Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

Markus Meckel:
Zu wandeln die
Zeiten.
Erinnerungen;
Evangelische
Verlagsanstalt,
Leipzig 2020;
492 S., 29,80 €


Ü


ber Deutschland und Österreich
wehte der Sturm. Aber noch bevor
in Thüringen der Sturm auch poli-
tisch losging, weilte der österreichische
Kanzler Kurz in Deutschland. Es war, nach-
dem er eine Zeit lang in einer Koalition mit
der österreichischen Schwesterpartei der
AfD, der FPÖ, regiert hatte. Jetzt regierte er
mit den Grünen.
In Deutschland erklärte Kurz, er könne
sich auch für die CDU eine Zukunft mit
den Grünen vorstellen – »eine österreichi-
sche Lösung«. Deutsche Denker investier-
ten nicht wenig soziologische Fantasie in
das neue Wesen dieses Kompromisses:
Schwarz-Grün in Österreich wahre die op-
positionelle Diversität, keiner verschwinde
im anderen.
In der österreichischen Regierung ist eine
gestandene Grünen-Politikerin, Ulrike Luna-
cek, für die Kulturpolitik verantwortlich. Sie
warf sich mit einer echt grünen Äußerung
gleich ins Zeug: »Die Entscheidung für den
Nobelpreis an Peter
Handke konnte ich nicht
wirklich nachvollziehen.
Ich habe früher einiges
von ihm gelesen, hat mir
auch sehr gut gefallen,
aber diese Art, sich zu
poli ti schen Themen zu
äußern, wo Zigtausenden
Menschen großes Leid zu-
gefügt wurde – das habe
ich nicht verstanden.«
Wer diese Äußerung
kritisierte, konnte sich
anhören, dass er ein über-
hochmetzter Ästhet sei,
ein Gescheiterl in Kunst-
fragen, dem die übrige
Welt wurscht sei. Bei
Handke lese ich: »›Zuspruch‹ (wieder: wunder-
bare deutsche Sprache); Lob brauche ich keins,
wohl aber den Zuspruch.« Diese Zeilen stehen
in Am Felsfenster morgens (und andere Orts-
zeiten 1982–1987) von Peter Handke.
Das Buch ist in hochzeitlichem Weiß
gehalten und hat auf der Umschlagseite
einen roten Punkt, in dem steht: »Nobel-
preis für Literatur 2019«. Der Band enthält
»Notizen, Wahrnehmungen, Bedenklich-
keiten, Fragen«, und er gehört zusammen
mit den Büchern Das Gewicht der Welt und
Die Geschichte des Bleistifts und einigen
anderen Aufzeichnungsbänden zu einer
literarischen Gattung, die Handke im We-
sentlichen selbst erfunden hat: Es ist ein
Gedankenfluss, dem der Leser zuschauen
kann. Einzelne Sätze, die sich im Leser ver-
ankern, zwingen dazu, innezuhalten. Zum
Beispiel die Utopie: »Noch mal: Die Er-
rungenschaft der Kunst bleibt wohl, dass
sie von all den Meinungen erlöst und zu-
rückführt ins Offene«
Schön wär’s, denke ich an dieser Stelle, die
am Ende wie jede Bedenklichkeit dieses Buchs
ohne Punkt auskommt. FRANZ SCHUH

Lieber Zuspruch


als Lob


TASCHENBUCH

Handke-Lektüre als Urlaub
vom Meinungsstress

Peter Handke:
Am Felsfenster
morgens.
Suhrkamp,
Berlin 2019;
626 S., 16,– €,
als E-Book
14,99 €

ROMAN


Sitzung ohne Analytiker


Ein interessanter Sonderfall von Autofiktion: In seinem Roman »Inniger Schiffbruch« wird


Frank Witzel zum Archivar eines Lebens, das er eigentlich überwinden wollte VON MORITZ BASSLER


