Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

WISSENWISSEN


EVOLUTION • SCHULE • POLITISCHER FRAGEBOGEN


Links zu den Quellen dieses Artikels
finden Sie bei ZEIT ONLINE
unter zeit.de/wq/2020-15

Quelle


E


r war wohl ein junger erwachse-
ner Mann. Groß und kräftig,
sein Gesicht riesig mit ausladen-
der Kieferpartie. Von der flachen
Stirn erhoben sich gigantische
Augenbrauenwülste – »mit die
größten, die wir je an einem
menschlichen Fossil gefunden haben«, sagt Chris
Stringer. Und Stringer hat einige gesehen.
Nun muss der britische Paläoanthropologe
feststellen, dass sein Fachgebiet ein ganzes Stück
unübersichtlicher geworden ist – wieder. Und das
just wegen dieses wohl dunkelhäutigen jungen
Mannes mit dem Riesengesicht, der an heftiger
Karies litt und unter Zahnabszessen. Gestorben
ist er vermutlich an einer Infektion.
Chris Stringer leitet am Natural History
Museum in London die Abteilung für die Erfor-
schung der Herkunft des Men-
schen. Seit einem halben Jahr-
hundert ergründet der 72-Jäh-
rige die evolutionäre Entwick-
lung unserer Art. In dieser Zeit
ist aus dem einst schlichten
Stammbaum des Homo sapiens
ein kaum durchschaubares Ge-
büsch geworden.
Zusammen mit Rainer
Grün von der australischen
Griffith University publiziert
Stringer in der aktuellen Aus-
gabe des Wissenschaftsmaga-
zins Nature einen Artikel über den Schädel von
Broken Hill, wie die heute sambische Stadt Kabwe
bis 1964 hieß. Es geht nicht etwa um einen neuen
Fund, sondern um eine Neudatierung. Die bringt
einiges durcheinander.
Im Jahr 1921 kam das gut erhaltene Fossil des
»Broken Hill Man« (im Jargon der Forscher:
»Kabwe 1«) beim Abbau von Metallerzen zum
Vorschein. Die Mine von Broken Hill lag damals
in einem Teil des britischen Kolonialreichs, dem
Protektorat Nordrhodesien. Der Schädel knochen
wurde zum sogenannten Typusexemplar, zum
Fund, der zur Beschreibung einer ganzen Spezies
dient. In diesem Fall war das die Frühmenschen-
art Homo rhodesiensis. Damals schätzte man
sein Alter auf 500.000 Jahre, brachte den Schä-
del nach London ins Museum und gab ihm die
Archivnummer E686.
Da der Bergbau den Fundort in Kabwe gründ-
lich zerstört hatte, war die exakte zeitliche Zuord-
nung (etwa anhand der Gesteinsschichten) von
vornherein schwierig. Genauso spekulativ waren
die Versuche, dem Fund einen eindeutigen Platz in
der menschlichen Evolution zuzuordnen. War der
Homo rhodesiensis nun eine eigene Art oder ein
Vertreter von Homo erectus, Homo heidelbergensis


