Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1
Die Arbeitswelt in Corona-Zeiten: Werktätige einer Autofabrik im chinesischen Wuhan in der Mittagspause

Foto: Stringer/AFP/Getty Images

Made in China


Wie von nun an der digitale Leninismus die Welt steuert, und warum der Westen


dieser Demütigung wenig entgegenzusetzen hat VON ADAM SOBOCZYNSKI


M


itte und Maß, von denen
hierzulande immer so viel
und gerne zu hören ist,
haben ausgedient. Wer
sich frei mit Freunden
oder Verwandten im Land
bewegt, dem rückt neu­
erdings die Polizei zu Leibe. Die Amerikaner,
über lange Zeit Statthalter des Liberalismus
schlechthin, greifen zu ähnlichen Mitteln, sind
aber womöglich auf das Coronavirus noch weni­
ger vorbereitet als die Europäer – angesichts eines
Gesundheitssystems für die happy few, ausgehen­
der Atemmasken und über viele Wochen fehlen­
der Tests. Es deutet sich bereits an: Ausgerechnet
China könnte gestärkt aus dieser Krise hervor­
gehen, und die jeden und alles segnende Partei
hat schon die Systemfrage gestellt. Ist der digitale
Staatskapitalismus nicht in Wahrheit fortschritt­
licher als der marode Westen?
Man darf die Frage versuchsweise ernst neh­
men – mit Blick auf den irrlichternden US­Präsi­
denten, die zahlreichen Toten in New York, die
Ärztinnen, Pfleger, Kassiererinnen und Polizisten,
die sich tagtäglich infizieren, weil sie über keine
angemessene Schutzkleidung verfügen. Was das
bedeutet, ließ sich bereits in Italien, Spanien und
in Frankreich besichtigen, wo die Krise noch lan­
ge nicht ausgestanden ist. China und einige ande­
re asiatische Staaten haben das Virus hingegen
durch kybernetisch­totalitäre Menschenführung,
die Absperrung von Millionenstädten, die flä­
chendeckende Versorgung mit Mundschutz und
zahlreiche Tests erst einmal, wenn nicht alles
täuscht, in den Griff gekriegt. Den Europäern
und Amerikanern gelang das bisher nicht.
Eine Naturkatastrophe ist diese Epidemie in
Amerika und Europa übrigens nicht. Eine Natur­
katastrophe haben letztlich nur die Chinesen er­
lebt. Die Amerikaner und die Europäer hätten
bereits viele Wochen vor Ausbruch der Krankheit
in ihren Ländern einigermaßen genau wissen kön­
nen, in welcher Gefahr sie sich durch das Corona­
virus befinden, und Vorbereitungen treffen kön­
nen. Das Robert Koch­Institut aber, ausgerechnet
die Beratungsstelle der Bundesregierung, sprach
von einer Grippewelle, die sich vermutlich nicht
sehr stark verbreiten werde. Hatte man angenom­
men, dass das Virus auf dem Luftweg schlapp­
macht? Oder glaubte man im Westen, dass der
Liberalismus im Umgang mit einer Seuche, die
sich doch ziemlich wenig um Regierungssysteme
schert, den Chinesen irgendwie von Natur aus
überlegen ist?
Das Gegenteil scheint derzeit naheliegender:
Während die Europäer und Amerikaner mit hilflosen,
ja regelrecht mittelalterlichen Methoden die Bewe­
gungsfreiheit des Bürgers einschränken, setzt die
asiatische Lösung auf Gesundheits­Apps, mit denen

