Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

E


nde März erkrankt der Star der römi-
schen Kunstszene an einem Fieber,
Gerüchte durchziehen die Stadt, und
am Karfreitag, dem 6. April 1520 um 22 Uhr,
stirbt Raffaello Sanzio an seinem 37. Geburts-
tag. Das Lästermaul Giorgio Vasari behaupte-
te später, die »maßlosen Liebesfreuden« Raf-
faels hätten das Fieber ausgelöst. Eher war es
jedoch die Malaria, die in Roms Sümpfen als
sehr gefährlich galt.
Aufgebettet liegt Raffael momentan in Rom,
in einer Ausstellung gegenüber vom Quirinals-
palast des italienischen Präsidenten: Auf einem
Gemälde von 1806 nehmen Papst Leo X. und
viele Trauernde Abschied, man sieht hinter dem
Paradebett Raffaels letztes Meisterwerk, die
Transfiguration. Hunderttausende wären in
diesem Frühling an diesem und vielen weiteren
Gemälden vorbeidefiliert. Doch die sensatio-
nelle Schau zum 500. Todestag Raffaels (50.000
Tickets wurden vorab verkauft) – sie schloss
Anfang März nach zwei Tagen, erzwungen vom
Coronavirus. Lauter legendäre Meisterwerke
dämmern jetzt in stillen Hallen: die barbusige
Fornarina oder die elegant verhüllte Velata, all
die Madonnen und die heilige Cäcilie, die ge-
rade Abschied nimmt von der irdischen Musik,
um dem Gesang der Engel zu lauschen.

Die tragisch verhüllte Jahrhundertausstel-
lung wird den ewigen Raffael-Mythos weiter
befeuern. Etwas trösten kann da der reich be-
bilderte Band des Kunsthistorikers Ulrich
Pfisterer: Mit einem unbestechlichen Röntgen-
blick durchdringt er in Raffael. Glaube – Liebe –
Ruhm Leben und Werk des Malers, kein Detail
dieser sagenhaften Karriere bleibt ihm verbor-
gen (C. H. Beck; 384 S., 58,– €). Raffaels Weg
ist ja voller Rätsel, vom elfjährigen Vollwaisen
zum 25-jährigen Newcomer, der 1508 plötzlich
die Stanzen, die Papstgemächer im Vatikan-
palast, mit heute weltberühmten Fresken aus-
statten darf. Über Nacht hat Raffael Rom er-
obert, malt Päpste, Kardinäle, Humanisten, die
Galatea in der Villa Farnesina und die Sixtinische
Madonna; 1514 wird er sogar Chefbaumeister
des Petersdoms. Neben dem versponnenen In-
tellektuellen Leonardo und dem depressiven
Grübler Michelangelo wird der Schönheitsregis-
seur Raffael zum dritten Großmeister der Re-
naissance; in einer letzten, genialen Inszenie-
rung wählt er sich das antike Pantheon zur
Grabstätte. Was für ein solidarisches Zeichen
wäre es, wenn man diese großartige Ausstellung
im Frühjahr 2021 noch einmal wiederholen
würde – als römisches Symbol für den alles
überlebenden Triumph der Kunst.

Die fulminante Ausstellung zum 500. Todestag des Künstlers ist
geschlossen. Doch es gibt eine Alternative VON ALEXANDER CAMMANN

Raffael,


verhüllt in Rom


Eine irdische Visionärin: Raffael malte die heilige Cäcilie um 1514 für eine Kapelle in Bologna

