Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

»Ich bin ein alter


weißer Mann«


Der Arzt und Fernsehmoderator Eckart von Hirschhausen über die FDP,


die menschliche Dummheit – und das Geheimnis, wieso er bei Tempo 250 nie geblitzt wird


1 Welches Tier ist das politischste?
Mit Aristoteles gesprochen: der Mensch.
Acht von zehn sind an einem Tisch dafür,
Atemmasken zu bevorraten, um sie im
Notfall denen zu geben, die sie am drin-
gendsten brauchen. Und wenn das Virus
kommt, bunkern acht von zehn eine
Atemmaske. Deshalb braucht es Politik:
damit wir Menschen nicht unsere gemei-
ne Seite zeigen, sondern unsere andere:
die des Gemeinwohls.


2 Welcher politische Moment hat Sie
geprägt – außer dem Kniefall von Willy
Brandt?
Tschernobyl. Ich war 17 und trampte ge-
rade von West-Berlin nach München, als
ich im Radio die Nachricht hörte. Wo
fährst du jetzt hin? Was kannst du jetzt
tun? Ich habe in Wackersdorf demons-
triert, mich im Wendland an künstleri-
schen Aktionen beteiligt. Doch dieses
Engagement gegen globale Gesundheits-
gefahren ging dann lange verschütt. Mit
der Klimakrise habe ich es aber wieder-
entdeckt. Und jetzt bleibt es. Gesunde
Menschen auf einem gesunden Planeten



  • das ist mir zum Lebensthema geworden.


3 Was ist Ihre erste Erinnerung an Politik?
Dieter Hallervorden. Mein Vater trat in
der sozialliberalen Ära in die FDP ein,
Leute wie Gerhart Baum fand er gut. Als
Schüler hat er mich mal zu einer Partei-
veranstaltung mitgenommen – und da
trat Dieter Hallervorden auf, der ja bis
heute Parteimitglied ist. Das war das erste
Mal, dass ich einen Menschen, den ich
aus dem Fernsehen kannte, im echten
Leben gesehen habe. Und auch echte Po-
litiker. Heute weiß ich: Politik braucht
Humor. Nur weil man etwas mit ernstem
Gesicht sagt, ist es noch nicht vernünftig.


4 Wann und warum haben Sie wegen
Politik geweint?
Klar: beim Mauerfall – weil ich an dem
Tag nicht in Berlin war!


5 Haben Sie eine Überzeugung, die sich
mit den gesellschaftlichen Konventionen
nicht verträgt?
Ich bin notorisch unpünktlich, weil ich
mich spontan für vieles mehr begeistern
kann als dafür, Fahrzeiten mit einzukal-
kulieren. Sorry.


6 Wann hatten Sie zum ersten Mal
das Gefühl, mächtig zu sein?
Am 20. September 2019 beim internatio-
nalen Klimastreik. Gemeinsam mit Health
for Future, der Charité und vielen anderen
Ärztinnen und Ärzten sprach ich vor dem
Brandenburger Tor zu Hunderttausenden.
Plötzlich, mit weichen Knien, spürte ich:
Es gibt etwas, das uns alle verbindet. Wir
haben noch eine historische Chance, die
Erde bewohnbar zu halten. Und ich kann
als Multiplikator vielleicht einen Teil dazu
beitragen, dass wir unser Verhalten än-
dern. Mächtig ist vielleicht das falsche
Wort dafür, besser passt: wirksam.


7 Und wann haben Sie sich besonders ohn-
mächtig gefühlt?
Als Arzt in der Kinderneurologie und
-psychiatrie. Als ich ein Kleinkind mit
Fetalem Alkoholsyndrom betreute. Da ist
dir klar, dass ein Schaden bleibt, ein Le-
ben lang, weil die Mutter in der Schwan-
gerschaft getrunken hat. Das sind pro
Jahr rund 12.500 neue Fälle in Deutsch-
land.


8 Wenn die Welt in einem Jahr untergeht –
was wäre bis dahin Ihre Aufgabe? Sie
dürfen allerdings keinen Apfelbaum
pflanzen.
Ich würde einen Apfelkuchen backen.
Mit Schlagsahne.


9 Sind Sie lieber dafür oder dagegen?
Dafür. Und ich interessiere mich zuneh-
mend auch nur noch für Leute, die für
etwas sind.
Sind nicht Neinsager oft interessanter?
Im Gegenteil, die sind öde, vorhersehbar.
Den Schreihälsen und Neinsagern so viel
Platz einzuräumen, halte ich für eine
schreckliche mediale Verzerrung, in der
Politik wie aktuell bei Corona. Auf jeden
durchgeknallten Partygänger kommen
Tausende, die zu Hause bleiben. Diese ge-
hören in die Zeitung, ins Fernsehen, auch
wenn es nicht so spektakulär ist. Nennt
sich Kommunikation sozialer Normen
und hält den Laden zusammen.