das Leben des Individuums in bislang unvorstellbarer
Lückenlosigkeit kontrolliert wird und die Kranken
von den Gesunden separiert werden. Es verwirklicht
sich ein albtraumhafter, biopolitischer Überwa­
chungsstaat. Aber wie wird man der chinesischen
Politik noch Repression vorwerfen können, wenn
hierzulande die Polizei Parks daraufhin abkämmt, ob
sich mehr als zwei Leute im Busch lümmeln? Wie
wird man den Chinesen Brutalität vorwerfen können,
wenn dort – im Gegensatz zur westlichen Welt – zu­
mindest wieder ein öffentliches Leben existiert?
Es steckte von Anfang an eine gehörige Portion
Hybris im Sprechen und Schreiben über die chine­
sische Strategie, das Virus zu bekämpfen. Offenbar
verhinderte dies eine realistische Gefahrenbewertung.
Man hat die chinesischen Maßnahmen reflexartig als
autoritäre Strategie der Unter­
drückung gedeutet. Diese
Deutung aber überzeugt nicht.
Denn bei aller Knechtungslust
der Kommunistischen Partei:
Die Machthaber hatten mit
Sicherheit keine Neigung, ihre
Wirtschaft über Monate kom­
plett lahmzulegen. Sie haben
dies offenkundig getan, um als
Staat nicht zu zerfallen. Dass
ihnen durch die Seuchenbe­
kämpfung nun Instrumente zur Verfügung stehen,
das Volk an der ganz besonders kurzen Leine zu
führen, ist ein schrecklicher Nebeneffekt.
Gewiss, mittlerweile zeigt sich in dieser Krise über­
deutlich, auf welches Abenteuer sich der Westen mit
der angeblich alternativlos voranschreitenden Glo­
balisierung eingelassen hat. Zur »Werkbank der Welt«
hat sich ausgerechnet die gelenkte Wirtschaft eines
leninistischen Re gimes gemausert, die uns nicht nur
mit netter Technik und billigen Konsumgütern
massenhaft versorgt, sondern eben auch mit system­
relevanten Produkten, mit Medikamenten, mit
Atemmasken, mit Schutzkleidung, um die sich
Amerikaner und Europäer bis aufs Blut streiten. Es
ist offenkundig noch nicht ausreichend ins kollekti­
ve Bewusstsein gerückt, mit wem man es eigentlich
zu tun hat: mit einer kleptokratischen Partei nämlich,
der alles, auch der Staat, untergeordnet ist; mit dem
allmächtigen Parteiführer auf Lebenszeit Xi Jinping,
einem Anhänger russischer Literatur (Turgenjew,
Dostojewski, Tolstoi) und großen Eishockeyfan, der
die gesellschaftliche Liberalisierung, die sich nach
1989 in Maßen entfaltete, mittlerweile völlig zurück­
gedrängt hat; mit einer autoritären Kaste, die Mana­
ger, Intellektuelle, Blogger und Künstler über Nacht
verschwinden oder im Staatsfernsehen Selbstanklagen
zelebrieren lässt wie zur Blütezeit der Sow jet union;
mit einem Re gime, das die Internetzensur meisterhaft
beherrscht, das digitale Sozialpunkte an seine Bürger
verteilt und so die Reisefreiheit reguliert. Die Macht­
haber sind klug genug, nach außen ein menschliches,

ein tolerantes Antlitz des Sozialismus zu präsentieren,
was in Europa, das von der Abneigung gegen Trump
blind beseelt ist, auch durchgeht.
Aus der Ausrichtung ausnahmslos aller Glieder
des Staates, die wirtschaftlichen Akteure eingeschlos­
sen, auf die Kommunistische Partei wird in China
übrigens kein Geheimnis gemacht. Es lohnt ein
flüchtiger Blick in die Werke des großen Führers Xi
Jinping (zum Beispiel in den aufschlussreichen Auf­
satzband China regieren): Wie Lenin geht auch Xi
davon aus, dass die Massen von einer Avant garde
erzogen und gelenkt werden müssen, und das gelingt
mit einer raffinierten Dosis von Zuckerbrot und
Peitsche leider derzeit wunderbar. Denn neben den
klassischen rohen und doch eher unbeliebten Me­
thoden wie Verhaftungen, Folter und Denunziatio­
nen vermag das Reich mit sei­
nem digitalen Leninismus die
Knebelung mit biopolitischen
Anreizen und kleinen Beloh­
nungen für das kollektive
Wohlverhalten anzureichern:
Wer hat sich brav an die Qua­
rantäne­Vorschriften gehalten?
Wer ist rechtschaffen? Wo
wohnt der nächste Infizierte,
den ich geschickt meiden soll­
te? Das zeigen Apps an. Und
das Volk, derart motiviert, macht mit. Es gibt, sagte
Heiner Müller einmal, einen Grad an Unterdrü­
ckung, der als Freiheit empfunden wird. Und es er­
staunt vielleicht nur auf den ersten Blick, dass auch
in westlichen Ländern Ausgehverbote durchaus als
befriedigende Gemeinschaftsleistung gerühmt wer­
den, fast so, als sei der neue Gehorsam insgeheim
schon lange herbeigesehnt worden.
Das chinesische Belohnungsprinzip kennt man
noch aus den alten Ostblockstaaten, wo der Mit­
arbeiter der Woche aber ziemlich willkürlich aus­
gewählt und zur Belustigung der Kollegen mit
Foto auf einer Urkunde im Betrieb präsentiert
wurde. Im allerneuesten Sozialismus ist der Erfolg
des Einzelnen quantifizierbar, und mit Ausgangs­
erlaubnis wird belohnt, wer tatsächlich im Sinne
des Staates, in dem er widerstandslos aufgeht, ech­
ten Kollektivgeist zeigt. Wie unelegant und aus der
Zeit gefallen wirken da irgendwelche Polizisten,
die Menschenansammlungen auf den europäi­
schen Marktplätzen verscheuchen, weil irgendwer
irgendwie infiziert sein könnte.
Der Journalist Kai Strittmatter hat in seinem fak­
tensatten Buch Die Neu erfin dung der Diktatur jüngst
minutiös aufgezeigt, wie im neuen China Staat, Volk
und Partei verschmelzen und dieser Zusammen­
schluss von den Staatsmedien, im staatlich kon­
trollierten Netz, aber auch in der Öffentlichkeit
hysterisch gefeiert wird. Der Westen hingegen wur­
de bereits vor sieben Jahren von den Chefdenkern
der Partei – übrigens ganz im Sinne der postcolonial