V


ater ist tot – Anlass, das eigene Leben, Eltern,
Kindheit, Familie, noch mal Revue passieren
zu lassen. Frank Witzels neues Buch nennt sich
Roman, doch schnell ist klar, dass all die Träu-
me, Erinnerungen und Anekdoten sowie die
ausführlich zitierten Briefe und Aufzeichnun-
gen der Eltern nur funktionieren können,
wenn wir den autobiografischen Pakt schlie-
ßen. Nur als reale Dokumente können sie
beitragen zu einer Psychopathologie der alten
Bundesrepublik, die zugleich eine der erzähl-
ten Leben und, wenn man so will, des Buches
selbst ist, mit dem der Autor (Jahrgang 1955)
sehenden Auges einen Schiffbruch mit Zu-
schauer (so der Titel von Hans Blumenbergs
berühmtem Buch, auf das Witzel anspielt) an-
steuert; und dieser Zuschauer sind wir.
»Am besten schien eine Geschichte dann
erzählt, wenn sich ungeheure Dinge zutrugen,
die Erzählstimme jedoch, auch wenn sie selbst
davon betroffen war, eine kühle Distanz be-
wahrte«, weiß Witzel – und tut genau das
Gegenteil. Denn zum einen trägt sich in der
Ehe der Eltern, in Franks Jugend, im Wies-
baden der frühen BRD geradezu ostentativ
nichts mehr zu: Alles, was Schicksal heißen
könnte, Krieg, Vertreibung, Flucht, liegt his-
torisch davor. Zum andern aber wird dieses
alltägliche Nichts zwischen Klavierstunde
und Märchenplatten, Fernsehprogramm und
mütterlichem Wortschatz keineswegs distan-
ziert erzählt, sondern eben »innig«, mit stän-
diger Bewegung hin auf ein In tim- Wesent-

liches und zugleich symbolisch Verweisendes,
das ihm Bedeutsamkeit verleihen soll über
den biografischen Einzelfall hinaus. Proust,
Benjamins Berliner Kindheit, auch Adornos
Minima Moralia werden benannt, und wie
diese Vorbilder strebt Witzels Prosa immer
wieder ins Sentenziöse, wobei die Sentenzen
jedoch regelmäßig im Präteritum stehen blei-
ben, als werde ihnen der Sprung ins Objektiv-
Allgemeine denn doch nicht recht zugetraut.
Dabei verlässt sich der Erinnernde keines-
wegs auf sein Inneres. In der Erzählgegenwart
wird recherchiert, werden alte TV-Sendungen
geschaut, Bücher nachgelesen, Dias und Super-
8-Filme gesichtet. So entsteht das Bild einer
aufwendigen familiären Medientechnik, die das
gelingende Leben dokumentieren sollte und
dabei, so die These, doch nur die Nachkriegs-
leere kaschieren half. Einzelnotizen treten an
die Stelle der Lebensgeschichte, eines Narrativs,
das unmöglich oder wenigstens sinnlos gewor-
den ist, wo nichts mehr von Bedeutung ge-
schieht. »Und war nicht genau das eine Analo-
gie zu unserem Leben, das in einer Geschwin-
digkeit vorbeizog, die uns das Begreifen dessen,
was geschah, nicht möglich machte, sodass wir
uns an Bilder, Erinnerungen, Ideen, Ideologien
klammerten, um die Bewegung einzufrieren
und auf eine Erkenntnis zu hoffen, die sich
gerade auf diese Weise nicht erlangen ließ?« War
es? Solche Fragen, auf die das Buch immer
wieder hinausläuft, sind weder rein rhetorisch
gestellt, noch lassen sie sich recht beantworten.

Im Spektrum gegenwärtiger Autofiktion
stellt Inniger Schiffbruch durchaus einen Sonder-
fall dar. Weder lädt das Buch, wie das Modell
Knausgård, dazu ein, sich in einer autobiogra-
fischen Serienwelt einzurichten, noch findet hier
ein munterer Boomer sein Leben etwas zu in-
teressant. Nein, schon das traumatisierte Präte-
ritum si gna li siert an jeder Stelle Beschwernis,
und auf ein Umlegen des Schalters im Sinne von
»Lange nichts – und dann kam Pop« wartet man
vergebens. Dabei war die Abwehr populärer
Musik (Schlager, Jazz) ja schon Symptom der
Verkrampfung des Vaters, der, aus kleinem
Hause stammend, nach dem Krieg zu einer
Karriere als Pianist und Komponist ansetzt, die
er dann »der Familie opfert«. Die Gespenster
von Witzels Leben sind offenkundig nicht die
der Postmoderne und verhandeln keine Proble-
me des 21. Jahrhunderts wie beim Kulturphi-
losophen Mark Fisher; die Zeitebenen – Jugend
der Eltern, eigene Kindheit, Demenz und Tod
der Eltern, Erzählgegenwart – verschwimmen
im Textverlauf nicht zu einer »breiten Gegen-
wart«, sondern zu einer breiten Vergangenheit.
Das Text-Ich muss sich selbst vorwerfen, »zum
unfreiwilligen Archivar dessen geworden zu sein,
was ich doch zu überwinden versucht hatte«.
Fast hat es den Anschein, als ob diese Prosa sich
gewissermaßen an ihrem Gegenstand ansteckt
und mit dem Nachsinnen über die Figurationen
der Fünf ziger jah re auch deren obsolete Ver-
fahren zur Stiftung von Bedeutsamkeit, Innig-
keit und Tiefe wieder hochspült.

