Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

W


as braucht ein Mensch,
um alles hinter sich zu
lassen? Braucht er Mut?
Größenwahn? Jeff Wil-
busch sagt, ihm reichte
Verzweiflung. Wilbusch
war 13 Jahre alt und hat-
te gerade erst seine Bar-Mizwa hinter sich, als er an
einem Samstag im Jahr 2001 mit zitternden Hän-
den ein paar Schekel aus einer Schachtel im Schlaf-
zimmer seiner Eltern fingerte, die Treppen aus dem
obersten Stock des Hauses hinunterhastete und die
Tür aufstieß. Wilbusch erinnert sich, dass ihm der
Wind ins Gesicht blies, dass er seine Kippa festhielt
und so schnell rannte, wie er konnte.
Wilbusch hat diese Erinnerung einst aufgeschrie-
ben als eine Art Tagebucheintrag. Es ist die Szene, in
der seine Flucht kulminiert: raus aus der ultraortho-
doxen jüdischen Familie, rein in ein neues Leben.
Obwohl, wirklich nur eins? Die Mutter seiner Freun-
din, erzählt der heute 32-jährige Schauspieler in
einem Café in Berlin-Neukölln, sage manchmal: Du
hast nicht ein Leben, Jeff, du hast tausend.
Sein Leben klingt wie aus einem Drehbuch.
Einem allerdings, das Wilbusch lange Zeit mög-
lichst fern von sich hielt. Erst jetzt wagt er sich an
seine Vergangenheit heran.
An einem regnerischen Vormittag im Januar steht
er vor ebenjener Tür in Jerusalem, aus der er als klei-
ner Junge abgehauen ist. Auf dieser Reise begleiten
ihn seine Freundin, die Schauspielerin Anna Platen,
und der ZEIT-Reporter. Wilbusch will zeigen, wo er
aufgewachsen ist, erklären, warum er damals floh und
warum er jetzt immer häufiger zurückkehrt.
Letzteres liegt auch an Wilbuschs bislang wohl
wichtigster Rolle, sicher seiner persönlichsten. Seit
vergangener Woche läuft auf Netflix die Verfilmung
des autobiografischen Weltbestsellers Unorthodox von
Deborah Feldman (Regie: Maria Schrader). Feldman
wuchs Tausende Kilometer von Wilbusch entfernt
auf, aber die Lebensgeschichten der beiden ähneln
sich, als kämen sie aus demselben Dorf.
Feldman lebte im New Yorker Stadtteil Wil-
liamsburg, Wilbusch im Jerusalemer Stadtteil
Me’a Sche’arim. Beide Viertel sind ein Zentrum
ultraorthodoxen Lebens mit ganz eigenen Geset-
zen. Feldman hatte wie Wilbusch das Gefühl, in
dieser Welt zu ersticken. Über Monate bereitete sie
ihren Ausstieg vor. Als junge Frau schließlich floh
sie mit ihrem Kind aus einer arrangierten Ehe, erst
nach Manhattan, dann ausgerechnet nach Berlin.
Vor Wilbuschs altem Elternhaus ist es an die-
sem Januarmorgen ungewöhnlich leer, es nieselt.
Nur ein paar junge Männer schlendern vorbei, sie
tragen lange dunkle Mäntel über weißen Strumpf-
hosen, zauselige Bärte, Schläfenlocken und mäch-
tige runde Hüte aus Zobel. Me’a Sche’arim ist ein
Ort wie aus einer anderen Zeit. Die Anwohner
lehnen Technologie ab, egal ob Handy, PC oder
Fernseher. Wer hier mit seinem Smart phone he-
rumfuchtelt, bekommt ein Problem. Informatio-
nen werden plakatiert oder per Megafon verkün-
det. Irgendwann zwängt sich ein Auto durch eine
enge Gasse, auf dem Dach ein Megafon: Eine
krächzende Stimme informiert über eine anste-
hende Beerdigung.
Wilbusch wurde in Haifa geboren, später zog die
Familie nach Jerusalem. Die Eltern, selbst säkular
aufgewachsen, waren gekommen, um ihren Platz in
der orthodoxen Welt zu finden. Sie bezogen eine
Dreizimmerwohnung im obersten Stock eines Mehr-
familienhauses. Schnell wurde es dort immer enger,
heute hat Wilbusch 14 Geschwister. Seine Familie
gehörte damals zu Neturei Karta, einer extremen
Strömung des ultraorthodoxen Judentums, deren
Vertreter den Staat Israel ablehnen. Bei Wilbuschs zu
Hause sprach man ausschließlich Jiddisch. Hebräisch
war die Sprache der Zionisten.
Heute gehört Wilbuschs Familie wie die von
Deborah Feldman zu den Satmar-Chassidim, einer
Strömung des chassidischen Judentums, deren An-
hänger eine alles umfassende Religiosität leben.
Satmar ist eine religiöse Gemeinschaft, die 1905 in
der heute rumänischen Stadt Satu Mare begründet
wurde. Chassidismus ist ein Sammelbegriff für ver-
schiedene orthodoxe Bewegungen. Gemeinsam ist
allen, dass der Alltag ihrer Anhänger radikal auf Re-
ligion ausgerichtet ist, auf das Studium von Thora
und Talmud. Wilbuschs Vater arbeitete nicht, son-
dern verbrachte seine Tage in der Synagoge.
Das Leben der Chassidim wird von den 613 Mitz-
wot bestimmt, Gesetzen, die jede Phase des Tages wie
des Lebens regeln. In ihnen ist festgeschrieben, wann
und wie gebetet wird, welche Kleidung zu wählen ist,
wie geliebt und gehasst werden darf. Wilbuschs Vater
lebte diese Regeln besonders streng. Wenn die ande-
ren Kinder schon spielen gehen durften, musste Jeff



