in Deutschland 4500
Kinder so stark misshandelt, dass ihre Verletzun-
gen zum Beispiel von einem Arzt diagnostiziert
und gemeldet werden. Das sind zehn bis zwölf
Kinder pro Tag. An den Folgen von Gewalt und
Misshandlung sterben jede Woche drei Kinder
unter 14 Jahren. Experten befürchten, dass diese
Zahlen nun deutlich steigen werden.

»Langsam merken wir, dass es stressiger wird, je
länger die Eltern mit ihren Kindern auf sich gestellt
sind. Sie werden ungeduldig, zum Teil auch ungehal-
ten. Eine Mutter ruft an und sagt: Ich bin kurz da-
vor, dass mir die Hand ausrutscht. Wenn die Eltern
sich in solchen Situationen melden, ist es gut, dann
wissen wir, dass sie nicht zuschlagen.«
(Bernd Siggelkow, Gründer und Leiter des Kinder-
hilfsprojektes »Die Arche«)

Die Mitarbeiter des christlichen Kinder- und
Jugendwerks Arche waren sich sofort einig, als sie
angewiesen wurden, ihre Standorte aufgrund der
Corona-Pandemie zu schließen: Wir kümmern
uns weiter, wir lassen die Kinder nicht im Stich. 50
bis 60 Familien beliefern sie allein in Berlin jeden
Tag mit Lebensmitteln. Denn nicht nur körperliche
Übergriffe nehmen in der Isolation zu – auch die
Armut wirkt sich jetzt dramatisch aus. An die drei
Millionen Kinder in Deutschland wachsen in pre-
kären Familiensituationen auf. Jeder fünfte Heran-
wachsende gilt als armutsgefährdet. Mütter und
Väter, die von Hartz IV leben, haben für die Er-
nährung eines Vorschulkindes nur 2,90 Euro am
Tag zur Verfügung. Für ein Grundschulkind sind
es 4 Euro. Kein Wunder, dass sich Eltern nun
fragen, wie sie ohne zusätzliche Unterstützung
über diese Wochen kommen sollen – jetzt, da
Kitas und Schulen auch als Orte wegfallen, an
denen es verlässlich Frühstück und Mittagessen
gibt; denn auch die Tafeln sind geschlossen.
Doch die Arche bringt nicht nur Nahrungs-
mittel bis direkt an die Wohnungstür, die Sozial-
arbeiter bringen auch Abwechslung in die Lange-
weile. Vor einer Woche haben sie Backzutaten aus-
geteilt und Eltern und Kinder aufgefordert, einen
Kuchen anzurühren. Wer das beste Foto davon
schickte, bekam eine Gratis-Lieferung vom Pizza-
boten für die ganze Familie. Die Nähe auf recht-
erhal ten, in Kontakt bleiben – das ist für die Arche
entscheidend. Am Wochenende erfuhr der Leiter

Bernd Siggelkow von einem Mädchen, das sein
Zimmer nicht mehr verließ und Kommunikation
und Umgang mit der Mutter komplett verweiger-
te. Er fuhr hin, ignorierte die Kontaktsperre,
sprach mit allen und fand eine Lösung. Rund um
die Uhr ist er auf seinem Handy für Eltern und
Kinder erreichbar. Die ersten Nachrichten gehen
morgens um halb sechs ein, die letzten kurz vor
Mitternacht. So nah wie er ist kaum noch einer
dran an den Schulkindern in Not.
Noch unsichtbarer als diese sind nur noch die
Kleinsten, die keine Nachricht in ein Handy tip-
pen und keine Hotline anrufen können. Bei denen
niemand angehalten ist, Lernfutter zu schicken.
Niemand ist so sehr aus dem Blick verschwunden
wie die Säuglinge und Kita-Kinder. Von vielen
Eltern haben die Einrichtungen das letzte Mal ge-
hört, als man sie über die Schließung informierte.
Andere versuchen über die Notbetreuung hinaus
Kontakt zu ihren Sorgenkindern zu halten.

»Wenn unsere Mitarbeiter ein komisches Bauchgefühl
bei einem Kind haben, das sie aufgrund der Schließung
gerade nicht sehen, sollen sie erst einmal mit uns
Kinderschutzfachkräften sprechen. Wir überlegen
dann gemeinsam, wie wir am besten Kontakt zu den
Eltern suchen, und schalten im Notfall das Jugendamt
ein. Was unsere Arbeit als deutschlandweiter Träger
gerade so erschwert: Es herrschen überall andere Re-
geln, welche Kinder in die Notbetreuung dürfen. Wa-
rum verständigen wir uns nicht darauf, dass gefähr-
dete Kinder generell weiterhin in die Kitas kommen?«
(Katrin Hentze, Kinderschutzbeauftragte des
Kita-Trägers Fröbel)

Dürfen die Kleinsten einer Gefahr ausgesetzt wer-
den, um andere, Ältere und Risikopatienten, zu
schonen? Diese Frage wurde vernachlässigt, als die
Kitas bundesweit schließen mussten. Es ging um
den Schutzanspruch eines ganzen Landes, um die
Furcht vor einem Erreger, aber vor allem auch um
die Angst der Politiker, Fehler zu machen. Die
Maßnahmen waren wichtig – bis ins Detail über-
legt waren sie nicht. Sonst hätte spätestens bei
Familien, die bereits unter Beobachtung des Ju-
gendamtes stehen, auffallen müssen, dass sie nicht
von heute auf morgen ohne Hilfe für ihre Kinder
sorgen können. Dass man langzeitarbeitslose und

Fortsetzung auf S. 28

Kein Kontakt,
geschlossene Türen
und Fenster:
Wer hört da noch
die Hilferufe von
Kindern und
Jugendlichen in Not?

Foto: Olivia Bee/Trunk Archive


  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 15 27

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