studies – als abgrundtief verlogen gebrandmarkt.
Wenn dieser vom Universalismus spreche, meine er
in Wahrheit nur westliche Prinzipien, um sich die
Welt untertan zu machen. Repression ist, so besehen,
Befreiung und westliche Freiheit totalitäres Gehabe.
Die neueste chinesische Adaption des postmodernen
Relativismus ist das Werk Alles unter dem Himmel
von Zhao Ting yang (ZEIT Nr. 12/20), einem Phi­
losophen der von der Partei kontrollierten Chinesi­
schen Akademie der Sozialwissenschaften in Peking.
Es erschien gerade in deutscher Übersetzung im
Suhrkamp Verlag, und wenn ein Buch von Uwe Tell­
kamp ein Skandal sein soll, dann ist es erst recht
diese Feier eines chinesischen Albtraums, der als
Utopie vorgestellt wird. Neben der Universalismus­
kritik, der große Teile der westlichen Intellektuellen
zustimmen dürften, ist die Rede von einer postlibe­
ralen Welt namens Tianxia aus der alten Zhou­
Dynastie, in der sich alle zum Zwecke eines Welt­
friedens freiwillig und mit Glücksgefühlen unter­
werfen, und man ahnt schon, welche Nation der
heimliche Anführer dieser himmlischen Harmonie
sein könnte. Ein Tipp: Trumps Amerika ist es nicht.
Der Westen ist in lebenserhaltende Abhängigkeit
von der größten und mächtigsten Diktatur auf Erden
geraten. Manager und Politiker nennen diese zweifel­
hafte Entwicklung seit Jahrzehnten feierlich Globa­
lisierung, weil sie uns als Handelsnation über lange
Zeit so herrlich genutzt hat und man die tollen
deutschen SUVs exportieren konnte – wenn auch
mit dem kleinen Nachteil massiver Klimaschäden
und nun, mit Corona, der Aussicht auf wirtschafts­
und machtpolitische Unterlegenheit, mindestens aber
eine schwere Demütigung. Es ist schon eine beson­
dere Pointe: 30 Jahre nach dem Zusammenbruch des
Ostblocks droht der Leninismus über den Liberalis­
mus zu triumphieren. Und wer meint, mit dieser
finsteren Pro gno se sei man einer Propagandalüge
Chinas aufgesessen, kann nicht zugleich devot um
lebensrettende Lieferungen von banalen Schutz­
masken aus China bangen.
Der weltumspannende Liberalismus hatte viel­
leicht nur einen sehr kurzen Auftritt in der
Geschichte, vielleicht wird er im Rückblick ledig­
lich zwischen 1989 und 2020 existiert haben. Wir
befinden uns in den chaotischen Zwanzigerjahren,
und sie haben ein ganz anderes Gesicht, als wir es
uns noch vor sehr wenigen Wochen gedacht haben.
Es wird seit Langem mit guten Gründen ver­
mutet: Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert
der Europäer, das 20. das der Amerikaner, das 21.
gehört dem Fernen Osten. Wenn die Chinesen
weise sind, werden sie uns Europäer nach der
Corona­Krise mit einem Marshallplan in hoffent­
lich gütige Abhängigkeit bringen. Am Ende, wer
weiß, werden wir es noch als himmlisches Glück
empfinden, uns zu unterwerfen.