  • damals hieß er noch Isroel Iftach – in der Synagoge
    bleiben und weiterbeten. An Filme oder nichtjüdische
    Musik war nicht zu denken, selbst Sport verachteten
    die Eltern. Wilbusch erinnert sich an den Ärger seiner
    Mutter, als sie bei ihm einen Modekalender entdeck-
    te, in dem auch Frauen abgebildet waren.


In Wilbuschs Kindheit basierte alles auf der
Religion. Doch was, wenn du in dieser Welt lebst,
aber nicht daran glaubst? Wenn du zweifelst?
Von Me’a Sche’arim aus führt Wilbusch durch
verwinkelte Gassen und über Plätze und steigt schließ-
lich durch ein Loch in einem Baustellenzaun. Ein
matschiger Hinterhof. Überall liegt Müll, und es stinkt
nach vergorenem Gemüse, aber Wilbusch atmet tief
ein und aus, andächtig. Vor ihm liegt ein sandstein-
farbenes Gebäude: sein alter Cheder, die traditionelle
Schule, auf der er die Thora lesen lernte. Die Fenster-
scheiben sind ausgeschlagen, die Tür ist verriegelt.
Bald wird das Gebäude abgerissen. Er sei ein hervor-
ragender Schüler ge wesen, erzählt er, und dennoch
habe der Rabbi ihn ständig geprügelt, allein schon,
weil er das Kind von »Gewordenen« war, also nicht
ursprünglich ultraorthodoxen Juden. »Hat hier alles
angefangen?«, fragt Wilbusch und schaut herum.

G


leich neben der Schule liegt der Ma-
hane Yehuda Market. Täglich laufen
hier Zehntausende Touristen an den
Gemüseständen entlang. Wilbusch
wuchs in den engen Grenzen des
Glaubens auf, aber zugleich flanierte vor seinen
Augen die Welt. Wenn er von der Schule nach
Hause ging, bestaunte er die Touristen. Wie viel
Baklava sie aßen, was für Klamotten sie trugen,
welche Fotoapparate über ihren Schultern baumel-
ten. Heimlich streifte er umher, stöberte durch die
Geschäfte, starrte auf die flimmernden Fernseher
wie auf Fenster in ein anderes Universum.
Wilbusch versuchte immer wieder, auszubre-
chen. »Ich hatte das Gefühl: Das hier ist ein Miss-
verständnis, ich gehöre hier nicht hin.« Aber nach
jedem Ausbruch brachte ihn jemand zurück. Der
ratlose Vater schickte ihn zu einem Vertrauten, der
herausfinden sollte, was mit dem Kleinen nicht

stimmte. Der Mann hatte einen dicken Bauch und
eine gelb getönte Brille, erinnert sich Wilbusch, er
schaute das Kind an und sagte: »Ich weiß, was du
willst, mein Junge! Du willst a Weberle!« Aber
Wilbusch wollte kein Weib, er wollte weg.
Nur, was kommt nach der Flucht? Wilbusch
und Feldman lernten beide: Erst mal kommt die
Leere, die Einsamkeit. In der Serie Unorthodox
(anders als in Feldmans Buch) irrt die Protagonis-
tin Esther (großartig gespielt von Shira Haas) al-
lein durch Berlin. Irgendwann ruft sie von einem
Münztelefon aus in Williamsburg an. Ihre geliebte
Großmutter geht ran. »Bubby? Hier ist Esty, ich
weiß nicht, was ich tun soll ...«, fängt sie an, aber
da hat die Großmutter schon aufgelegt. Auch Wil-
busch hat so etwas erlebt, er rief bei Hillel an, einer
Organisation, die in Israel Menschen hilft, die ul-
traorthodoxe Gemeinden verlassen. »Mit Minder-
jährigen dürfen wir nicht zusammenarbeiten, tut
mir leid«, sagte die Stimme am Telefon. Wilbusch
war allein. Er lebte bei Verwandten, heuerte bei
einem Gemüsehändler an, wohnte in einem klei-
nen Verschlag hinter dessen Laden.