10 Welche politischen Überzeugungen haben
Sie über Bord geworfen?
Dass man allein auf die Vernunft des In-
dividuums setzen sollte. Seitdem ich mich
mit Klima und Gesundheit beschäftige,
bin ich ein großer Freund ordnungspoli-
tischer Lösungen geworden. Hätte man


gesagt, probiert mal, ein bisschen weniger
Haarspray zu benutzen, wäre das Ozon-
loch immer größer geworden. Sinnvolle
Verbote sind besser als ihr Ruf.

11 Könnten Sie jemanden küssen, der aus
Ihrer Sicht falsch wählt?
Meine Frau hat jahrelang falsch gewählt,
also anders als ich – und ich küsse sie
durchgängig gern.

12 Haben Sie mal einen Freund oder eine
Freundin wegen Politik verloren?
Und wenn ja – vermissen Sie ihn oder sie?
Ich habe einen Verwandten, der AfD
wählt. Ich habe mal versucht, einige Ar-
gumente anzubringen, warum wir als
Enkel von Geflüchteten keine Rassisten
unterstützen sollten, habe aber leider ge-
merkt, dass ich gegen Filterblasen-Logik
nicht ankomme.
Und wie gehen Sie auf Familientreffen
nun miteinander um?
Zur nächsten Einladung bin ich nicht
mehr gegangen. Aber ich will das noch
mal in Ruhe und direkt besprechen.

13 Welches Gesetz haben Sie mal
gebrochen?
Das übliche. Aber seit ich mit Bahncard
100 fahre, werde ich selbst bei Tempo 250
nicht mehr geblitzt.

14 Waren Sie als Schüler beliebt oder unbe-
liebt, und was haben Sie daraus politisch
gelernt?
Ich war Klassensprecher und Mitglied der
Schülervertretung. Wir haben damals
eine Aluminiumsammelstelle eingerich-
tet. Politisch gelernt habe ich daraus:
Wenn man Joghurtdeckel sammelt und
sich niemand zuständig fühlt, sie zu rei-
nigen, werden aus Idealismus sehr schnell
Dinge, die zum Himmel stinken.

15 Welche politische Ansicht Ihrer Eltern
war Ihnen als Kind peinlich?
Keine. Mein Vater wurde zu einer Zeit
FDP-Mitglied, als einem das noch nicht
peinlich sein musste.

16 Nennen Sie eine gute Beleidigung für
einen bestimmten politischen Gegner.
»Ich würde mich gerne geistig mit Ihnen
duellieren. Aber ich sehe, Sie sind unbe-
waffnet.«

17 Welche Politikerin, welcher Politiker
hat Ihnen zuletzt leidgetan?
Klaus Töpfer. Ich durfte unlängst eine
Laudatio auf ihn halten. Preise bekommt
man immer dann, wenn man sie nicht
mehr braucht. Töpfer war ein echter Vi-
sionär und hat schon 1992 in Rio für die
Aufforstung des Amazonasgebietes ge-
kämpft. Pioniere erkennt man an den
Pfeilen im Rücken. Er musste mitansehen,
dass es 30 Jahre gedauert hat, bis eine
Außenseitermeinung Allgemeingut wird.
Und hoffentlich bald Gesetz.

18 Welche Politikerin, welcher Politiker
müsste Sie um Verzeihung bitten?
Niemand. Alle wünschen sich immer
kantige und authentische Politiker. Und
dann wird jeder fertiggemacht, dem mal
ein halbgarer Halbsatz rausrutscht – da-
raus dann Skandale oder Kabarett zu ma-
chen, fand ich nie besonders erhellend.

19 Welche Politikerin, welcher Politiker
sollte mehr zu sagen haben?
Bundespolitiker und Europapolitiker.
Bundespolitiker, weil man dann in der ak-
tuellen Corona-Krise viel schneller ein-
heitliche, wirksame Maßnahmen zur Ein-
dämmung des Virus hätte ergreifen kön-
nen. Und Europapolitiker, weil zum Bei-
spiel eine Vereinbarung aller EU-Mitglie-

der, die Flugpreise si gni fi kant zu erhöhen,
im Kampf gegen den Klimawandel ein
großer Fortschritt wäre. In globalen Kri-
sen blockieren Egos und Kleinstaaterei.

20 Welche politische Phrase
möchten Sie verbieten?
Alternativlos.

21 Ist der Staat ein Mann oder eine Frau?
Bitte begründen Sie.
Der Staat ist eine Familie. Er muss die In-
teressen höchst unterschiedlicher Akteure
ausgleichen. Was anderes macht Familie?