»Traum, Leben und Text verliefen, ähnlich
wie die orthometrischen Straßen Wiesbadens,
parallel ne ben ein an der, ohne sich zu berüh-
ren«, heißt es einmal. Solche Formulierungen
haben, ebenso wie die Präsenz von Traum
und Psychoanalyse, unterschwellig den Effekt,
einen (wie auch immer vagen) analogischen
Sinn zu suggerieren, ein Je ne sais quoi, das
auf ein verborgenes Reales verweisen möch-
te. Da ist von »Ursprungskoordinaten« die
Rede, von Gefühlen, die unnennbar bleiben,
obwohl sie quasi »auf der Zunge« liegen – bei
allem ausgestellten Scheitern bleiben solche
Anmutungen von deepness allgegenwärtig.
Im Zusammenspiel mit den biografischen
und zeitgeschichtlichen Details machen sie
das Angebot einer innigen Lektüre, die sich
vom Gespinst des Textes anrühren lässt. Der
titelgebende Schiffbruch aber besteht darin,
dass dieser autofiktionale Versuch, der ein-
mal auch mit einer Couchsitzung ohne Ana-
lytiker verglichen wird, nicht ins Offene
führt und der Text das weiß: »Es war eine
Form der Wahrheit, die mich nicht ›frei
machte‹, sondern im Gegenteil die ohnehin
schon vorhandene Skepsis mir selbst und
meinem Leben gegenüber noch vergrößerte.«
Witzel macht es sich nicht leicht mit dieser
Wahrheit, und doch – wäre nicht eine Aus-
ein an der set zung mit der frühen BRD und
der Generation unserer Väter und Großväter
denkbar, die ein wenig mehr in die Zukunft
weist?

Frank Witzel:
Inniger
Schiffbruch.
Roman;
Matthes & Seitz,
Berlin 2020;
360 S., 25,– €,
als E-Book
16,99 €


I


Höf lichst weggebügelt


MEMOIREN

Markus Meckel, der letzte Außenminister der DDR, erzählt in seiner Autobiografie von Widerstand und Weltpolitik VON CHRISTOPH DIECKMANN


m Revolutionsherbst 1989 organisierte der
protestantische Pfarrer Markus Meckel die
konspirative Gründung der Sozialdemokra-
tischen Partei in der DDR (SDP). 1990 war
er für vier Monate Außenminister der sterben-
den Republik. Nach der deutsch-deutschen
Vereinigung saß er bis 2009 für die SPD im
Bundestag. 2016 scheiterte er als Reform-
Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegs-
gräberfürsorge. Aus diesem kurvigen Lebens-
lauf machte Meckel das Beste: eine unge-
schönte Bilanz.
Zu wandeln die Zeiten ist eine politische
Auto bio gra fie. Der Vater Ernst-Eugen Meckel,
ehedem Wehrmachtoffizier, kehrt 1949 als
Pazifist aus sowjetischer Gefangenschaft zu-
rück. Er wird Pfarrer in Hermersdorf/
Märkische Schweiz, 1959 wechselt er ans
Berliner Missionswerk. Markus, 1952 geboren,
wächst mit vier jüngeren Geschwistern in einer
Zitadelle des geistlichen Bürgertums auf, die
der SED-Staat nicht erobern, aber isolieren
kann, etwa durch Verweigerung von Abitur
und Universität. Markus studiert Theologie an
kirchlichen Hochschulen in Naumburg und
Berlin. Dort wird frei gedacht und debattiert.
Dort reifen Geister, in denen sich der 89er-
Umbruch vorbereitet. Dort trifft Meckel Mar-
tin Gutzeit, seinen Lebensfreund.
Meckels erste Pfarrstelle Vipperow/Müritz
wird zum Stützpunkt staatsfernen Gesell-

schaftsengagements. Recht ausführlich liest
man von jenen Friedens-, Menschenrechts-
und Ökologie-Aktivisten, die sich in den Acht-
zigerjahren landesweit vernetzen. Friedenswan-
derungen, Seminare, Referate, Strategie papiere,
Beschlussvorlagen in arteigener Diktion: »Der
intensive Kontakt zu den anderen Gruppierun-
gen war gerade in den kommenden Wochen
somit von zentraler Wichtigkeit.« Auch in
Polen, Ungarn und Rumänien knüpft Meckel
systemkritische Bande. Alltagsbelange und die
drei Kinder obliegen seiner Frau Christina,
Keramikerin, der vom Gatten manches zuge-
mutet wird. »Am Nachmittag erhielt ich die
Nachricht, dass ich wieder Vater geworden
war« – nicht von Christina.
Es wird 1989. Die Fluchtbewegung erschüt-
tert die DDR. Die Sammlungsbewegung Neu-
es Forum entsteht, gefolgt von weiteren Bürger-
rechts-Bünden. Meckel und Gutzeit denken
bereits macht-, also parteipolitisch. Gutzeit er-
klärt: »Wir brauchen Leute, die sich auch er-
schießen lassen würden!« Am 7. Oktober, dem