Schnell bekam Wilbusch zu spüren, welche Fol-
gen seine Flucht hatte: Er war nun ein Aussätziger.
Als ältester Sohn der Familie war er noch ein Kind,
aber er durfte auf keine Familienfeier mehr, durfte
keinen Kontakt zu seinen Geschwistern haben. Zu-
gleich wurde er über Mittelsmänner bedrängt, zu-
rückzukommen. Selbst die Sozialarbeiter im Jugend-
amt, erinnert sich Wilbusch, waren Ultraorthodoxe.
Sie schrien ihn an: »Du Lügner, du bist eine Schande,
geh gefälligst zu deinen Eltern zurück!«
Aber Wilbusch ging nicht zurück, sondern hol-
te die Schule nach. Dann ging er in die Nieder-
lande, das Herkunftsland seiner Mutter. Dort be-
gann er Musik zu machen. Nach seinem ersten
Auftritt war ihm klar: Das will ich wieder. Den
Applaus, die Bühne, das Adrenalin. Als er hörte,
dass die renommierte Münchner Otto-Falcken-
berg-Schauspielschule noch männliche Kandida-
ten suchte, bewarb er sich.
Er hat den selbst geschriebenen Monolog, den
er damals vortrug, noch auf dem Handy. Es ist ein
Brief an seinen Vater, der nach Wilbuschs Flucht
mit der Familie nach England gezogen war. Wil-
busch sitzt in einem ungemütlichen Café neben
dem Mahane Yehuda Market, draußen schüttet es,
und liest Auszüge daraus vor: »Hallo, wie ist Man-
chester? Wie viele Geschwister sind wir nun? Vier-
zehn? Weißt du, Papa, ich habe nie verstanden,
warum ihr mir das angetan habt. Ich habe gewar-
tet, als Mami mir die Tür nicht geöffnet hat, ich
hatte doch nur nach Kleidung gefragt. Warum
habt ihr mich nicht ins Haus gelassen? Ich war ein
gutes Kind. Ich lebe jetzt in einer großen Woh-
nung in Amsterdam, zusammen mit meinen
Freunden aus der Uni. Ich gehe viermal im Jahr
snow boar den, im schönen Lech. Warst du schon
mal in Tirol? Fahr mal hin, fahr mal hin! Der
Schnee, die Berge, es wird dir guttun.«

Wilbusch hatte keinerlei Schau spiel erfah rung,
er konnte nicht einmal wirklich Deutsch, wahr-
scheinlich, sagt er, verstanden die Prüfer gar nicht,
was er da erzählte – aber er wurde genommen.
Ab hier ging es steil aufwärts für Wilbusch.
Noch als Student wurde er Ensemblemitglied der
Münchner Kammerspiele. Er spielte in Inszenie-
rungen von Frank Castorf und Johan Simons.
Erste Filmrollen folgten: im Polizeiruf und in der
Serie Bad Banks. Dann spielte er in der britischen
Serie Die Libelle einen deutschen Terroristen,
der gegen den Mossad kämpft, neben Michael
Shannon. Wilbusch weiß, wie übermächtig seine
Biografie wirkt, und er hat Sorge, dass sie ihn
definieren könnte. Immer wieder sagt er während
der Reise, dass er als Schauspieler gesehen werden
möchte, nicht als Aussteiger.