Abb.: Polo Museale dell’Emilia Romagna/Pinacoteca Nazionale Bologna


D


ie neue Komposition von Arca trägt
den Namen »@@@@@« und führt
uns in die fremde und zugleich ver-
traute Welt musizierender Organmaschinen.
Obwohl die Beats mit elektronischen Mitteln
produziert wurden, klingen sie so unscharf,
zitternd, zerbeult und menschlich, als dräng-
ten sie aus einem lebenden Körper an unser
Ohr; als drängten sie aus einem mit konvulsi-
vischen Zuckungen zum Tanz einladenden
Körper, dessen biologische Rhythmen sich in
Musik verwandeln und dann wieder in Geräu-
sche, in denen die Musik kollabiert – aber nur,
um sich aus dem Kollaps stets in neuer Form
zu Melodien und Harmonien zu erheben. Und
die Gesänge? Stammen von der Stimme eines
einzelnen Menschen, aber klingen so vielfältig,
fremd, manipuliert und in den sonderbarsten
Momenten auch wieder so nah, intim und
wahrhaftig, als höre man einer Maschine zu,
die sich in den verschiedensten Erscheinungs-
formen in einen Menschen zu verwandeln ver-
sucht. Und das wiederum nur, um dieses
Menschsein abzustreifen, sobald die Maschine
sich als solche wohler fühlt mit sich selbst.
Seit Anfang der Nullerjahre hat der venezo-
lanische, in New York lebende Transgender-
Künstler Alejandro Ghersi alias Arca zu den
prägenden Beatbastlern des Pop gehört. Arca,
der sich neuerdings als »sie« anreden lässt, war
an Kanye Wests Yeezus beteiligt und wesentlich
an den letzten beiden Alben von Björk. Seit
dem Debüt »&&&&&« von 2013 bestand ihre
eigene Musik die längste Zeit aus dunkel
unterwühlten, metallisch-scharfsplittrigen und
zugleich sonderbar fließenden Beats – auf ihrem
epochalen Album Arca aus dem Jahr 2017 be-
gann sie erstmals dazu zu singen, mit einer ver-
letzlichen und verletzten, von Schmerz und
Versagung und erfülltem Begehren gleicher-
maßen kündenden Stimme. So changierte ihr
Schaffen schon immer zwischen dem Tech-
nischen und dem Menschlichen, zwischen der
Virtuosität des elektronisch vermittelten Pro-
duzierens und dem Wunsch nach unmittel-
barer Entblößung des Selbst und der Nacktheit.
In »@@@@@« sind diese beiden Stränge des
Schaffens in beglückender Weise ineinander
verschränkt. In den 62 Minuten dieser über-
gangslos dahinfließenden Komposition hört
man einer Künstlerin zu, für die es keinen
Unterschied mehr gibt zwischen dem »tech-
nischen« und dem »natürlichen« Ausdruck der
künstlerischen Subjektivität.
Man muss dieses Werk in einem Rutsch
hören, damit es sich einem erschließt. Schon
dies ist ja ein Kraftakt im Spotify-zerschredder-
ten Pop unserer Tage mit seinen Hau-drauf-
und-Schluss-Formaten. Doch wer sich darauf
einlässt, wird mit einer Schönheit belohnt, die
aus unablässigen Mutationen des Klangs ent-
steht, aus plötzlichen Brüchen und Irritationen;
etwa wenn Arca über scheinbar aus rostigem
Eisen herausgeschlagenen Rhythmen ihre Stim-
me in die höchsten Höhen des Countertenors
hebt, um sie dann sogleich wieder in verzerrten
Fragmenten im Mix versinken zu lassen. Zu
leiernden Spinettklängen hustet sie nun Bröck-
chen aus knirschendem Krach – und singt einen
Moment später in einem elektronisch gefälsch-
ten Sopran darüber, dass sie gefälschte Gefühle
verabscheut. »@@@@@« handelt von Echtheit
und Falschheit und davon, dass der Wider-
spruch zwischen diesen Begriffen an sich ein
falscher ist.

Der Musikerin Arca gelingt,
woran andere Pop-Avantgardisten
meist scheitern VON JENS BALZER

Sie hustet Bröckchen


aus Knirschkrach


I


mmer wieder hat der philippinische Regisseur Lav
Diaz die Mythen, den Alltag und die Gewaltge-
schichte seines Landes in große Kino-Erzählungen
gefasst. In dem vierstündigen Film The Woman Who Left
aus dem Jahr 2016 folgte er einer Frau, die dreißig Jah-
re lang unschuldig im Gefängnis saß und nach dem
Geständnis der wahren Mörderin entlassen wird – mit
dem Film gewann er den Goldenen Löwen in Venedig.
In dem achtstündigen Wiegenlied für ein trauriges Ge-
heimnis (2016 im Wettbewerb der Berlinale) erkundete
er das Schicksal eines im 19. Jahrhundert ermordeten
philippinischen Revolutionärs und führte vor Augen,
wie Bilder das Bollwerk der vermeintlich vorgeschriebe-
nen Geschichte einreißen. Dafür erfindet er eine fra-
gende, offene, den Legenden folgende Erzählung.
Nun bringt der ohnehin auf Festivalentdeckungen
spezialisierte Verleih Grandfilm Lav Diaz’ 2013 ent-
standenen Film Norte, the End of History auf seinem
Online-Portal heraus (www.grandfilm.de, die Ein-
nahmen werden mit unabhängigen Kinos geteilt).
Angelehnt an Motive aus Dostojewskijs Roman Schuld
und Sühne öffnet er sich für die philippinische Gegen-