oder gar ein archaischer Homo sapiens? Und mit
wem wie eng verwandt? Mittlerweile wird Homo
rhodesiensis von den meisten Experten als Homo
heidelbergensis betrachtet.
Nun konnte Stringer das Alter des Schädels
und weiterer Knochen (etwa die kleiner Tiere)
von derselben Fundstelle mithilfe unterschied-
licher Methoden neu bestimmen: Demnach ist
der Mann deutlich jünger, nur 299.000 Jahre alt.
Erst vor drei Jahren hatten Paläoanthropologen
an Knochen von der Fundstelle Jebel Irhoud in
Marokko gezeigt, dass frühe Homo sapiens min-
destens 300.000 Jahre alt sind (ZEIT Nr. 24/17).
Beides passt zur Vorstellung, wonach damals eine
bunte Vielfalt Afrika bevölkerte, mit Vertretern
verschiedener Arten der Gattung Homo, die
nebeneinander lebten: Homo sapiens, heidelber-
gensis/rhodesiensis und naledi. Das ähnelt dem
Bild der Forscher von Eura-
sien, wo sich damals zeitgleich
Homo neanderthalensis, flore-
siensis, luzonensis, heidelber-
gensis, erectus und der Denis-
ova-Mensch tummelten.
Was all diese Gleichzeitig-
keit bedeutet? Einerseits weiß
man aus DNA-Analysen, dass
sich der archaische Homo sa-
piens überraschend früh als
eigene Art herausgebildet hat.
Andererseits dürfte die Vielfalt,
wie sie wohl vor 300.000 Jah-
ren in Afrika herrschte, »zu einem ordentlichen
Genfluss« geführt haben, sagt Stringer. Genfluss?
Das ist die paläoanthropologische Umschreibung
von Sex. Und zwar, so der Londoner, »zwischen
Populationen, die normalerweise als unterschied-
liche Arten angesehen würden«.
Zu vermuten sei deshalb, dass Wesen wie jenes
von Broken Hill (egal, ob man es nun Homo heidel-
bergensis oder rhodesiensis nennt) »zu unserer Ab-
stammung zumindest beigetragen haben könnten«,
sagt Stringer. Das ist nicht das einzige Indiz, dass es
in der letzten Million Jahren zu Kreuzungen zwi-
schen Vertretern unterschiedlicher sich entwickeln-
den Arten der Gattung Homo gekommen ist.
Auch eine andere Sippe aus der Vorzeit findet
diese Woche einen neuen Platz in unserer Evolu-
tionsgeschichte. Homo antecessor, von dem
reichlich Gebeine aus der spanischen Gran Dolina,
einem Höhlenkomplex in der Sierra de Atapuerca,
geborgen wurden. Zwar war das Alter der Fossilien
schon recht klar ermittelt. Zwischen 940.000 und
770.000 Jahre vor unserer Zeit tummelten sie sich
in Südeuropa. Aber wer waren diese frühen aus
Afrika stammenden Besiedler der Iberischen Halb-
insel? Die frühen Menschen besaßen bereits ein
sehr modernes Gesicht, ähnlich dem der Neander-

taler. Handelt es sich also um direkte Vorfahren
unserer Spezies? Frido Welker vom Max-Planck-
Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig
beantwortet diese Frage, ebenfalls in Nature. Aus dem
Zahnschmelz eines Backenzahns hatte er noch Reste
von Eiweißen sichern können. Und die Abfolge der
Aminosäuren im Zahnschmelz-Protein verrät beim

Vergleich mit denen von Neandertalern und moder-
nen Menschen: Homo antecessor war wohl nicht der
gemeinsame Vorfahr der späten Vertreter unserer
Gattung – Neandertaler, Denisovaner und Homo
sapiens. Aber er muss ein enger Verwandter jener
Populationen gewesen sein, die uns schließlich her-
vorgebracht haben.

Sauber getrennte Spezies, so lassen die Erkennt-
nisse der Gelehrten immer deutlicher vermuten, hat
es in der Gattung Homo wohl nie gegeben – statt-
dessen waren ihre Vertreter immer Promenaden-
mischungen der Evolution.

A http://www.zeit.de/audio

SÜD
AFRIKA

NAMIBIA
BOTSWANA

ANGOLA

TAN
SANIA

SAMBIA

Indischer
Ozean

1000 km
ZEIT-GRAFIK

Kabwe

Lusaka

MO

SA

M

BI

K

Broken Hill,Broken Hill,

Es wird immer bunter


Von der Vorstellung eines übersichtlichen Stammbaums müssen


wir uns verabschieden. In der Frühgeschichte des Menschen ging es


wild durcheinander VON ULRICH BAHNSEN UND URS WILLMANN


So könnte der Mann
von Broken Hill
ausgesehen haben.
100 Jahre nach dem
Fund des Schädels
haben Forscher ihn
Abb.[M]: © 2020, John Gurche nun neu datiert

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  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 15 33

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