V


ielleicht ist es deshalb gerade gut, dass
seine Rolle in Unorthodox die des An-
tagonisten, eines Täters, ist: Wilbusch
spielt Moi she Levkovitch, einen ra-
biaten, ketterauchenden und glücks-
spielsüchtigen Draufgänger, der vom Rabbi ge-
meinsam mit dem verlassenen Ehemann beauf-
tragt wird, die flüchtige junge Frau zurück in die
Gemeinde zu holen. Wilbusch kennt diese Cha-
raktere aus seiner eigenen Vergangenheit, und er
spielt seinen Part grandios.
Es ist an jenem verregneten Januartag schon
später Nachmittag, als Wilbusch samt seiner Be-
gleitung vor einer Synagoge in Afula im Norden
Israels vorfährt. Es ist die Gemeinde seines Bruders
Moi sche. Der 25-Jährige steht schon am Eingang
der Synagoge und wartet, er trägt einen weiten
Mantel, Kippa und Schläfenlocken. Moi sche ist es
zu verdanken, dass sein Bruder langsam wieder
Teil der Familie wird.
Es hat Jahre gebraucht, bis Wilbusch sich mit
seiner Vergangenheit aus ein an der set zen konnte.
Das Buch von Deborah Feldman zu lesen fiel ihm
schwer, es war zu nah. »Da ist eine große Zerris-
senheit«, sagt er. »Wut über das, was mir als Kind
angetan wurde, einerseits. Andererseits Liebe, Ver-
bundenheit mit meiner Familie und auch mit der
Kultur.« Wilbusch wollte sich immer wieder an-
nähern, aber er konnte nicht.
Dann kam die Anfrage für Unorthodox. Die
Showrunnerin Anna Winger erinnert sich, wie
verdutzt sie beim ersten Casting war. Ein Schau-
spieler mit Jiddisch-Kenntnissen war angekün-
digt, aber plötzlich saß da Wilbusch und sagte:
»Das ist meine Geschichte. Ich bin so aufgewach-
sen, ich habe das alles durchgemacht.« Die Dreh-
arbeiten wurden zu einer Art Therapiesitzung.
Wilbusch traf andere Aussteiger, überhaupt ar-
beiteten vor und hinter der Kamera lauter Juden
und Israelis mit. Es war, sagt Wilbusch, als hätte
ihn jemand an der Hand genommen und langsam
zurückgeführt.
In der Synagoge in Afula führt Moi sche in einen
zugestellten Hinterraum. Ein Gemeindemitglied
hat hier ein kleines improvisiertes Restaurant auf-
gebaut. In wuchtigen Töpfen köchelt Suppe, dazu
gibt es Kugel, einen jüdischen Nudelauflauf, und
Tscholent, einen Kartoffel-Bohnen-Eintopf, dazu
saure Gurken und eingelegten Hering. Immer mal
wieder kommt eine Gruppe Männer vom Beten
und Thora-Lesen aus dem ersten Stock herunter
und isst etwas.
Wilbusch und sein Bruder setzen sich an einen
der Plastiktische. Die Leben der beiden könnten
unterschiedlicher kaum sein. Moi sche ist den tra-
ditionellen Weg gegangen, er ist Thora-Lehrer,
widmet sein Leben der Religion, seine drei Kinder
wuseln um ihn herum. Wilbusch lebt in einer Alt-
bauwohnung in Neukölln. Jetzt hat er den ganzen
Tag nichts gegessen, weil er gerade Intervallfasten
macht und außerdem auf Kohlenhydrate verzich-
tet. Schon ganz zittrig, bestellt er sechs gekochte
Eier. »Das kommt mir aber nicht besonders ge-
sund vor«, murmelt sein Bruder.
Moische lebt seinen Glauben großzügiger als
die Eltern der beiden, er nahm den Kontakt zu Jeff
wieder auf und führte ihn behutsam zurück in die
Familie. Bald heiratet eine der Schwestern, und
Jeff ist eingeladen. Für ihren Vater, erzählt Moi-
sche beim Essen, bedeute Liebe vor allem eins: für
ihn zu beten. Als Jeff weggelaufen war, verteilte
der Vater in der Synagoge Gebetszettel an die Ge-
meindemitglieder. Er sehe das anders, sagt Moi-
sche: »Liebe heißt doch auch: jemanden umarmen
und willkommen heißen.«
So lange hatten die Brüder keinen Kontakt,
dass sie anfangs nicht wussten, in welcher Spra-
che sie sich unterhalten sollten. Hebräisch? Eng-
lisch? In der Synagoge sprechen die Brüder auf
Jiddisch mit ein an der, stundenlang. Sie lachen, sie
foppen sich, und irgendwann muss Moi sche los,
einem Thora-Schüler Nachhilfe geben. Die bei-
den um armen sich lange. »Komm bald wieder«,
sagt Moi sche. Jeff Wilbusch nickt. Er hat Tränen
in den Augen.

Der Schauspieler Jeff Wilbusch
lebt heute in Berlin

In der Serie spielt Jeff Wilbusch (li.)
den strenggläubigen Moishe

Jeff Wilbusch ist einer der Stars der Netflix-Serie »Unorthodox«. Auch er selbst entkam einer


ultraorthodoxen Familie. Ein Treffen mit ihm dort, wo seine Flucht begann VON SEBASTIAN KEMPKENS


Nur weg hier


Fotos: Vera Tammen für DIE ZEIT; Anika Molnar/Netflix (u.)


  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 15 FEUILLETON 47

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