Streaming ist mehr als nur Netflix: Ein vierstündiges Meisterwerk des philippinischen Regisseurs Lav Diaz ist jetzt online zu sehen VON KATJA NICODEMUS


Wie begegnet man dem großen Schlamassel?


hat sich schwer am Bein verletzt und fällt für
mehrere Monate als Ernährer aus. Seine Frau
Eliza verpfändet nach und nach den Haushalt
an die Pfandleiherin Magda. Das Geschirr, ein
gemästetes Schwein, ein Ring – je mehr Fami-
lienbesitz zur korpulenten Madga hinüber-
wandert, desto dicker scheint diese Figur zu
werden. Nach dem Mord lässt das so korrupte
wie willkürliche Justizsystem Joaquin keine
Chance, seine Unschuld zu beweisen. Wie
seine Frau Eliza versucht er vor allem eines:
Würde und Anstand zu bewahren.
Norte, the End of History besteht aus lan-
gen, meist in einer einzigen fortlaufenden Ka-
meraeinstellung gedrehten Szenen. Jede von
ihnen ist ein Ort, eine Geschichte, eine Welt
für sich. Die ärmliche Behausung von Eliza
und ihren Kindern: eine Bretterbude in einem
Fischerdorf am Fluss. Das Gefängnis, in dem
Joaquin in einer überbelegten Zelle lebt, ist
ein Biotop mit mafiösen Despoten, Zwangs-
arbeit und verhaltenen Gesten der Freund-

schaft. Die neureiche Villa von Fabians Groß-
grundbesitzerfamilie wirkt wie ein Bunker
inmitten von Tabakplantagen.
In dem Film erlebt man die sich über vier
Jahre erstreckende Handlung auf fast physi-
sche Weise mit, gerade weil er seine Geschichte
stringent, man könnte auch sagen: straight,
erzählt. Auch über dieses – vierstündige – Lav-
Diaz-Werk lässt sich sagen, dass keine Sekunde
daran überflüssig ist. Es zeigt Menschen, die
dem großen Schlamassel auf völlig gegensätz-
liche Weise begegnen: Die einen leben, über-
leben und lassen leben. Der andere versucht,
durch Verbrechen zum Un- und Übermen-
schen zu werden. Große Themen – Klassen-
gegensätze, Schuld und Sühne, Erlösung –
ziehen beiläufig in die Einstellungen ein.
Auch dieser Diaz-Film öffnet sich und
teilt seine Zeit mit uns. Auf kurzweilige,
atem beraubende Weise.

A http://www.zeit.deeaudio

wart, zeigt den kleinstädtischen und ländlichen Alltag,
eine Gesellschaft, in der die Brutalität der Kolonialherr-
schaft und der Marcos-Diktatur immer noch bis in die
feinsten sozialen Verästelungen spürbar ist. Wie in Dosto-
jewskijs Roman ist seine Hauptfigur ein Student mit ab-
gebrochenem Jurastudium: Fabian, hochbegabter Sohn
einer Grundbesitzerfamilie. In Bars und bei Treffen mit
seiner Clique doziert er über ökonomische und revolutio-
näre Theorien, suhlt sich aber immer mehr in existenziel-
ler Verzweiflung und Menschheitsekel. Die Philippinen,
so seine Ausführungen, seien verdammt, genauso wie der
Kapitalismus – was ihn nicht daran hindert, sich von sei-
nen Freunden Geld zu leihen und seine Kreditkarte bei
der abgebrühten Pfandleiherin und Wucherin Magda zu
verpfänden. »Wir sind alle nur Heuchler, bis wir wirklich
etwas gegen die Misere dieses Landes tun«, sagt Fabian. In
einem vermeintlich klassenkämpferischen Akt ermordet er
Magda und deren Tochter. Für die Tat wandert Joaquin,
ein Familienvater, unschuldig ins Gefängnis.
In einem weiteren Handlungsstrang wird Joaquins Ge-
schichte erzählt. Sie beginnt im Häuschen seiner Familie,
die in einer Stadt im Norden der Philippinen lebt. Joaquin

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