22 Finden Sie es richtig, politische Entschei-
dungen zu treffen, auch wenn Sie wissen,
dass die Mehrheit der Bürger dagegen ist?
Unbedingt. Wenn wir darauf warten,
dass jeder verstanden hat, warum ein ho-
her CO₂-Preis wichtig ist, brechen wir
irgendwann im Frühling bei 45 Grad zu-
sammen. Wir dürfen nicht auf Straßen-
umfragen reagieren, die sind unerheblich.
Jeder hat das Recht auf eine eigene Mei-
nung, aber nicht auf eigene Fakten. Und
meine stille Hoffnung ist, dass wir durch
die aktuelle Krise neu darüber nachden-
ken, in welcher Welt wir leben wollen.

23 Was fehlt unserer Gesellschaft?
Ein soziales Jahr für alle. Früher sind die
unterschiedlichsten Menschen in der
Bundeswehr oder dem Zivildienst zusam-
mengekommen. Wenn wir uns nicht wei-
ter zu einer Gesellschaft entwickeln wol-
len, wo jeder in seiner eigenen Echokam-
mer bleibt, brauchen wir Orte mit Gene-
rationen- und Weltenmix. Die Wehr-
pflicht ist ausgesetzt, überall fehlen Pfle-
gekräfte, die endlich als »systemrelevant«
erkannt werden. Deshalb meine einfache
Idee: Jeder halbwegs Geeignete macht
nach der Schule den »Pflegehelfer«, eine
einjährige Ausbildung.

24 Welches grundsätzliche Problem kann
Politik nie lösen?
Dass es immer mehr natürliche Dumm-
heit gibt als künstliche Intelligenz.

25 Sind Sie Teil eines politischen Problems?
Na klar: Ich bin ein alter weißer Mann.

26 Nennen Sie ein politisches Buch, das
man gelesen haben muss.
Wir sind dran von Ernst Ulrich von Weiz-
säcker, das ist ein Update des berühmten
Club-of-Rome-Berichts Die Grenzen des
Wachstums von 1972. Der Untertitel sagt
alles: Was wir ändern müssen, wenn wir
bleiben wollen.

27 Bitte auf einer Skala von eins bis zehn:
Wie verrückt ist die Welt gerade? Und
wie verrückt sind Sie?
Von wem stammt dieser Satz: »Wir brau-
chen mehr Verrückte, denn schaut euch
an, wohin uns die Normalen gebracht
haben«? Wir reden viel zu viel über »Ver-
zicht« und meinen, ein Grundrecht zu
haben auf industrielle Schweinenacken-
steaks und SUVs. Davon steht nichts im
Grundgesetz. Da steht aber »körperliche
Unversehrtheit«. Dazu gehören so basale
Dinge wie sauberes Wasser und saubere
Luft. Wir müssen nicht das Klima retten,
sondern uns. Weil dieser Perspektivwech-
sel noch keine absolute Mehrheit hat,
würde ich die Verrücktheit der Welt bei
9,5 ansiedeln. Und meine eigene? Meine
Frau würde fragen: »Geht auch 12?«

28 Der beste politische Witz?
Im Kalten Krieg treffen sich Willy Brandt
und Walter Ulbricht. Um das Eis zu bre-
chen, sagt Brandt: »Herr Ulbricht, ich
habe ein Hobby: Ich sammle Witze, die
die Leute über mich erzählen.« Darauf
Ulbricht: »Ist ja interessant, ich habe ein
sehr ähnliches Hobby: Ich sammle Leute,
die Witze über mich erzählen.«

29 Was sagt Ihnen dieses Bild? (Pestbild;
Mittelalter)
Dass die Leute im Mittelalter demütiger
dem Geschenk des Lebens gegenüber wa-
ren als wir heute. Weil sie klar vor Augen
hatten, wie schnell alles vorbei sein kann.

30 Wovor haben Sie Angst – außer dem Tod?
Dass ich später feststellen muss, ich habe
zu viel Zeit mit falschen Dingen ver-
bracht.
Was war falsch?
Eine Menge. Analog wie online. Aber ein
Leben ohne Unsinn wäre erst recht sinn-
los, sagt Viktor Frankl. Jeder Mensch hat
zwei Leben. Und das zweite beginnt,
wenn man kapiert: Du hast nur eins.

31 Was macht Ihnen Hoffnung?
Dass viele junge bunte Menschen wissen,
was die richtig wichtigen Dinge sind.

Die Fragen stellte Peter Dausend

Jede Woche stellen wir Politikern
und Prominenten die stets selben
Fragen, um zu erfahren, was sie als
politische Menschen
ausmacht – und wie sie dazu
wurden. Und wo sich neue Fragen
ergeben, haken wir nach.
Die Nachfragen setzen wir kursiv

Eckart von Hirschhausen, 52, wuchs in Berlin auf. Er studierte Medizin und arbeitet heute als Journalist,
Kabarettist und Moderator. Mit Scientists for Future setzt er sich für politisches Handeln gegen die Klimakrise ein

Ein Sammelbild aus den 1950ern zeigt
eine mittelalterliche Pest-Szene

Illustration: David de las Heras für DIE ZEIT; Kl. Bild: Interfoto

DER POLITISCHE FRAGEBOGEN



  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 15 WISSEN 35

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