A http://www.zeit.de/audio

I


n den vergangenen Tagen sind allein in
Italien und Spanien Tausende am Co­
ronavirus gestorben, in Italien waren es
1000 in 24 Stunden, in Spanien 800.
Diese Meldungen kommen nicht von einem
anderen Planeten oder von einem weit ent­
fernten Kontinent. Sie erreichen uns aus
unseren Nachbarländern, denen wir ver­
bunden sind. Wir, die Verfasser, gehören zu
den Liebhabern der mediterranen Kultur.
Aber man muss kein Liebhaber sein, um
über das ungeheure Ausmaß der Zerstörung
zu erschrecken, das das Coronavirus in die­
sen Ländern jetzt schon angerichtet hat.
Die Pandemie hat überall in Europa beein­
druckende Beispiele von Nachbarschaftshilfe
und Solidarität hervorgebracht. Tausende von
jungen Leuten melden sich freiwillig, um allein
lebende ältere Menschen in ihren Wohnungen
zu versorgen; das Land Sachsen nimmt schwer
kranke Patienten aus Italien auf, das Saarland
bietet unversorgten französischen Patienten
Hilfe an, andere Bundesländer sowie der Bund
engagieren sich ebenfalls. Ein neues Klima ist
zu spüren: Es ist geradezu populär, Hilfsbereit­
schaft, Empathie und Hoffnung zu zeigen.
Aber in der entscheidenden Frage bleiben die
Nordländer gegenüber den Brüdern und
Schwestern aus dem Süden zurückhaltend: Sie
weigern sich strikt, einem von allen EU­Mit­
gliedern garantierten Fonds zuzustimmen,
durch den es möglich wäre, die riesigen finan­
ziellen Lasten der Krise gemeinsam zu schul­
tern. Ein solcher Fonds würde vermeiden, dass
ein Schock, der im Prinzip alle Mitglieds­
staaten trifft, jene Länder überfordert, die
schon vor der Krise mit einer sehr hohen
Staatsverschuldung zu kämpfen hatten.
Die Europäische Kommission sollte daher
einen Corona­Fonds einrichten, der in der
Lage ist, sich auf den internationalen Kapital­
märkten möglichst sehr langfristig zu ver­
schulden. Aus diesem Fonds sollten die Mittel
als Transfers an die Mitgliedsstaaten fließen.
Mit dieser Konstruktion würde verhindert,
dass sich die Verschuldung der einzelnen Mit­
gliedsstaaten erhöht. Der Fonds würde aus
dem EU­Haushalt Mittel für die Zinszah­
lungen erhalten.
Der von uns vorgeschlagene Fonds sollte
nicht mit dem Modell der Eurobonds ver­
wechselt werden, die als Lösung für die Euro­
Krise der Jahre 2010 bis 2012 vorgeschlagen
worden waren. Bei den Eurobonds ging es
darum, eine gemeinsame Haftung für einen
erheblichen Teil der in der Vergangenheit ent­
standenen nationalen Verschuldung zu etab­
lieren. Bei den Corona­Bonds sollen die ak­
tuell und in den kommenden Monaten ent­
stehenden Schulden gemeinschaftlich getragen
werden. Es geht also um eine zeitlich begrenz­
te Maßnahme, die es Italien und anderen in
ihrer Existenz bedrohten Ländern erlauben
würde, die Krise und die Zeit danach politisch
und ökonomisch zu überleben. Hier nichts zu
tun käme unterlassener Hilfeleistung gleich.
Es ist für uns nur schwer nachvollzieh­
bar, warum die Bundeskanzlerin und der
Vizekanzler so große Vorbehalte gegenüber
diesem für die europäische Solidarität und
Stabilität notwendigen Schritt an den Tag
legen. Bei dieser Solidarität geht es auch um
ein gemeinsames Bewusstsein von der Krise.
Es gilt gerade jetzt, Wege zu finden, mit
denen wir verdeutlichen können, dass wir
zusammengehören, dass wir vom gleichen
»Zauber gebunden sind«, wie es in unserer
Hymne heißt. Wozu soll die EU denn gut
sein, wenn sie in Zeiten von Corona nicht
zeigt, dass Europäer zusammenstehen und
für eine gemeinsame Zukunft kämpfen?
Das ist nicht nur ein Gebot der Solidarität,
sondern auch eines Eigeninteresses. In die­
ser Krise sitzen wir Europäer alle in einem
Boot. Wenn der Norden dem Süden nicht
hilft, dann verliert er nicht nur sich selbst,
sondern auch Europa.

Peter Bofinger, Dany Cohn­Bendit,
Joschka Fischer, Rainer Forst,
Marcel Fratzscher, Ulrike Guérot,
Jürgen Habermas, Axel Honneth, Eva Menasse,
Julian Nida­Rümelin, Volker Schlöndorff,
Peter Schneider, Simon Strauß,
Margarethe von Trotta

Der Aufruf erscheint zeitgleich in »Le Monde«

Europa kann


nur weiterleben,


wenn die Europäer


jetzt füreinander


einstehen


Intellektuelle, Künstler, Politiker
und Ökonomen fordern
einen Corona­Fonds

Hat sich


der Liberalismus


schon historisch


überholt?


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  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 15


FEUILLETON

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