  1. Jahrestag der DDR, ersteht im Pfarrhaus von
    Schwante jene sozialdemokratische Partei, deren
    Ost-Ahnin sich 1946 mit der KPD vereinigte
    und dann im SED-System unterging.
    Egon Krenz folgt Erich Honecker als Partei-
    und Staatschef. Verzweifelt sucht er nach Sta-
    bilitätspartnern, auch bei der evangelischen
    Kirche. »Wir dagegen«, schreibt Meckel, »woll-


ten den Druck nicht verringern, sondern er-
höhen.« Der Druck entweicht mit dem Mau-
erfall, der emanzipatorische Volksaufstand
schwächt sich ab. Meckel beschreibt den Run-
den Tisch, Gor ba tschows Preisgabe der DDR,
das Bekenntnis der Regierung Modrow zur
deutschen Einheit. Am 18. März 1990 gibt es
freie Wahlen, zunächst Wahlkampf mit West-
Prominenz. Meckels Lichtgestalt Willy Brandt
hält geschichtsgetränkte Reden, doch nichts
stoppt Helmut Kohl. Das Volk will einen star-
ken reichen Paten und dessen Währung, mög-
lichst schnell. Die christdemokratische »Allianz
für Deutschland« gewinnt haushoch, mit
48,1 Prozent der Stimmen. Meckels inzwischen
umbenannte SPD bekommt 21,9 Prozent. Das
bürgerrechtliche Bündnis 90 verendet bei
2,9 Prozent. Jens Reich: »Das Bonner Nilpferd
ist in einer Massivität gekommen, dass man ein-
fach hilflos war.«
Lothar de Maizière (CDU) bildet eine große
Koa li tion. Markus Meckel wird Außenminister,
kauft sich einen Anzug, jettet nach Moskau,
Washington, London, Paris und verhandelt den
einheitsvorbereitenden Zwei-plus-Vier-Vertrag.
Ein ostdeutscher Wehrdienstverweigerer streitet
wider Nato-Allmacht und Atomwaffen- Logik
und wird von den Profis der Weltpolitik
höflichst weggebügelt. Hans-Dietrich Gen-
schers selbstherrliche Arroganz durfte man
schon 1995 in dessen Erinnerungen erspüren.

Am 17. Juni 1990 wird im Berliner Schauspiel-
haus des Aufstands von 1953 gedacht. Markus
Meckel unterhält sich mit Willy Brandt, als
Helmut Kohl eintrifft. »Er hatte mich damals
normalerweise schlicht ignoriert, doch in dieser
Kon stel la tion konnte er nicht anders und gab
mir die Hand. Es blieb das einzige Mal.« Bis
zuletzt spielt Kanzler Kohl mit dem Feuer: der
polnischen Westgrenze. Er buhlt um Wähler,
»die noch immer nicht die Oder-Neiße-Grenze
anerkennen wollten«. Die deutsche Einheit ge-
schieht als bloßer Anschluss der DDR, als Ost-
Erweiterung der BRD und der Nato.
Des Bitteren ist nicht wenig in diesem offen-
herzigen Lebensbuch. Dazu gehört, wie die Ost-
SPD ihre Gründer Meckel und Gutzeit erst
degradierte, dann »in die Wüste schickte«.
Ibrahim Böhme, »der Liebling der Partei«, »ein
Blender ohnegleichen«, erwies sich als Stasi-
Charge, wie mancher Weggefährte. Aus den
Akten des MfS erfuhr Markus Meckel, dass auch
sein Vater dem Geheimdienst berichtet hatte.
Er wurde erpresst, wegen einer homosexuellen
Beziehung, deren Offenbarung damals »eine in
allen Dimensionen seines Lebens zerstörende,
existenzielle Katastrophe gewesen« wäre. Der
Rezensent dankt seinem alten Kommilitonen
Markus für den Mut zur Ambivalenz. Europas
Gegenwart und Zukunft bedenkend, schließt
Meckel dann doch mit ein wenig Pathos:
»Demokraten aller Länder, ver einigt euch!«

Hier lesen Sie im Wechsel die Kolumnen von
Alexander Cammann über Hörbücher, von
Tobias Gohlis über Kriminal- und von Ursula
März über Unterhaltungsliteratur sowie von
Franz Schuh über Taschenbücher

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